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Henning Ziebritzki
Elster

Die täglich aus der Birkenkrone zu mir schwebt, ist spielend
meinem Haß, der mich verzehrt, gewachsen. Kaum verscheucht,
kehrt sie zurück aufs Fensterbrett und pickt nach mir,
Elsterwippe. Drück ich den Schnabel auf das Papier nieder, daß es
klackt, steht sie wieder auf und nickt. Steck ich ihr die Spitze
meines Bleistifts ins Gefieder, verschlingt sie ihn. Die Mechanik
ihrer Knöchelchen, zerbrech ich sie, das Fleisch, das sitzt,
zerquetsch ich es, bald schließt sich jeder Bruch und Schlitz, Elsterform,
von selbst zurechtgerückt, schaut sie mich an. Schackernd klappt
sie auf, läßt sich fallen in ein anderes Element, steigt, Bögen
einer Brücke, die mich erhebt, von mir in ihren Flug gebaut.

  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 61

Michael Braun
Der wahre Vogel

„Nachtigallen kann auf die Dauer nur ertragen, wer schwerhörig ist“, hat Günter Eich einmal gesagt und damit das Miss­trauens­votum gegen eine lyrisch naive Natur­magie formuliert, die auf die Naturgeschöpfe ein mythi­sches Erlösungs­modell proji­ziert. Henning Ziebritzkis noch unab­geschlos­sener Zyklus „Vogelwerk“, den er 2013 begonnen hat, posi­tioniert sich in der weitest­mög­lichen Ent­fernung zur roman­tisch ge­stimmten Natur­lyrik: er führt uns in unbe­ruhigte Sze­nerien, gefähr­dete Zonen, Terri­torien der Gewalt. Das „Schackern“ seiner Elster ist höchst beängs­tigend, flankiert ihr Lärm doch die Szene eines Kampfes.
  Der Vogel in diesem Gedicht ist ein Aggres­sor, ein Konkur­rent des Ich, ein Alles­fresser, der auch vor dem Ungenieß­baren, Ekel­haften, vor dem Verschlin­gen von Blei­stiften nicht zurück­schreckt. Aber wer at­tackiert und verschlingt hier wen? Die Elster, die in der Mytho­logie als Unheils­botin einen denkbar schlechten Ruf genießt, ist konfron­tiert mit einem von Hass getriebenen Subjekt – zwei Ag­gres­soren, deren Ver­hältnis nur als Beschrei­bung eines Kampfes dar­stellbar ist.
  Bereits in Ernst Jandls berühmtem Gedicht „der wahre vogel“ war ein Vor­gang der Ver­stümmelung festgehalten: „nimm eine schere zart und fein / schneid ab der amsel beide bein“. An diese schockierende Unbarm­herzig­keit gegen das Luft­geschöpf, die, wie Franz Josef Czernin beschrie­ben hat, im Wort „amsel“ auch die Verstümmelung des „Selbst“ aufruft, knüpft Ziebritzki an. Da ist zunächst der schwebende Anflug der Elster, die auf den von starken Affekten auf­gewühlten Beobach­ter trifft. Ein un­gleicher Kampf beginnt, der pickende Vogel (die Elster hat das Picken im lateinischen Namen „pica“) gegen das Ich, das zu allerlei elimina­tori­schen Aktionen greift. Das Pica-Syndrom, so wird man vom Lexikon belehrt, ist eine Ess­stö­rung, die den Kranken zum Verzehr wider­licher und unge­nieß­barer Dinge treibt. Hier ist es nun die pickende Elster, die verzehrt, was ihr vor den Schnabel kommt. Die Elster gilt als ein Vogel, der gerne plün­dert, die Nah­rungs­depots von Art­genossen ausraubt. Rivalen werden aus­dauernd bekämpft. Die Elster des Gedichts durch­läuft freilich eine eigen­tümliche Verwand­lung. Plötzlich mutiert sie zum Garten­dekor („Elsterwippe“), zum mechanisch wippenden Objekt. Eine zutiefst ver­störende Szenerie wird da von Henning Ziebritzki ent­faltet, Bilder der Schöpfung und der Zer­störung sind in unheim­licher Eng­füh­rung verknüpft. Gewalt­phantasien treffen auf das weiche Gefieder, bis noch eine Ver­wand­lung sich vollzieht – zur „Elsterform“. Nun scheint sich alles wieder zu einer Ge­schlos­sen­heit zu fügen, zu einer engen Korres­pon­denz zwischen der Elster und dem Gedicht-Ich. Am Anfang war das Schweben – und am Ende, nach den Phanta­sien der Destruktion, ist wieder eine Levi­tation da, eine Erhebung, ein Auf­fliegen, eine Verwand­lung in einen anderen Zustand, „ein anderes Element“, um das Gedicht wieder in eine Balance zu bringen. Der Dichter Henning Zie­britzki ist ein Experte für Ver­störung, für das Dunkle, das in unseren Lebens­welten lauert. Ein Riss tut sich auf in der Schöpfung – und wir drohen darin zu ver­schwinden.

