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Mara-Daria Cojocaru
ICH BIN

Das letzte Reh im Zoo von Gaza, ich
Steh, zerschossen Fell und Sand
Am Rand: ikonische Verzweiflung. Ich

Seh meine Freunde an der Wand. Wer
Hat mich übersehen? Warum bleib ich
Bleiern, unerschossen; unentschlossen

Geh ich hin. Ich wittere, was surreal ist, die
Wand marschiert mir in die Nase, ich biete
Mich dem Truthahn an. Als Friedenszeichen

Schalomsalam, ich
Bin das letzte Reh, im Zoo von Gaza
Du mein Absalom-Perückenbock

Zerschossene Testikel, tapfer und wie schön
Du bist, ich weiß, und Gott erspeit die Lauen
Ich bin, Jesusmaria, voll der Gnade

Und was für ein brutales
Bild vom Krieg


  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 69

Michael Braun
Das Unerhörte ist alltäglich geworden



„Der Krieg wird nicht mehr erklärt, / sondern fortgesetzt. Das Unerhörte / ist alltäglich geworden. Der Held / bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache / ist in die Feuerzonen gerückt.“ Die Eröffnungszeilen von Ingeborg Bachmanns Gedicht „Alle Tage“ sind auch über sechzig Jahre nach ihrer Niederschrift von erschütternder Aktualität. Sie markieren den Ausgangspunkt der modernen, asymmetrischen Kriege, in denen die Kombattanten meist in der suizidären Aktion, die möglichst viele Zivilpersonen mit in den Tod reißt, einen Märtyrer-Status zu erreichen hoffen. Die palästinensische Enklave Gaza ist seit ihrer Gründung 2007 ein Ort des permanenten Krieges. Auch jenseits der klassischen Militäroperationen wird Gaza immer wieder zum Schauplatz der kriegerischen Auseinandersetzung, etwa bei dem Konflikten um die Versorgung mit Strom und Wasser. Durch die israelische Blockade und durch die infolge der drei Gaza-Kriege zerstörte Infrastruktur ist die Wasserversorgung stark beeinträchtigt. Schätzungen besagen, dass es im Jahr 2020 im Gazastreifen kein Wasser mehr geben wird.
  Diese Situation des permanenten Krieges ist der Ausgangspunkt des Gedichts von Mara-Daria Cojocaru. Bereits der Eingangsvers markiert die Verheerungen, die der Krieg im Zoologischen Garten von Gaza hinterlassen hat. Tatsächlich waren Anfang 2016 die Bestände im Tierpark von Gaza auf einen traurigen Rest geschrumpft.
  Mara-Daria Cojocaru entwickelt das anrührende Bild vom „letzten Reh im Zoo von Gaza“ zur Allegorie eines unlösbaren Konflikts zwischen den Religionen und Kulturen. In einer Art Metamorphose verwandelt sich das lyrische Ich zum einsamen, von allen Seiten bedrohten Tier und es durchläuft verschiedene Stadien der Begegnung mit anderen Tieren, die unterschiedliche Religionen repräsentieren. Das Aufeinandertreffen des Islams mit dem Judentum und dem Christentum wird in mythischen Bildern und kleinen Parabeln durchgespielt. Die hier aufgerufene Chiffre „Schalomsalam“ verschmilzt den jüdischen und arabischen Friedensgruß – eine poetische Synthesis, die in der politischen Realität nie stattgefunden hat. Der Hinweis auf den „Absalom-Perückenbock“ ruft die biblische Erzählung von Absalom in Erinnerung, des jüngeren Sohns von König David, der sich gegen seinen Vater erhebt, aber in der entscheidenden Schlacht mit seinen langen Haaren an einem Baum hängenbleibt und in dieser hilflosen Lage getötet wird. Die Schlussstrophe zitiert schließlich eine Stelle aus der Offenbarung des Johannes, in der davon die Rede ist, dass Gott „die Lauen“ aus seinem Mund „ausspeit“. Die starke Suggestivität von Cojocarus Gedicht resultiert aus der subtilen Verschränkung disparater religiöser Mythen und Erzählungen. Cojocaru formt daraus mithilfe von diskret gesetzten Binnenreimen und Anspielungen auf Gebetsformeln einen elegischen Gesang von der Unentrinnbarkeit des Krieges, in dem alles „zerschossen“ wird und keine Kreatur mehr heil bleibt. Vor allem die Musikalität der Eingangszeile nimmt den Leser sofort gefangen. „Ich bin / Das letzte Reh im Zoo von Gaza“: Es ist nicht nur die politische Konstellation, die hier sofort Aufmerksamkeit generiert, sondern auch die Lautfolge, die hier geknüpft wird, die Vokal-Kombination „i –a – e – i – o – a“. In ihrem berückenden Gedichtband „Anstelle einer Unterwerfung“, dem der Text entnommen ist, erzählt die Dichterin und Philosophin Mara-Daria Cojocaru Geschichten von der bedrohten Schöpfung und den Konflikten zwischen Menschen und Tieren, lyrische Fabeln und Parabeln von der gefährdeten Kreatur. Die „Natur der Dinge“ (so ist ein weiteres Gedicht Cojocarus überschrieben) ist hier stets der Selbstzerstörungswut der Menschen ausgesetzt – und unrettbar verloren.

