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Christiane Heidrich
Michael Braun
Man kennt diesen Zustand des Transitorischen aus einem legendären Lesebuch-Text: „Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. / Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.“ Bertolt Brechts „Radwechsel“ setzte damals freilich die Entscheidungsfähigkeit eines Subjekts voraus, einen Willen und Richtungssinn des im Wartezustand befindlichen Ich, ein auf die Veränderung einer defizitären Lage gerichtete Intention. Im vorliegenden Gedicht der jungen Künstlerin und Dichterin Christiane Heidrich freilich, erstmals veröffentlicht in Heft 72 der Literaturzeitschrift „Edit“, verlässt sich der Körper des Subjekts nicht auf eine planvolle Entscheidung des Ich, sondern definiert sich selbst als ein zu beobachtendes System, eingebettet in ein Environment aus Medien. Das Ich ist selbst nicht die steuernde Instanz, sondern ist eingeschlossen in eine ruhige, fließende Bewegung, deren Ursprung und Ziel an technische Geräte delegiert wird. Ein Ich, eine Kamera, mit der „große Objekte“ beobachtet werden können, ein Navigationssystem, in das man den „Zielort“ eingibt: Das sind die Protagonisten des Gedichts, wobei der Körper nur als Relaisstation fungiert, zugleich als Ort einer permanenten Selbstbeobachtung. Fast scheint es, als werde ein willenlos erscheinendes Ich mithilfe eines Navigationsgeräts durch eine fremdbestimmte Wirklichkeit geschleust.
In diesen Grenzbereichen zwischen physischer Präsenz und technisch-digitaler Verfasstheit der Wirklichkeit, zwischen Körpererfahrung und digitalen Oberflächen bewegen sich die Gedichte von Christiane Heidrich. Heidrich studierte am Institut für Sprachkunst in Wien und seit 2013 Bildende Kunst an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Im Internet-Portal „warehouse“, das „Praktiken der digitalen Reibung“ dokumentiert, wird sie als Künstlerin vorgestellt, die sich „mit der Verschränkung von Körper und App beschäftigt“. In ihrer künstlerischen Arbeit experimentiert sie mit audiovisuellen Medien verschiedenster Art, in denen Oberflächen Bildmacht entwickeln: in Animationen, Selfies und Videos. In ihren Gedichten setzt sie auf eine kunstvolle Verkettung und Verschränkung von Einzelsätzen, die durch gegenstrebige Fügung und Paradoxien das Subjekt in einem unsicheren Status zeigen – ausgesetzt an den Strom der Bilder und ständig neu transformierter Fiktionen und Zeichensysteme. Das lyrische Ich ist ohne feste Verankerung: Es treibt dahin im Kosmos des Internets, oszilliert zwischen unterschiedlichsten Seins- und Wirklichkeitsentwürfen, ohne eine stabile Position zu finden. Die Lizenz zu einer poetischen Schöpfungsgeschichte wird hier an die Eigendynamik des Daten-Floatings abgetreten. Wie ein Programm für eine Poesie im digitalen Raum klingen die Eingangszeilen des Gedichts, das Christiane Heidrich in der Anthologie „Lyrik von Jetzt 3“ veröffentlicht hat: „Ein Pool, eine Lässigkeit. Von hier aus überall auftauchen können./ Jede Datei ist an sich schon genial. Herrlich allein mit dem eigenen Wissen./ Dass es Vögel gab, anfangs, eine Gischt, die sich aussprechen ließe.“ Das klingt wie die lyrische Apologie einer Ich-Dispersion im Strom der digitalen Bewusstseinsreize. Das Subjekt taucht ein in das Universum des Digitalen, in die Phänomenologie der Daten. Im Blick auf die Wirkung der digitalen Oberflächen hat die Autorin im Gespräch mit Max Wallenhorst ihr Verfahren erläutert: „Im Text kann ich die diffuse Mischung von Reiz und Zwang, die diese Umgebungen auf mich ausüben, aufdröseln in zugespitzte Sprechpositionen, die gegeneinander stehen und verwickelt sind, und damit keine Neutralität behaupten.“ Hier wird auch ein Lebensgefühl formuliert – das des lustvollen Angeschlossenseins an einen fluiden Datenstrom, der die neue Lebenswelt konfiguriert. Das fast symbiotische Verhältnis zwischen dem Körper und den digitalen Geräten ist das Leitmotiv dieser Gedichte. „Das künstlerische Material muss kalt gehalten werden“: Gottfried Benns Handlungsanleitung wird hier konsequent umgesetzt in die Apotheose digitaler Oberflächen. Viele Gedichte der jungen und allerjüngsten Lyrikergeneration arbeiten als „dynamisches Mobile“ (Daniela Seel), als Textur aus freischwebenden, unverbundenen Zeilen, die als poetischer Energieträger den lyrischen Prozess beflügeln. Das lyrische Ich dieser ganz im Zeichen der Facebook-Kultur stehenden Poesie ist ständig unterwegs „auf einer rutschigen Fläche unbeantworteter Nachrichten“, wie es in einem weiteren Gedicht von Christiane Heidrich heißt. Alles wird delegiert an ein fluides Einerlei im digitalen Raum, an die Unentschiedenheit als Lebensform. Sie mündet in die ostentative Koketterie mit dem bloß Funktional-Technischen: „Ich habe kein Thema.“ Christiane Heidrich, geboren 1995 in Karlsruhe, studiert seit 2013 an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart, 2014/15 war sie Studentin am Institut für Sprachkunst der Universität für Angewandte Kunst Wien. Sie erhielt u.a. ein Förderstipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes und arbeitet bei Professor Rainer Ganahl in Stuttgart vorwiegend an Material- und Raumkonzepten unter Einbeziehung Neuer Medien. Das vorliegende Gedicht erschien erstmals in EDIT und folgt in dieser aktuellen Version Christiane Heidrichs Debütband spliss, der im Herbst 2018 bei kookbooks erschienen ist. Druckansicht
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