Henning Ziebritzki, geboren 1961, studierte protes­tan­tische Theologie, promovierte 1992 an der Uni­versität Mainz und arbeitete zunächst als Pfarrer. 2001 wechselte er in die Verlags­branche. Ziebritzki ist heute als Geschäfts­führer und Lektor des Tübin­ger Verlags Mohr Siebeck tätig. 1998 er­schien sein Lyrik-Debüt „Rand­erschei­nungen“ im S. Fischer Verlag. Das vor­lie­gende Gedicht ist dem Zyklus „Vogel­werk“ ent­nommen, die ersten sechs Stücke des Zyklus sind in Heft 6/2015 von „Sinn und Form“ zu lesen.

Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht     02.01.2016




Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (1. Band)
100 deutsche Gedichte der Gegenwart,
kommentiert
Taschenbuch
360 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2011

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  M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (3. Band)
60 deutsche Gedichte der Gegenwart,
kommentiert
Broschiert mit farb. Vorsatz
216 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2019

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Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Henning Ziebritzki
Liste
Gefördert vom
Deutschen Literaturfonds



  102   Brigitte Oleschinski
    
wie die Wörter auftauen
  101   Franz Josef Czernin
    
dunkel ortlos, hergezogen
  100   Johann P. Tammen
    
Ein Poet nimmt Platz
  99   Joseph Kopf
    
Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn
  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
  97   Sandra Burkhardt
    
