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Susanne Stephan
Frontier

Als Franz Schubert krank war, zum letzten Mal,
was er nicht wusste, bat er um Hilfe:
um Romane, am besten von Cooper,
von dem er so viel gelesen,
aber vielleicht nicht alles, vielleicht
gab es da noch etwas! mehr! für ihn –

Er schickt die Freunde aus,
aber das Buch ist nicht zu finden,
es ist noch nicht übersetzt,
es ist noch nicht runter vom Schiff,
das Schiff ist noch nicht übers Meer,
das Buch ist in New York noch nicht zu kaufen,
es ist noch nicht gedruckt,
nicht einmal geschrieben.

Cooper steht noch am Fenster, reißt
das Land auf vor seinen Augen:
Grenzland, das er spürt,
Kind, das hinausrudert
auf den See, ruft und
summt gegen die hohe Welt,
das lauernde Schweigen summt.


  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 52

Michael Buselmeier
Lederstrumpf



Eine Woche vor seinem Tod, am 12. November 1828, schrieb Franz Schubert seinen letzten Brief. Er habe seit elf Tagen nichts mehr ge­gessen und getrunken, berichtet er dem Freund Franz von Schober und bittet ihn inständig um ein paar Romane seines aktuellen Lieblingsautors James Fenimore Cooper als eine Art Lesefutter. Ver­schlungen habe er von ihm „Der letzte Mohi­kaner“ und „Die An­siedler“ (aus der Reihe der „Leder­strumpf“-Bücher), den historischen Roman „Der Spion“ sowie „Der Lotse“ (aus der Serie der See­fahrer­romane). Welches Buch hätte Schober, der sich – ver­mutlich weil er eine Typhus-Anste­ckung fürchtete – nicht blicken ließ, ihm denn vorbei­bringen können? Zum Beispiel „Die Prärie“ von 1827 aus der noch unab­geschlos­senen „Lederstrumpf“-Reihe; der Roman lag schon 1828 in deutscher Übersetzung vor. Cooper hatte ihn wäh­rend seines Eu­ropa-Aufenthalts (1826 bis 1833) geschrieben.
  Susanne Stephan bringt in ihrem Gedicht zwei historische Gestalten, hoch berühmte Künst­ler und sehr unter­schied­liche Zeit­genossen der spät­romantischen Periode, in einen auf den ersten Blick über­raschenden Zusammen­hang – den genialen Tonsetzer und den viel­schrei­benden Ver­fasser gewaltiger Prosa-Epen, den Sohn eines armen Wiener Schul­meisters und den eines Groß­grund­besitzers und Boden­speku­lanten aus der Neuen Welt. Was hätten sie einander, bei einer durchaus mög­lichen Begeg­nung, mitteilen können – viel­leicht die Begeis­terung für Trapper und Aben­teurer? Susanne Stephan betrach­tet die beiden von einem etwas erhöhten Stand­punkt aus ruhig und genau, in einem prosa­nahen Erzähl­ton, mit leicht ironi­schen Ausrufe­zeichen. Die Form bietet, zumin­dest in den beiden ersten Strophen, wenig Wider­stand. Die Verse sind offen und direkt zugänglich, es gibt keine Wort­spiele, keine krassen Meta­phern, keine rhythmi­schen oder lautlichen Experi­mente. Spürbar wird jedoch eine Sensi­bilität für die alltäglichen Dinge und ihre kleinen Geheim­nisse.
  Erst in der dritten Strophe, die sich dem grübelnden und schrei­benden Cooper widmet, greifen Dunkel­heit und eine ver­knappte Bild­lichkeit Raum, eine Mehr­deutig­keit, die man eigent­lich eher mit Franz Schubert, Wilhelm Müller und der „Winter­reise“ verbindet. Cooper steht am Fenster und „reißt das Land auf“ mit seinen Blicken, seinen Wörtern und Bildern, um ins Erd­innere zu schauen, ein Mann auf der Grenze („Frontier Man“) zwi­schen den bereits von den Weißen besiedelten Lände­reien im Osten Amerikas und den noch unerschlos­senen India­ner­gebie­ten. In diesem „Grenzland“ („Frontier“ genannt) ist James Fenimore Cooper aufge­wachsen, er „spürt“ es unter den Füßen, unter der Haut, sieht sich als Kind auf den See hinausrudern, in eine einsame, noch weithin ursprüng­liche „hohe“ Natur, in deren summendem „Schweigen“ die feindlichen Rothäute lauern.

