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Jörg Burkhard
in gauguins alten basketballschuhen

aus paris vertrieben
gingen wir hinunter
nach marseille
die bahnhofstreppen
wo das meer
in die züge kam

am stadtende
spielten die wellen um unsere füße
wir gingen ins algerische hotel
bestellten blaue fische bier mädchen

mit verdorbenem magen und schlaflos
freuten wir uns morgens über die sonne
schwammen über das meer und kamen
nie zurück


  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 18

Michael Buselmeier
Auf nach Marseille!



Unerwartet Marseille nennt sich ein 2012 erschienenes Hörbuch des Langstecken-Erzählers Peter Kurzeck, das vom Lebens­gefühl der 60er Jahre zeugt, vom Auf­bruch einer ganzen Gene­ration in den Sommer, in den Süden Frank­reichs oder einfach „westwärts“ in eine ersehnte bessere Welt. Auch Jörg Burkhard, wie Kurzeck 1943 geboren und wie er Autodidakt, ohne Abitur und Studium, erzählt in seinen Gedichten vom Road­movie seiner Jugend, diesem Glücks­moment, sich einmal als leben­diger Teil des Universums zu fühlen.
  Burkhard, der den Beruf des Buchhänd­lers erlernt hat, kam als Lehr­ling Anfang der 60er Jahre wie von selbst an die ihn prägende Poesie heran, an Arthur Rimbauds wilde Dichtung (der übrigens 1891 in einem Kranken­haus zu Marseille starb) wie an die noch weithin unbe­kannten Texte der ameri­kanischen Beat-Generation. Vor allem Jack Kerouacs Roman On the road hat ihn früh beflügelt. Im Kreis junger Dichter um Arnfrid Astel, in dessen Zeit­schrift Lyrische Hefte, ver­öffent­lichte er 1964 erste Gedichte: unbe­kümmerte, kräftig ein­setzende Verse, aufs Natür­lichste mit dem Lebens­stoff verbunden, doch zugleich hoch arti­fiziell.
  Um 1968, in einer Phase strenger Politisierung, meinte Jörg Burkhard das Schreiben ein­stellen zu müssen. Die dann ab Mitte der 70er Jahre entstehenden und in zwei Bänden gesammelten Gedichte greifen das Lebensgefühl der Beatniks erneut auf und überführen es in die Ekstasen der westdeutschen Subkultur und der Jugendrevolte. Ein „Ich“, häufiger ein „Wir“, taumelt durch das Dickicht der Städte, nichts als subversive Aktionen, Sex und Alkohol im Kopf; es erzählt locker, mit surrealem Witz, von wirklichen wie erdachten Aben­teuern, die meist etwas schäbig im Sand verlaufen: „(…) bis wir in unsere autos stiegen / die recorder einschalteten / in enggefahrenen kurven / nicht mehr wußten / wohin mit der bierdose in der rechten hand / und wir sie hinaus­warfen / in unsere welt“.
  Das hier vorgestellte Gedicht, geschrieben um 1975, verweist schon im poe­tischen Titel auf einen berühmten Zivi­lisations­flücht­ling, der sein Glück auf einer Süd­seeinsel suchte: Paul Gauguin. Weg aus der Flitter­welt des Kommerzes und dem grauen Elend der Spiessbürger, ins Offene hinaus!, so lautet die Botschaft. Ein Kollektiv von Rebel­len – oder sind es nicht eher kleine Ausreißer? – fährt, „aus paris vertrieben“, nach Marseille, wo auch nicht viel los ist, und flüch­tet schließlich in einer utopischen Bewe­gung schwimmend „über das meer“, um nie mehr zurück­zukommen. Die radikalen Bilder am Ende jeder der drei Strophen („wo das meer / in die Züge kam“) lassen an Rimbaud denken, obwohl Jörg Burkhard schon früh einen durchaus eigenen Ton gefunden hat.
  Dieser Dichter hat sich nie für den Literaturbetrieb interessiert und sich be­ständig jeder Art von „Profes­siona­lisierung“ ent­zogen, um den Preis des Unbe­kannt­seins. 1984 – in diesem Jahr musste er seinen Polit­ischen Buchladen in der Heidel­berger Altstadt schließen – ist ihm sogar die Flucht aus der noch immer roman­tisch geprägten Alltags­lite­ratur gelungen. Jeden­falls hat er dem subjektiven Denken und der „Seelen­sprache der Lyrik“ den Rücken zugekehrt und so einen wesentlichen Teil von sich selbst konsequent zum Ver­schwinden gebracht, was bedauerlich ist. Er bastelt seither an einer gigan­tischen Collage des Medien­ge­schwät­zes. Er begann mit Kassetten­rekordern und Geräuschen zu expe­rimen­tieren, schneidet, hackt und montiert den Sprach­müll, der täg­lich aus zahllosen Fern­seh- und Radio­kanälen und den Druck­medien quillt, zu einem „elekt­roakus­tischen Gesamt­kunstwerk“ zusammen.

