In der Dichtung der Moderne sind Puppen meist beseelte Wesen, Schutzgeister, magische Talismane, die das einsame Subjekt, das sich in ihnen spiegelt oder mit ihnen spielt, vor den Zumutungen der Außenwelt bewahren. Die »Holzpuppe« im Gedicht Michael Buselmeiers ist zwar nicht die Projektionsfläche von Liebeswünschen, wie sie in E.T.A. Hoffmanns erschütternder Erzählung »Der Sandmann« dem Helden zu einer absoluten Grenzüberschreitung vom Realen ins Imaginäre verhilft. Die »Holzpuppe« ist nicht »Olimpia«, in die sich das lyrische Subjekt verliebt, aber sie ist ein rettender Fetisch, der das Kind, von dem in den kunstvoll geflochtenen Terzinen Buselmeiers die Rede ist, die Schrecken des Krieges überstehen hilft. Im »Kind aus Holz« erkennt das einsame Ich ein seelenverwandtes Geschöpf, es ist kriegsversehrt (»Der Krüppel, armlos«) wie die Verwundeten und Verstümmelten, die sich in den letzten Kriegsjahren durch die ausgebombten Städte schleppen. Michael Buselmeier, 1938 in Berlin geboren, hat in Mannheim die Bombennächte des Zweiten Weltkriegs noch miterlebt. Als Kind, so verriet mir der Dichter in einem Brief, verlor er seine Puppe auf dem Weg in den Luftschutzbunker, aber sie kehrte zu ihm zurück. Diese Erinnerung an die Schrecken der Kinderzeit, die Begegnung mit Kriegsversehrten, Verstümmelten, seelisch wie körperlich Traumatisierten prägt Buselmeiers Werk bis heute. Sein Gedicht „Holzpuppe“ bündelt die Motive, die bereits in den Bänden »Erdunter« (1992) und »Spruchkammer« (1994) dominieren: Der Eintritt in eine tellurische Höllen-Welt, unter der Erde, hier »in einem unterirdischen Kanal« und die Positionierung in der Abgeschiedenheit, »am Rand«, wie es einer seiner jüngeren Gedicht signalisiert. Mit dicht gefügten Paarreimen und den pathetisch-expressionistisch tönenden Versen, die das Pathos der Baal-Gesänge des jungen Brecht anklingen lassen (»die Sonne stand am roten Himmel fahl«), wird die Intensität des Phantasmas noch weiter gesteigert. Fast scheint der Weg der Holzpuppe der Hadeswanderung in Dantes »Commedia« zu gleichen, die hier von der Finsternis des Kanals zurück zur Sonne führt. Dieses unterirdische Territorium ist der dunkle Punkt, an den sich die Protagonisten der Erzählungen und Gedichte Buselmeiers gerne zurückziehen, wenn ihnen die furchtbaren Bedrohungen der äußeren Wirklichkeit zusetzen. Die »Holzpuppe« erscheint als Alter Ego des Autors, aber ihr widerfährt zuletzt auch eine Versehrung – der »Schnitt«. In Michael Buselmeiers jüngstem Band »Mein Bruder mein Tier«, Höhepunkt und poetische Summa seines Werks, finden wir viele solcher hypnotischen Reisen in die »Übergänge« zwischen Leben und Tod.
Michael Buselmeier, geboren 1938 in Berlin, lebt in Heidelberg. 1968 wurde er als Autor bekannt durch seinen Prosamonolog „theater“ im legendären „Kursbuch 15“. Mit seinem lyrischen Debüt „Nichts soll sich ändern“ begann 1978 auch die Geschichte des Heidelberger Verlags Das Wunderhorn. Von 1978 bis 2018 produzierte er regelmäßig, zunächst gemeinsam mit Stephan Reinhardt, später mit Michael Braun, die „Zeitschriftenlese“ für den Saarländischen Rundfunk, die der Poetenladen dokumentiert hat. Gemeinsam mit Michael Braun erfand er Lyrik-Projekt „Der gelbe Akrobat“, eine 1991 begonnene Reihe mit Kommentaren zu zeitgenössischen Gedichten, die 20o9 im Poetenladen erstmals in Buchform erschien und 2019 mit dem dritten Band abgeschlossen wird. Das vorliegende Gedicht „Holzpuppe“ ist dem Band „Mein Bruder mein Tier“ entnommen, der anlässlich des 80. Geburtstags von Michael Buselmeier im Morio Verlag (Heidelberg) erschienen ist.
Wir danken Autor und Verlag für die Wiedergabe im Kontext des Gedichtkommentars.