Susanne Stephan wurde 1963 in Aachen geboren und wuchs im süd­deutschen Haß­mers­heim auf. Sie lebt in Stutt­gart. Zuletzt er­schienen der Gedicht­band „Gegen­zauber“ bei Klöpfer & Meyer, Tübin­gen 2008, und „Drei Zeilen“, Haiku, Neuer Kunst­verlag, Stuttgart 2013. Das vor­gestellte Gedicht stammt aus dem „Jahr­buch der Lyrik“, München 2013. Wir danken für die Wiedergabe im Rahmen dieses Gedichtkommentars.



Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (1. Band)
100 deutsche Gedichte der Gegenwart,
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  M. Braun & M. Buselmeier
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Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht     01.03.2015

 

 

 

Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Susanne Stephan
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Deutschen Literaturfonds



  102   Brigitte Oleschinski
    
wie die Wörter auftauen
  101   Franz Josef Czernin
    
dunkel ortlos, hergezogen
  100   Johann P. Tammen
    
Ein Poet nimmt Platz
  99   Joseph Kopf
    
Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn
  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
  97   Sandra Burkhardt
    
Die Bahn einer Meeresschildkröte
  96   Ernst Blass
    
An Gladys
  95   Michael Buselmeier
    
Holzpuppe
  94   Heiner Müller
    
Traumwald
  93   Thomas Böhme
    
Neunundzwanzigster Februar
  92   Katrine von Hutten
    
Beschreibung
  91   Dieter M. Gräf
    
Nach Mattheuer
  90   Arnfrid Astel
    
Leda
  89   Michael Krüger
    
Im Winter
  88   Ralph Dutli
    
Salzzauber
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Today I am functional (1)
  86   Wulf Kirsten
    
die rückkehr der wölfe
  85   Maren Kames
    
Im Siel
  84   Gregor Laschen
    
Drüben, im ›Winkel von Hardt‹
  83   Christoph Wenzel
    
ländlich, der mundraum
  82   Werner Lutz
    
Ja, bin unterwegs
  81   Kenah Cusanit
    
Gottesgedicht, unberuhigt
  80   Sascha Kokot
    
sobald die Stadt ...
  79   Ror Wolf
    
Dritter unvollständiger Versuch
  78   Horst Bingel
    
Felsenmeer
  77   Tristan Marquardt
    
nachts, ich laufe nach hause
  76   Harald Gerlach
    
Gründe, linkselbisch
  75   Birgit Kreipe
    
schienen stillgelegt
  74   Hanns Cibulka
    
Böhmischer Rebstock
  73   Karin Fellner
    
Eine Zeitfalte weiter
  72   David Krause
    
Wolken
  71   Jürgen Nendza
    
An manchen Tagen
  70   Harry Oberländer
    
kurz vor der revolution
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Ich bin
  68   Hilde Domin
    
Antwort
  67   Elisabeth Borchers
    
Zukünftiges
  66   Günter Herburger
    
Großjean, der aus einem ...
  65   Georg Leß
    
Kondorlied
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Tessiner beinhaus. wandbild
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Da ist es
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Man sagt
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Elster
  60   Jürgen Brôcan
    
Fremde ohne Souvenir
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  58   Friedrich Ani
    
Versehrte Verse
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  55   Sonja vom Brocke
    
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Der Zischelwind
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fürs erste leb im später
  48   Andreas Rasp
    
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Der Nebel fällt
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Du bist die Aussicht  ...
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Weiß wie
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Kilchberg
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Requiem
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Vom Flüchtigschönen
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Kinderjuni
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Die Hoffnungsstufen
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Dem toten Kind in einer Oktobernacht
  31   Arne Rautenberg
    
drei amseln
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Ans Meer
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„Alles ist in den besten Anfängen“
  28   Werner Laubscher
    
Winterreise. Wintersprache
  27   Wolfgang Schlenker
    
stichwort minimieren
  26   Christoph Meckel
    
Kind
  25   Günter Grass
    
Die Vorzüge der Windhühner
  24   Jürgen Theobaldy
    
Blume mit Geruch
  23   Ann Cotten
    
Rosa Meinung
  22   Horst Samson
    
Edoms Nacht
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Belegte Brotzeit
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muxmäuschen
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     Lass rauschen Lied ...
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     an den vater von sem,
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  5   Levin Westermann
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