poetenladen    poet    web

●  Sächsische AutobiographieEine Serie von
Gerhard Zwerenz

●  Lyrik-KonferenzDieter M. Gräf und
Alessandro De Francesco

●  UmkreisungenJan Kuhlbrodt und
Jürgen Brôcan (Hg.)

●  Stelen – lyrische GedenksteineHerausgegeben
von Hans Thill

●  Americana – Lyrik aus den USAHrsg. von Annette Kühn
& Christian Lux

●  ZeitschriftenleseMichael Braun und
Michael Buselmeier

●  SitemapÜberblick über
alle Seiten

●  Buchladenpoetenladen Bücher
Magazin poet ordern

●  ForumForum

●  poetenladen et ceteraBeitrag in der Presse (wechselnd)

 

 

Rainer René Mueller
Da ist es

: zerschlissen, dieses /
... was
zählst du; du / ich :

um vier Uhr früh. / Früh wird's
abgetschilpt. Es überdauert
dich,
was vom Grün pfeift, von den
Firsten : Antennen

„Firstendach“ : Worten /
tön ..., so
oben ein Schönes ist,
ist's Tönen, so.

Haben zu sehen, so
zu hören. So, zu tönen.

Es ist hör'n wie einer /
denkt's : Stille

  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 63

Michael Braun
Sprich auch du



„Wahr spricht, wer Schatten spricht“: Diese Direktive, die das lyrische Subjekt in Paul Celans Gedicht „Sprich auch du“ an sich selbst adressiert, könnte auch dem poetischen Werk des Dichters Rainer René Mueller voranstehen. Die stockende, stotternde Sprache, die sich mit einem Heer von Satzzeichen gegen die Laufrichtung der geläufigen Sprache stemmt, ist sein Markenzeichen. Hier agiert wie in der Dichtung Celans ein „unter dem besonderen Neigungswinkel seiner Existenz sprechendes Ich“, das gegen den verführerischen „Wohlklang“ der Poesie die Härte kristalliner Sprachpartikel setzt, zersprengte Verse, die immer wieder das einzelne Wort fühlbar machen, seine Fragwürdigkeit, seine bedrohte Wahrheitsfähigkeit ins Bild rücken. Rainer René Mueller, 1949 in Würzburg geboren, erschien 1981 auf den Bühnen des Literaturbetriebs, sein Debüt „Lieddeutsch“ wurde als Geheimtipp herumgereicht. 1983 erhielt er einen Förderpreis beim Leonce-und-Lena-Preis, kurz darauf verschwand er wieder aus der kleinen Lyrik-Öffentlichkeit. Seine Erscheinung sorgte für größere Irritationen in einem auf Kumpanei und Lässigkeit bedachten Betrieb. Er wirkte in seinem distinkten Habitus mitunter wie ein verspäteter Jünger Stefan Georges, immer im tadellosen Anzug, so unnahbar wie seine verschwiegenen Gedichte. Im Heidelberg der frühen 1980er Jahre galt er als lyrischer Solitär, der den Kontakt mit den Repräsentanten der „Neuen Subjektivität“, Autoren wie Jürgen Theobaldy, Jörg Burkhard oder Michael Buselmeier, demonstrativ vermied. Seine Gedichte erschienen von 1981 bis 1986 als Künstlerbücher, stets mit Bildender Kunst verknüpft. Von 1983 bis 1989 arbeitete er als Leiter der Städtischen Galerie in Schwäbisch Hall, anschließend als Gründungsdirektor des Neuen Kunstmuseums in Heidenheim. Nach 1994 nannte er sich als Dichter Ellis Eliescher, um nicht nur in den Gedichten, sondern auch in seinem Namen seine jüdische Identität zu markieren.
  „Ich bin über die mutterlinie jude, ich identifiziere mich nicht nur“, schreibt er im Dezember 2013 an seinen Dichterkollegen Dieter M. Gräf, der jetzt eine beeindruckende Auswahl von Mueller-Gedichten bei Urs Engelers „roughbooks“ vorgelegt hat. Die Gedichtbände der 1980er Jahre sind hier um wenige neue Texte, „Sybilleana“, ergänzt, die immer radikaler den Weg in die kryptische Chiffrierung und das Schweigen suchen. Ins Zentrum der Gedichte rückt immer wieder das Motiv faschistischer Gewalt, die barbarische Praxis der Peiniger im NS-Vernichtungslager Buchenwald, Lampenschirme aus Menschenhaut herzustellen. Die Wörter „Haut“, „Lampen“ oder „brennt“ werden in unterschiedlichsten Konstellationen aufgerufen und als starke Intensitäten in den Text gestellt. Das „Munch-Stück“ artikuliert – wie in der Bildvorlage Edvard Munchs – einen Schrei des Entsetzens. Das Gedicht zeigt die Ordnung des Terrors und zieht das grauenhafte Geschehen in wenigen fragmentierten Signalwörtern zusammen: „kyrie-heh.../eintreten Hirnen. Eins- / zweidrei / „Liegen in der Mitten“: / Lampenschein und Haut/ draufschreiben ...“
  Über extreme Verdichtung und Verknappung werden die Wörter in Spannungszustände versetzt; einzelne Wörter-Scherben bleiben zurück, die wie bedeutungsstrahlende Elementarteilchen wirken. „Sprich auch du, / sprich als letzter, / sag deinen Spruch.“ So beginnt das erwähnte Gedicht Celans – und Rainer René Mueller hat Celans Poesie weitergesprochen, auch seine Dichtung hat etwas Finales, hier spricht einer als letzter – und doch findet sein Sprechen den Weg zu einem Du. So wie im vorliegenden Gedicht, das Anfang der 1990er Jahre im Kontext des Zyklus „Aus. Polenland. Aus“ entstand. Ein Augenblick in der Morgenfrühe wird vergegenwärtigt, in dem der Schreibende seiner Vergänglichkeit gewahr wird. Im Gesang der Vögel, in ihrer Tonkunst, findet das Ich das letzte Refugium des Schönen. Ein Augenblick reinen Hörens – das „Tönen“ und die Stille fallen am Ende zusammen.