Mara-Daria Cojocaru wurde 1980 in Hamburg geboren. Sie studierte Politikwissenschaft, Theaterwissenschaft, Recht und Philosophie an der LMU München und ist heute Dozentin für Praktische Philosophie an der Hochschule für Philosophie München. Ihr Lyrikdebüt „Näherungsweise“ erschien 2008 in der Lyrikedition 2000 im Allitera Verlag. Das Gedicht „Ich bin“ ist ihrem zweiten Gedichtbuch „Anstelle einer Unterwerfung“ entnommen, das in diesen Tagen im Verlag Schöffling & Co (Frankfurt am Main) erscheint.
Wir danken Autorin und Verlag für die Wieder­gabe im Rahmen dieses Gedichtkommentars.

Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht     01.09.2016




Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (1. Band)
100 deutsche Gedichte der Gegenwart,
kommentiert
Taschenbuch
360 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2011

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  M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (3. Band)
60 deutsche Gedichte der Gegenwart,
kommentiert
Broschiert mit farb. Vorsatz
216 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2019

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Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Mara-Daria Cojocaru
Liste
Gefördert vom
Deutschen Literaturfonds



  102   Brigitte Oleschinski
    
wie die Wörter auftauen
  101   Franz Josef Czernin
    
dunkel ortlos, hergezogen
  100   Johann P. Tammen
    
Ein Poet nimmt Platz
  99   Joseph Kopf
    
Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn
  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
  97   Sandra Burkhardt
    
