![]() |
![]() |
poeten | ![]() |
loslesen | ![]() |
gegenlesen | ![]() |
kritik | ![]() |
tendenz | ![]() |
news | ![]() |
links | ![]() |
info | ![]() |
verlag | ![]() |
poet | ![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
Nico Bleutge
grauwacke. kaum mehr zu halten, kaum mehr zu haltendes grau einer landschaft. grau, verhüllt von feldgrau, zementgrau. dichtes in schichten gelagertes grau dieser gegend. feldspat, chlorit. und die rauchgrauen wehen, ziehend, im schlaf. schon zerspellt die bewegung. gehen, aufgehendes schleiern, gleiten im schauen, aal- haut, wasserhaut, quarz. strömung aus grau, die sich öffnet gleich wieder aufgesaugt wird. nur ein einschluß von kohle, kaum mehr zu spüren, kaum mehr zu haltende schwingung der gegend dämmern schon. feuchte, innere graue flut, eisenfarbene tiefe, näher dem boden, näher dem grundwogen zu. steingrau und gußgrau, ununterbrochen, unaufhörliches schieben von grau, das sich umstülpt, grau, das sich auflöst, zinn- grau, basaltgrau, schelferndes grau.
Michael Braun „Die Augen der Kunst sind grau“, hat der Schriftsteller Alfred Andersch einmal behauptet. Das Grau als Grundfarbe des Ästhetischen ist tatsächlich für viele Schriftsteller ein Faszinosum. „Das Grau der Karolinen“ hat z.B. Klaus Modick 1986 in einem wunderbar rätselvollen Roman beschrieben. Eine „strömung aus grau, die sich öffnet“ und „gleich wieder aufgesaugt wird“, imaginiert nun auch der Dichter Nico Bleutge im ersten Kapitel seines Gedichtbands „verdecktes gelände“. Es ist ein rhythmisch und sprachmusikalisch fein gewebter Hymnus an das sehr reale Grau von Gesteinsschichten. Mit der Anrufung der „Grauwacke“, grüngrauer Sandsteine, setzt das Gedicht ein – und die Lexik des Wortfeldes „Grau“ wird anschließend mit den unterschiedlichen Schichten von grauer Materie übereinandergelegt und in Bewegung gesetzt. Die „strömung aus grau“ löst die festen Konturen der Gesteine und gesteinsbildenden Minerale auf – Sprache und Materie verschmelzen ineinander. In diesem ersten Kapitel von Bleutges Gedichtband finden wir noch weitere Gedichte, in denen die inneren Schwingungen und Verschiebungen der Materie selbst zum zentralen Subjekt der Gedichte werden. Es findet nicht nur eine Entkoppelung der realen Gesteinsarten von ihrem geologischen Kontext statt, sondern auch eine semantische Befreiung des „Grau“-Vokabulars. Eine Bewegung kommt in Gang, in deren Verlauf die phonetischen Energien der Wörter selbst einen Sog entwickeln und das Gedicht hinausführen über die Grenzen von Landschaft und Geologie. Nico Bleutge ist in seinen Gedichten immer auf der Suche nach Stoffen, Materien und Materialien, die es zu beobachten, zu befühlen und entziffern gilt. Gehen und Wahrnehmen sind dabei kongruent mit dem Ertasten, Formen und Konturieren der Wörter, die der Dichter zusammensetzt zu einer Poesie der „klaren konturen“, der feinen Stofflichkeiten, der oft schwer fassbaren Objekte, die sich auflösen, je näher man ihnen kommt. Im Gedicht über das Grau ist ebenfalls diese Wahrnehmungsform benannt: „gleiten im schauen“. Nico Bleutge ist ein Dichter, den offenbar die Übergänge faszinieren, die Zwischenzeiten zwischen Tag und Nacht, Schlafen und Wachen, jene fluiden Zonen vor dem Einbruch der Dunkelheit oder das Morgengrauen vor Anbruch des Tages, der Himmel des Übergangs und seine Farberscheinungen am Horizont. In einer Dankrede zum Wilhelm Lehmann-Preis, den er im November 2011 erhalten hat, spricht Bleutge von den Voraussetzungen des Gedichteschreibens: „Das Beobachten, das genaue Sehen und das genaue Hören, überhaupt: die Öffnung aller Sinne für die Erscheinungen der Welt, waren Wilhelm Lehmann unerlässliche Voraussetzungen für jedes Gedicht. Die genaue Wahrnehmung ermöglicht es, von sich selbst abzusehen und sich auf die Phänomene einzulassen. Nur so können die überkommenen Vorstellungen und Sprachmuster fraglich werden. Und nur so kann ein Riß in ihrem Gewebe entstehen.“ Es geht in moderner Poesie um diesen Riss, um das Aufspalten unserer Wahrnehmungsroutinen. Nico Bleutge weiß auch, dass „das Zeichnen nach der Natur“ seine poetische Unschuld verloren hat. Viele seiner Gedichte sind auch ein diskreter lyrischer Geschichtsreport. Und auch im grauen Gedicht ist diese Geschichtsreflexion da: im Hinweis auf das „Feldgrau“ deutscher Uniformen, das die Szenerie verdunkelt. Nico Bleutge, geboren 1972 in München, studierte Germanistik, Rhetorik und Philosophie in Tübingen, debütierte 2006 mit dem Gedichtband „klare konturen“ und lebt seit 2008 als Lyriker und Literaturkritiker in Berlin. Das vorliegende Gedicht ist dem Band „verdecktes gelände“ (München, C.H. Beck 2013) entnommen. 02.11.2013
|
![]() |
Gedichte, kommentiert
|
|
poetenladen | Blumenstraße 25 | 04155 Leipzig | Germany
|
virtueller raum für dichtung
|
![]() |