Rainer René Mueller, geboren 1949 in Würzburg, studierte Theologie, Germanistik, Französisch und Kunstgeschichte, arbeitet seit den 1970er Jahren als Schriftsteller und Kurator. Er lebt in einem Dorf in Lothringen und in Heidelberg. Das vorliegende Gedicht ist dem Auswahlband POÈMES – POÉTRA entnommen, den Dieter M. Gräf als roughbook 34 (CH-4325 Schupfart, 2015) herausgegeben hat.
Wir danken Autor und Verlag für die Wiedergabe des Gedichts im Kontext des Ge­dicht­kommentars.
 

Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht     01.03.2016




Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (1. Band)
100 deutsche Gedichte der Gegenwart,
kommentiert
Taschenbuch
360 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2011

Weitere Details   
portofrei online   

  M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (3. Band)
60 deutsche Gedichte der Gegenwart,
kommentiert
Broschiert mit farb. Vorsatz
216 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2019

Weitere Details   
portofrei online   

 


 

 

 

Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Rainer René Mueller
Liste
Gefördert vom
Deutschen Literaturfonds



  102   Brigitte Oleschinski
    
wie die Wörter auftauen
  101   Franz Josef Czernin
    
dunkel ortlos, hergezogen
  100   Johann P. Tammen
    
Ein Poet nimmt Platz
  99   Joseph Kopf
    
Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn
  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
  97   Sandra Burkhardt
    
