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Rainer Malkowski
Bist du das noch?

Bist du das noch?
Ohne Herrschaft über das Alphabet
und die Lautstärke
deiner Stimme?

Schmerz, das ist,
was du nicht aushalten kannst.

Der Verlust
des Stolzes,

der Erinnerung
an Glück.

Amoralische
Vereinzelung.

Das Hirn degeneriert
zu einem einzigen Gedanken.

Alptraum,
noch lange danach:
daß du die Hand
nicht an die Klingel bringst.


  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 12

Michael Buselmeier
Letzte Verse


Um 1975 war die auf Alltags­erfah­rung gründende Lyrik der „Neuen Subjek­tivität“ in der literarischen Öffent­lichkeit der Bundes­republik etabliert. Ihre Prota­gonisten zumal (Jürgen Theobaldy, Nicolas Born, F.C. Delius) bemühten sich, Triumph und Scheitern der Jugend­revolte poetisch aufzuarbeiten, in einer einfachen, tenden­ziell jedem verständ­lichen Diktion. Ihre Alltags­gedichte widmeten sich besonders den nahen Dingen: Miniaturen, Stillleben, Porträts. So meinte etwa Rolf Dieter Brinkmann 1968, ein Gedicht könne nur das an Material aufnehmen, „was wirklich alltäg­lich abfällt“, was man wahr­nimmt, „wenn man aus dem Fenster guckt, auf der Straße steht, an einem Schau­fenster vorbeigeht.“

Auch Rainer Malkowski wird gelegentlich der Neuen Subjek­tivität zugerechnet, doch er passt da nicht recht hin, denn er hat seine Erfahrungen nicht im Umfeld der Studentenbewegung gemacht. Auch der anglo-amerikanische Underground und die Lyrik der Beatniks (von Allen Ginsberg bis Charles Bukowski) scheinen ihn nicht beeindruckt zu haben. Der Bruch in Malkowskis Biographie ist von anderer, jedoch nicht weniger radi­kaler Art: 1971 gab er seine Position als Geschäfts­führer der damals größten deut­schen Werbe­agentur auf. Entschlossen, nur noch dem Schreiben zu leben, zog er sich von Düsseldorf aufs Land, nach Ober­bayern zurück, wo er bis zu seinem Krebstod im Jahr 2003 wohnte.

Sein erster Gedichtband Was für ein Morgen erschien 1975 in der edition suhrkamp. Wie dieser sparen auch die folgenden Bände Politik und Werbewelt weitgehend aus. In lockerem, heiter-melancho­lischem Tonfall kon­zentriert sich Malkowski auf Themen wie Natur (oder besser: Land­schaft) und Kunst (vor allem die bildenden Künste), die von der aggres­siven Massen­kultur noch nicht sichtbar infiziert zu sein scheinen. Doch sind auch seine Gedichte, ähnlich wie die der politisch moti­vierten All­tags­poeten, vom Bemühen um Ver­ständ­lichkeit bestimmt. Sie sind nicht meta­phorisch verschlüsselt, heben auch die vertraute Syntax nirgendwo aus den Angeln. Eine eher diskursive Sprache greift unspek­takuläre Szenen auf, Bio­graphisches, Erin­nerungen. Der Dichter versteht es, das Erlebte zu schönen, oft über­raschenden Gedanken­bildern und präg­nanten Refle­xions­ketten umzu­formen. Er tritt dabei betont leise auf, präzis sein Handwerk reflek­tie­rend, mit Distanz und Gelassen­heit – nur „bescheiden“ ist er nicht. Er weiß, wer er ist und was es bedeutet, in dieser Zeit ein freier Künstler zu sein; er weiß auch hart zu urteilen, besonders über sich selbst: „Liebe ich vielleicht / die Dinge mehr / als die Menschen? / Das stimmt nicht, das ist wahr.“

Das hier vorgestellte Gedicht stammt aus Malkowskis zehntem, postum erschie­nenen Band Die Herkunft der Uhr. Er enthält letzte Verse, im Bewusst­sein des nahen Todes geschrieben; vielleicht auch Versuche, den Tod mit­tels immer genaue­rer Wahrnehmung und Selbst­beobachtung auf Distanz zu halten, um den Erschei­nungen endlich doch gerecht zu werden: Er habe nicht bemerkt, wie seine Jahre vergingen, schreibt dieser so Aufmerk­same bedauernd, und sich „zu wenig Zeit genommen / für die Betrach­tung der Sterne.“

„Bist du das noch?“ Schon der Gedichtanfang mit einer Frage (oder mit einem Ausruf oder einer ironischen Sentenz) ist nicht untypisch für Malkowski. Es folgen Befürchtungen und Reflexionen, die sich verschärfende Krankheit betreffend; unerträglich werdende Schmerzen, möglicher Verlust von Stolz und Erinnerung, „amoralische / Vereinzelung.“ Ganz am Ende des Buches (und des Lebens) stehen jene tapferen Zeilen, fast ein Gebet, in welchem der Sterbende die eigene Urteilskraft bittet, bei ihm auszuharren: „Urteils­kraft, verlaß mich nicht im Nebel der Medikamente, wo die letzte, die gemauerte Einsamkeit beginnt.“

Rainer Malkowski wurde 1939 in Berlin-Tempelhof geboren. Seit 1972 lebte er in Brannen­burg am Inn, wo er 2003 starb. Das vorge­stellte Gedicht wurde dem Band Die Herkunft der Uhr, Carl Hanser Verlag, München 2004, entnommen.

Wir danken dem Hanser Verlag für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Gedichts im Kontext dieses Kommentars.





Band 1
 
  Band 3  
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03.11.2011



 

Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Rainer Malkowski
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  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
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An Gladys
  95   Michael Buselmeier
    
Holzpuppe
  94   Heiner Müller
    
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Neunundzwanzigster Februar
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Im Siel
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Dritter unvollständiger Versuch
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Felsenmeer
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nachts, ich laufe nach hause
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Gründe, linkselbisch
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