Die Bahn einer Meeresschildkröte
  96   Ernst Blass
    
An Gladys
  95   Michael Buselmeier
    
Holzpuppe
  94   Heiner Müller
    
Traumwald
  93   Thomas Böhme
    
Neunundzwanzigster Februar
  92   Katrine von Hutten
    
Beschreibung
  91   Dieter M. Gräf
    
Nach Mattheuer
  90   Arnfrid Astel
    
Leda
  89   Michael Krüger
    
Im Winter
  88   Ralph Dutli
    
Salzzauber
  87   Christiane Heidrich
    
Today I am functional (1)
  86   Wulf Kirsten
    
die rückkehr der wölfe
  85   Maren Kames
    
Im Siel
  84   Gregor Laschen
    
Drüben, im ›Winkel von Hardt‹
  83   Christoph Wenzel
    
ländlich, der mundraum
  82   Werner Lutz
    
Ja, bin unterwegs
  81   Kenah Cusanit
    
Gottesgedicht, unberuhigt
  80   Sascha Kokot
    
sobald die Stadt ...
  79   Ror Wolf
    
Dritter unvollständiger Versuch
  78   Horst Bingel
    
Felsenmeer
  77   Tristan Marquardt
    
nachts, ich laufe nach hause
  76   Harald Gerlach
    
Gründe, linkselbisch
  75   Birgit Kreipe
    
schienen stillgelegt
  74   Hanns Cibulka
    
Böhmischer Rebstock
  73   Karin Fellner
    
Eine Zeitfalte weiter
  72   David Krause
    
Wolken
  71   Jürgen Nendza
    
An manchen Tagen
  70   Harry Oberländer
    
kurz vor der revolution
  69   Mara-Daria Cojocaru
    
Ich bin
  68   Hilde Domin
    
Antwort
  67   Elisabeth Borchers
    
Zukünftiges
  66   Günter Herburger
    
Großjean, der aus einem ...
  65   Georg Leß
    
Kondorlied
  64   Thomas Kling
    
Tessiner beinhaus. wandbild
  63   Rainer René Mueller
    
Da ist es
  62   Ernst S. Steffen
    
Man sagt
  61   Henning Ziebritzki
    
Elster
  60   Jürgen Brôcan
    
Fremde ohne Souvenir
  59   Carolin Callies
    
wackersteine im wams
  58   Friedrich Ani
    
Versehrte Verse
  57   Elke Erb
    
»Ursprüngliche Akkumulation«
  56   Uwe Kolbe
    
Heidelberg, den 14ten August
  55   Sonja vom Brocke
    
Kunde
  54   Sünje Lewejohann
    
krähen
  53   Jan Wagner
    
im brunnen
  52   Susanne Stephan
    
Frontier
  51   Silke Scheuermann
    
Uraniafalter
  50   Mirko Bonné
    
Der Zischelwind
  49   Judith Zander
    
fürs erste leb im später
  48   Andreas Rasp
    
diese steine hier
  47   Marcus Roloff
    
hl. grab, eingang wahlkapelle
  46   Clemens J. Setz
    
Motte
  45   Martina Weber
    
jetzt, da die letzten bilder verschwunden sind
  44   Paul Zech
    
Der Nebel fällt
  43   Klaus Merz
    
Expedition
  42   Christian Lehnert
    
Du bist die Aussicht  ...
  41   Àxel Sanjosé
    
Zum Abschied hell ...
  40   Ulrike Draesner
    
feld elternlos
  39   Ursula Krechel
    
Weiß wie
  38   Heinrich Detering
    
Kilchberg
  37   Hendrik Rost
    
Requiem
  36   Walle Sayer
    
Vom Flüchtigschönen
  35   Nico Bleutge
    
grauwacke
  34   Rolf Haufs
    
Kinderjuni
  33   Thomas Rosenlöcher
    
Die Hoffnungsstufen
  32   Jan Koneffke
    
Dem toten Kind in einer Oktobernacht
  31   Arne Rautenberg
    
drei amseln
  30   Oskar Loerke
    
Ans Meer
  29   Jean Krier
    
„Alles ist in den besten Anfängen“
  28   Werner Laubscher
    
Winterreise. Wintersprache
  27   Wolfgang Schlenker
    
stichwort minimieren
  26   Christoph Meckel
    
Kind
  25   Günter Grass
    
Die Vorzüge der Windhühner
  24   Jürgen Theobaldy
    
Blume mit Geruch
  23   Ann Cotten
    
Rosa Meinung
  22   Horst Samson
    
Edoms Nacht
  21   Christian Steinbacher
    
Belegte Brotzeit
  20   Bianca Döring
    
Allein
  19   Simone Kornappel
    
muxmäuschen
  18   Jörg Burkhard
    
in gauguins alten basketballschuhen
  17   Konstantin Ames
    
dreißig lenze
  16   Wilhelm Lehmann
    
Auf sommerlichem Friedhof
  15   Joachim Zünder
    
Die Finnische Bibliothek
  14   Kathrin Schmidt
    
waage, vorm wasser
verchromt, gestählt
  13   Marion Poschmann
    
latenter Ort
  12   Rainer Malkowski
    
Bist du das noch?
  11   Gerhard Falkner
    
die roten schuhe
  10   Wolfgang Hilbig
    
Pro domo et mundo
  9   Katharina Schultens
    
die möglichkeit einer verwechslung ...
  8   Michael Donhauser
     Lass rauschen Lied ...
  7   Ulrich Zieger
     an den vater von sem,
  6   Elisabeth Langgässer
     Erster Adventssonntag
  5   Levin Westermann
     wie ein fresko
  4   Dirk von Petersdorff
     Raucherecke
  3   Ulrich Koch
     Danke
  2   Steffen Popp
     Fenster zur Weltnacht
  1   Adolf Endler
     Dies Sirren
     
Neue Folge