Jörg Burkhard wurde 1943 in Dresden geboren und ist in Heidelberg aufgewachsen, wo er noch immer lebt. Das vorgestellte Gedicht entstammt dem Band in gauguins alten baskettballschuhen. gedichte und fotos, Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 1979



Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (1. Band)
100 deutsche Gedichte der Gegenwart,
kommentiert
Taschenbuch
360 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2011

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  M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (3. Band)
60 deutsche Gedichte der Gegenwart,
kommentiert
Broschiert mit farb. Vorsatz
216 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2019

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06.06.2012



 

Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Jörg Burkhard
Liste
Gefördert vom
Deutschen Literaturfonds



  102   Brigitte Oleschinski
    
wie die Wörter auftauen
  101   Franz Josef Czernin
    
dunkel ortlos, hergezogen
  100   Johann P. Tammen
    
Ein Poet nimmt Platz
  99   Joseph Kopf
    
Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn
  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
  97   Sandra Burkhardt
    
Die Bahn einer Meeresschildkröte
  96   Ernst Blass
    
An Gladys
  95   Michael Buselmeier
    
Holzpuppe
  94   Heiner Müller
    
Traumwald
  93   Thomas Böhme
    
Neunundzwanzigster Februar
  92   Katrine von Hutten
    
Beschreibung
  91   Dieter M. Gräf
    
Nach Mattheuer
  90   Arnfrid Astel
    
Leda
  89   Michael Krüger
    
Im Winter
  88   Ralph Dutli
    
Salzzauber
  87   Christiane Heidrich
    
Today I am functional (1)
  86   Wulf Kirsten
    
die rückkehr der wölfe
  85   Maren Kames
    
Im Siel
  84   Gregor Laschen
    
Drüben, im ›Winkel von Hardt‹
  83   Christoph Wenzel
    
ländlich, der mundraum
  82   Werner Lutz
    
Ja, bin unterwegs
  81   Kenah Cusanit
    
Gottesgedicht, unberuhigt
  80   Sascha Kokot
    
sobald die Stadt ...
  79   Ror Wolf
    
Dritter unvollständiger Versuch
  78   Horst Bingel
    
Felsenmeer
  77   Tristan Marquardt
    
nachts, ich laufe nach hause
  76   Harald Gerlach
    
Gründe, linkselbisch
  75   Birgit Kreipe
    
schienen stillgelegt
  74   Hanns Cibulka
    
Böhmischer Rebstock
  73   Karin Fellner
    
Eine Zeitfalte weiter
  72   David Krause
    
Wolken
  71   Jürgen Nendza
    
An manchen Tagen
  70   Harry Oberländer
    
kurz vor der revolution
  69   Mara-Daria Cojocaru
    
Ich bin
  68   Hilde Domin
    
Antwort
  67   Elisabeth Borchers
    
Zukünftiges
  66   Günter Herburger
    
Großjean, der aus einem ...
  65   Georg Leß
    
Kondorlied
  64   Thomas Kling
    
Tessiner beinhaus. wandbild
  63   Rainer René Mueller
    
Da ist es
  62   Ernst S. Steffen
    
Man sagt
