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Mara-Daria Cojocaru
ICH BIN
Das letzte Reh im Zoo von Gaza, ich Steh, zerschossen Fell und Sand Am Rand: ikonische Verzweiflung. Ich Seh meine Freunde an der Wand. Wer Hat mich übersehen? Warum bleib ich Bleiern, unerschossen; unentschlossen Geh ich hin. Ich wittere, was surreal ist, die Wand marschiert mir in die Nase, ich biete Mich dem Truthahn an. Als Friedenszeichen Schalomsalam, ich Bin das letzte Reh, im Zoo von Gaza Du mein Absalom-Perückenbock Zerschossene Testikel, tapfer und wie schön Du bist, ich weiß, und Gott erspeit die Lauen Ich bin, Jesusmaria, voll der Gnade Und was für ein brutales Bild vom Krieg
Michael Braun „Der Krieg wird nicht mehr erklärt, / sondern fortgesetzt. Das Unerhörte / ist alltäglich geworden. Der Held / bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache / ist in die Feuerzonen gerückt.“ Die Eröffnungszeilen von Ingeborg Bachmanns Gedicht „Alle Tage“ sind auch über sechzig Jahre nach ihrer Niederschrift von erschütternder Aktualität. Sie markieren den Ausgangspunkt der modernen, asymmetrischen Kriege, in denen die Kombattanten meist in der suizidären Aktion, die möglichst viele Zivilpersonen mit in den Tod reißt, einen Märtyrer-Status zu erreichen hoffen. Die palästinensische Enklave Gaza ist seit ihrer Gründung 2007 ein Ort des permanenten Krieges. Auch jenseits der klassischen Militäroperationen wird Gaza immer wieder zum Schauplatz der kriegerischen Auseinandersetzung, etwa bei dem Konflikten um die Versorgung mit Strom und Wasser. Durch die israelische Blockade und durch die infolge der drei Gaza-Kriege zerstörte Infrastruktur ist die Wasserversorgung stark beeinträchtigt. Schätzungen besagen, dass es im Jahr 2020 im Gazastreifen kein Wasser mehr geben wird.
Diese Situation des permanenten Krieges ist der Ausgangspunkt des Gedichts von Mara-Daria Cojocaru. Bereits der Eingangsvers markiert die Verheerungen, die der Krieg im Zoologischen Garten von Gaza hinterlassen hat. Tatsächlich waren Anfang 2016 die Bestände im Tierpark von Gaza auf einen traurigen Rest geschrumpft. Mara-Daria Cojocaru entwickelt das anrührende Bild vom „letzten Reh im Zoo von Gaza“ zur Allegorie eines unlösbaren Konflikts zwischen den Religionen und Kulturen. In einer Art Metamorphose verwandelt sich das lyrische Ich zum einsamen, von allen Seiten bedrohten Tier und es durchläuft verschiedene Stadien der Begegnung mit anderen Tieren, die unterschiedliche Religionen repräsentieren. Das Aufeinandertreffen des Islams mit dem Judentum und dem Christentum wird in mythischen Bildern und kleinen Parabeln durchgespielt. Die hier aufgerufene Chiffre „Schalomsalam“ verschmilzt den jüdischen und arabischen Friedensgruß – eine poetische Synthesis, die in der politischen Realität nie stattgefunden hat. Der Hinweis auf den „Absalom-Perückenbock“ ruft die biblische Erzählung von Absalom in Erinnerung, des jüngeren Sohns von König David, der sich gegen seinen Vater erhebt, aber in der entscheidenden Schlacht mit seinen langen Haaren an einem Baum hängenbleibt und in dieser hilflosen Lage getötet wird. Die Schlussstrophe zitiert schließlich eine Stelle aus der Offenbarung des Johannes, in der davon die Rede ist, dass Gott „die Lauen“ aus seinem Mund „ausspeit“. Die starke Suggestivität von Cojocarus Gedicht resultiert aus der subtilen Verschränkung disparater religiöser Mythen und Erzählungen. Cojocaru formt daraus mithilfe von diskret gesetzten Binnenreimen und Anspielungen auf Gebetsformeln einen elegischen Gesang von der Unentrinnbarkeit des Krieges, in dem alles „zerschossen“ wird und keine Kreatur mehr heil bleibt. Vor allem die Musikalität der Eingangszeile nimmt den Leser sofort gefangen. „Ich bin / Das letzte Reh im Zoo von Gaza“: Es ist nicht nur die politische Konstellation, die hier sofort Aufmerksamkeit generiert, sondern auch die Lautfolge, die hier geknüpft wird, die Vokal-Kombination „i –a – e – i – o – a“. In ihrem berückenden Gedichtband „Anstelle einer Unterwerfung“, dem der Text entnommen ist, erzählt die Dichterin und Philosophin Mara-Daria Cojocaru Geschichten von der bedrohten Schöpfung und den Konflikten zwischen Menschen und Tieren, lyrische Fabeln und Parabeln von der gefährdeten Kreatur. Die „Natur der Dinge“ (so ist ein weiteres Gedicht Cojocarus überschrieben) ist hier stets der Selbstzerstörungswut der Menschen ausgesetzt – und unrettbar verloren. Mara-Daria Cojocaru wurde 1980 in Hamburg geboren. Sie studierte Politikwissenschaft, Theaterwissenschaft, Recht und Philosophie an der LMU München und ist heute Dozentin für Praktische Philosophie an der Hochschule für Philosophie München. Ihr Lyrikdebüt „Näherungsweise“ erschien 2008 in der Lyrikedition 2000 im Allitera Verlag. Das Gedicht „Ich bin“ ist ihrem zweiten Gedichtbuch „Anstelle einer Unterwerfung“ entnommen, das in diesen Tagen im Verlag Schöffling & Co (Frankfurt am Main) erscheint. Druckansicht
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