Die Bahn einer Meeresschildkröte
  96   Ernst Blass
    
An Gladys
  95   Michael Buselmeier
    
Holzpuppe
  94   Heiner Müller
    
Traumwald
  93   Thomas Böhme
    
Neunundzwanzigster Februar
  92   Katrine von Hutten
    
Beschreibung
  91   Dieter M. Gräf
    
Nach Mattheuer
  90   Arnfrid Astel
    
Leda
  89   Michael Krüger
    
Im Winter
  88   Ralph Dutli
    
Salzzauber
  87   Christiane Heidrich
    
Today I am functional (1)
  86   Wulf Kirsten
    
die rückkehr der wölfe
  85   Maren Kames
    
Im Siel
  84   Gregor Laschen
    
Drüben, im ›Winkel von Hardt‹
  83   Christoph Wenzel
    
ländlich, der mundraum
  82   Werner Lutz
    
Ja, bin unterwegs
  81   Kenah Cusanit
    
Gottesgedicht, unberuhigt
  80   Sascha Kokot
    
sobald die Stadt ...
  79   Ror Wolf
    
Dritter unvollständiger Versuch
  78   Horst Bingel
    
Felsenmeer
  77   Tristan Marquardt
    
nachts, ich laufe nach hause
  76   Harald Gerlach
    
Gründe, linkselbisch
  75   Birgit Kreipe
    
schienen stillgelegt
  74   Hanns Cibulka
    
Böhmischer Rebstock
  73   Karin Fellner
    
Eine Zeitfalte weiter
  72   David Krause
    
Wolken
  71   Jürgen Nendza
    
An manchen Tagen
  70   Harry Oberländer
    
kurz vor der revolution
  69   Mara-Daria Cojocaru
    
Ich bin
  68   Hilde Domin
    
Antwort
  67   Elisabeth Borchers
    
Zukünftiges
  66   Günter Herburger
    
Großjean, der aus einem ...
  65   Georg Leß
    
Kondorlied
  64   Thomas Kling
    
Tessiner beinhaus. wandbild
  63   Rainer René Mueller
    
Da ist es
  62   Ernst S. Steffen
    
Man sagt
  61   Henning Ziebritzki
    
Elster
  60   Jürgen Brôcan
    
Fremde ohne Souvenir
  59   Carolin Callies
    
wackersteine im wams
  58   Friedrich Ani
    
Versehrte Verse
  57   Elke Erb
    
»Ursprüngliche Akkumulation«
  56   Uwe Kolbe
    
Heidelberg, den 14ten August
  55   Sonja vom Brocke
    
Kunde
  54   Sünje Lewejohann
    
krähen
  53   Jan Wagner
    
im brunnen
  52   Susanne Stephan
    
Frontier
  51   Silke Scheuermann
    
Uraniafalter
  50   Mirko Bonné
    
Der Zischelwind
  49   Judith Zander
    
fürs erste leb im später
  48   Andreas Rasp
    
diese steine hier
  47   Marcus Roloff
    
hl. grab, eingang wahlkapelle
  46   Clemens J. Setz
    
Motte
  45   Martina Weber
    
jetzt, da die letzten bilder verschwunden sind
  44   Paul Zech
    
Der Nebel fällt
  43   Klaus Merz
    
Expedition
  42   Christian Lehnert
    
Du bist die Aussicht  ...
  41   Àxel Sanjosé
    
Zum Abschied hell ...
  40   Ulrike Draesner
    
feld elternlos
  39   Ursula Krechel
    
Weiß wie
  38   Heinrich Detering
    
Kilchberg
  37   Hendrik Rost
    
Requiem
  36   Walle Sayer
    
Vom Flüchtigschönen
  35   Nico Bleutge
    
grauwacke
  34   Rolf Haufs
    
Kinderjuni
  33   Thomas Rosenlöcher
    
Die Hoffnungsstufen
  32   Jan Koneffke
    
Dem toten Kind in einer Oktobernacht
  31   Arne Rautenberg
    
drei amseln
  30   Oskar Loerke
    
Ans Meer
  29   Jean Krier
    
„Alles ist in den besten Anfängen“
  28   Werner Laubscher
    
Winterreise. Wintersprache
  27   Wolfgang Schlenker
    
stichwort minimieren
  26   Christoph Meckel
    
Kind
  25   Günter Grass
    
Die Vorzüge der Windhühner
  24   Jürgen Theobaldy
    
Blume mit Geruch
  23   Ann Cotten
    
Rosa Meinung
  22   Horst Samson
    
Edoms Nacht
  21   Christian Steinbacher
    
Belegte Brotzeit
  20   Bianca Döring
    
Allein
  19   Simone Kornappel
    
muxmäuschen
  18   Jörg Burkhard
    
in gauguins alten basketballschuhen
  17   Konstantin Ames
    
dreißig lenze
  16   Wilhelm Lehmann
    
Auf sommerlichem Friedhof
  15   Joachim Zünder
    
Die Finnische Bibliothek
  14   Kathrin Schmidt
    
waage, vorm wasser
verchromt, gestählt
  13   Marion Poschmann
    
latenter Ort
  12   Rainer Malkowski
    
Bist du das noch?
  11   Gerhard Falkner
    
die roten schuhe
  10   Wolfgang Hilbig
    
Pro domo et mundo
  9   Katharina Schultens
    
die möglichkeit einer verwechslung ...
  8   Michael Donhauser
     Lass rauschen Lied ...
  7   Ulrich Zieger
     an den vater von sem,
  6   Elisabeth Langgässer
     Erster Adventssonntag
  5   Levin Westermann
     wie ein fresko
  4   Dirk von Petersdorff
     Raucherecke
  3   Ulrich Koch
     Danke
  2   Steffen Popp
     Fenster zur Weltnacht
  1   Adolf Endler
     Dies Sirren
     
Neue Folge