  61   Henning Ziebritzki
    
Elster
  60   Jürgen Brôcan
    
Fremde ohne Souvenir
  59   Carolin Callies
    
wackersteine im wams
  58   Friedrich Ani
    
Versehrte Verse
  57   Elke Erb
    
»Ursprüngliche Akkumulation«
  56   Uwe Kolbe
    
Heidelberg, den 14ten August
  55   Sonja vom Brocke
    
Kunde
  54   Sünje Lewejohann
    
krähen
  53   Jan Wagner
    
im brunnen
  52   Susanne Stephan
    
Frontier
  51   Silke Scheuermann
    
Uraniafalter
  50   Mirko Bonné
    
Der Zischelwind
  49   Judith Zander
    
fürs erste leb im später
  48   Andreas Rasp
    
diese steine hier
  47   Marcus Roloff
    
hl. grab, eingang wahlkapelle
  46   Clemens J. Setz
    
Motte
  45   Martina Weber
    
jetzt, da die letzten bilder verschwunden sind
  44   Paul Zech
    
Der Nebel fällt
  43   Klaus Merz
    
Expedition
  42   Christian Lehnert
    
Du bist die Aussicht  ...
  41   Àxel Sanjosé
    
Zum Abschied hell ...
  40   Ulrike Draesner
    
feld elternlos
  39   Ursula Krechel
    
Weiß wie
  38   Heinrich Detering
    
Kilchberg
  37   Hendrik Rost
    
Requiem
  36   Walle Sayer
    
Vom Flüchtigschönen
  35   Nico Bleutge
    
grauwacke
  34   Rolf Haufs
    
Kinderjuni
  33   Thomas Rosenlöcher
    
Die Hoffnungsstufen
  32   Jan Koneffke
    
Dem toten Kind in einer Oktobernacht
  31   Arne Rautenberg
    
drei amseln
  30   Oskar Loerke
    
Ans Meer
  29   Jean Krier
    
„Alles ist in den besten Anfängen“
  28   Werner Laubscher
    
Winterreise. Wintersprache
  27   Wolfgang Schlenker
    
stichwort minimieren
  26   Christoph Meckel
    
Kind
  25   Günter Grass
    
Die Vorzüge der Windhühner
  24   Jürgen Theobaldy
    
Blume mit Geruch
  23   Ann Cotten
    
Rosa Meinung
  22   Horst Samson
    
Edoms Nacht
  21   Christian Steinbacher
    
Belegte Brotzeit
  20   Bianca Döring
    
Allein
  19   Simone Kornappel
    
muxmäuschen
  18   Jörg Burkhard
    
in gauguins alten basketballschuhen
  17   Konstantin Ames
    
dreißig lenze
  16   Wilhelm Lehmann
    
Auf sommerlichem Friedhof
  15   Joachim Zünder
    
Die Finnische Bibliothek
  14   Kathrin Schmidt
    
waage, vorm wasser
verchromt, gestählt
  13   Marion Poschmann
    
latenter Ort
  12   Rainer Malkowski
    
Bist du das noch?
  11   Gerhard Falkner
    
die roten schuhe
  10   Wolfgang Hilbig
    
Pro domo et mundo
  9   Katharina Schultens
    
die möglichkeit einer verwechslung ...
  8   Michael Donhauser
     Lass rauschen Lied ...
  7   Ulrich Zieger
     an den vater von sem,
  6   Elisabeth Langgässer
     Erster Adventssonntag
  5   Levin Westermann
     wie ein fresko
  4   Dirk von Petersdorff
     Raucherecke
  3   Ulrich Koch
     Danke
  2   Steffen Popp
     Fenster zur Weltnacht
  1   Adolf Endler
     Dies Sirren
     
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