Die Bahn einer Meeresschildkröte
  96   Ernst Blass
    
An Gladys
  95   Michael Buselmeier
    
Holzpuppe
  94   Heiner Müller
    
Traumwald
  93   Thomas Böhme
    
Neunundzwanzigster Februar
  92   Katrine von Hutten
    
Beschreibung
  91   Dieter M. Gräf
    
Nach Mattheuer
  90   Arnfrid Astel
    
Leda
  89   Michael Krüger
    
Im Winter
  88   Ralph Dutli
    
Salzzauber
  87   Christiane Heidrich
    
Today I am functional (1)
  86   Wulf Kirsten
    
die rückkehr der wölfe
  85   Maren Kames
    
Im Siel
  84   Gregor Laschen
    
Drüben, im ›Winkel von Hardt‹
  83   Christoph Wenzel
    
ländlich, der mundraum
  82   Werner Lutz
    
Ja, bin unterwegs
  81   Kenah Cusanit
    
Gottesgedicht, unberuhigt
  80   Sascha Kokot
    
sobald die Stadt ...
  79   Ror Wolf
    
Dritter unvollständiger Versuch
  78   Horst Bingel
    
Felsenmeer
  77   Tristan Marquardt
    
nachts, ich laufe nach hause
  76   Harald Gerlach
    
Gründe, linkselbisch
  75   Birgit Kreipe
    
schienen stillgelegt
  74   Hanns Cibulka
    
Böhmischer Rebstock
  73   Karin Fellner
    
Eine Zeitfalte weiter
  72   David Krause
    
Wolken
  71   Jürgen Nendza
    
An manchen Tagen
  70   Harry Oberländer
    
kurz vor der revolution
  69   Mara-Daria Cojocaru
    
Ich bin
  68   Hilde Domin
    
Antwort
  67   Elisabeth Borchers
    
Zukünftiges
  66   Günter Herburger
    
Großjean, der aus einem ...
  65   Georg Leß
    
Kondorlied
  64   Thomas Kling
    
Tessiner beinhaus. wandbild
  63   Rainer René Mueller
    
Da ist es
  62   Ernst S. Steffen
    
Man sagt
  61   Henning Ziebritzki
    
Elster
  60   Jürgen Brôcan
    
Fremde ohne Souvenir
  59   Carolin Callies
    
wackersteine im wams
  58   Friedrich Ani
    
Versehrte Verse
  57   Elke Erb
    
»Ursprüngliche Akkumulation«
  56   Uwe Kolbe
    
Heidelberg, den 14ten August
  55   Sonja vom Brocke
    
Kunde
  54   Sünje Lewejohann
    
krähen
  53   Jan Wagner
    
im brunnen
  52   Susanne Stephan
    
Frontier
  51   Silke Scheuermann
    
Uraniafalter
  50   Mirko Bonné
    
Der Zischelwind
  49   Judith Zander
    
fürs erste leb im später
  48   Andreas Rasp
    
diese steine hier
  47   Marcus Roloff
    
hl. grab, eingang wahlkapelle
  46   Clemens J. Setz
    
Motte
  45   Martina Weber
    
jetzt, da die letzten bilder verschwunden sind
  44   Paul Zech
    
Der Nebel fällt
  43   Klaus Merz
    
Expedition
  42   Christian Lehnert
    
Du bist die Aussicht  ...
  41   Àxel Sanjosé
    
Zum Abschied hell ...
  40   Ulrike Draesner
    
feld elternlos
  39   Ursula Krechel
    
Weiß wie
  38   Heinrich Detering
    
Kilchberg
  37   Hendrik Rost
    
Requiem
  36   Walle Sayer
    
Vom Flüchtigschönen
  35   Nico Bleutge
    
grauwacke
  34   Rolf Haufs
    
Kinderjuni
  33   Thomas Rosenlöcher
    
Die Hoffnungsstufen
  32   Jan Koneffke
    
Dem toten Kind in einer Oktobernacht
  31   Arne Rautenberg
    
drei amseln
  30   Oskar Loerke
    
Ans Meer
  29   Jean Krier
    
„Alles ist in den besten Anfängen“
  28   Werner Laubscher
    
Winterreise. Wintersprache
  27   Wolfgang Schlenker
    
stichwort minimieren
  26   Christoph Meckel
    
Kind
  25   Günter Grass
    
Die Vorzüge der Windhühner
  24   Jürgen Theobaldy
    
Blume mit Geruch
  23   Ann Cotten
    
Rosa Meinung
  22   Horst Samson
    
Edoms Nacht
  21   Christian Steinbacher
    
Belegte Brotzeit
  20   Bianca Döring
    
Allein
  19   Simone Kornappel
    
muxmäuschen
  18   Jörg Burkhard
    
in gauguins alten basketballschuhen
  17   Konstantin Ames
    
dreißig lenze
  16   Wilhelm Lehmann
    
Auf sommerlichem Friedhof
  15   Joachim Zünder
    
Die Finnische Bibliothek
  14   Kathrin Schmidt
    
waage, vorm wasser
verchromt, gestählt
  13   Marion Poschmann
    
latenter Ort
  12   Rainer Malkowski
    
Bist du das noch?
  11   Gerhard Falkner
    
die roten schuhe
  10   Wolfgang Hilbig
    
Pro domo et mundo
  9   Katharina Schultens
    
die möglichkeit einer verwechslung ...
  8   Michael Donhauser
     Lass rauschen Lied ...
  7   Ulrich Zieger
     an den vater von sem,
  6   Elisabeth Langgässer
     Erster Adventssonntag
  5   Levin Westermann
     wie ein fresko
  4   Dirk von Petersdorff
     Raucherecke
  3   Ulrich Koch
     Danke
  2   Steffen Popp
     Fenster zur Weltnacht
  1   Adolf Endler
     Dies Sirren
     
Neue Folge