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Günter Herburger
Großjean, der aus einem
Starkstrommast
fiel,
weil er sich töten wollte,
kommt vom Gottesacker,
den er verwaltet, herunter.

Liebende hat er noch nie gehabt,
auch keine Sittiche im Käfig.
Unten, wo er in einem Hof
aushelfen soll, dampfen
Würste in einem Kessel.
Er hasst, Fleisch zu essen,

zieht sich zur
Bunten Bentheimer,
dem gewaltigen Schwein, zurück
und lässt sich die Knie schlecken.
Sein Tinnitus donnert.

  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 66

Michael Buselmeier
Verlangen nach Wildnis



Die Welt der Dichtung Günter Herburgers ist schrill, zu Teilen hart geschnitten und dann plötzlich ganz sanft. Sie ist bunt und kindlich; scharfe Brüche ohne Übergang und lauter phantastische Alltagsgeschichten, „kleine wilde Romane“, Märchen und Wunder mit überscharfen Bildern, so freundlich wie tödlich; man kann sich an ihnen schneiden. Selbst „die zärtlichen Rüssel / der kleinen Elefanten“ lassen Schlimmes vermuten, wie auch „ein Fahrrad ohne Bremsen“ auf kommendes Unglück verweist.
  Herburger liebt groteske Geschichten über Aussteiger, Außenseiter (er ist selbst einer), Zukurzgekommene, einsame Freaks, über Störche, die in der Wildnis der Großstadt nisten oder junge Pärchen, die im Gebüsch einen „abgenagten Schädel“ mit „Vogelaugen“ entdecken, ihn hochheben, „die Lippen spitzen“ und sich anschließend überlegen, ob sie „nochmal ins Kino / mit den glucksenden Sesseln“ gehen sollen – eine grelle Schlusspointe, fast zu nah, zu sinnlich, von schmerzhafter Klarheit.
  Das hier vorgestellte Poem stammt aus Herburgers jüngstem Gedichtband „Schatz“, der Liebesgedichte im weitesten Sinn umfasst, reimlose, wie nebenbei in Strophen gebrochene Gebilde, die auf skurrile Weise und in radikalen Bildern von des Dichters Altersvitalität zeugen, auch von seiner heftigen Liebe zu den missbrauchten Tieren, zu Kindern und ihrer Welt, zur Familie. Öfter ist von der „Riesin“ die Rede, dem ewigen „abnormen Kind“, Herburgers behinderter Tochter Katrine, die in all seinen Büchern anwesend ist: „Die Riesin / will Rennradlerin werden.“
  Es fällt auf, dass der Dichter zwar ständig über „die Wirklichkeit“ schreibt (was immer das sein mag), dass er die Ereignisse auch ganz aus der Nähe wahrnimmt beziehungsweise durch Imagination erst neu erschafft, dass er jedoch nie direkt über sich, seine Gefühle und seine Lebenswelt spricht. Er selbst bleibt mehr oder weniger unsichtbar, er verbirgt sich hinter Masken, in Rollen, auch in erfundenen Biographien. Das Wort „Ich“ tritt in all seinen Texten nicht auf. Nur manchmal schimmern menschliche Süchte und Leiden wie Alkohol, Tabletten, schwarze Löcher (Depressionen) und der Tinnitus hervor.
  Auch das vorliegende Porträtgedicht berichtet lakonisch von einer behinderten, reduzierten, fragmentierten Figur und ihren grotesken Widersprüchen: Von einem Unglückswurm, der sich selbst töten wollte und nun immerhin den Totenacker verwaltet; von einem Einsamen, der beim Kochen von Würsten aushelfen soll, doch es „hasst, Fleisch zu essen“, und sich ausgerechnet zu einem „gewaltigen Schwein“ zurückzieht, um sich von ihm „die Knie schlecken“ zu lassen – ein ganz besonderer Liebesakt. Die „Bunte Bentheimer“ mit ihren „Flecken und Borsten“ spielt auch in Herburgers jüngstem, 2016 erschienenem Roman „Wildnis, singend“ eine ›körpersprachliche‹ Rolle (die Heldin Ricarda schmiegt sich an ihren Bauch, während das Schwein „ruckelt und schnauft“), wie überhaupt seltsam menschenähnliche Tiere für diesen Sohn eines Tierarztes emotional mindestens ebenso wichtig sind wie Menschen und unsere Achtung verdienen.
  Herburgers Welt ist alltäglich und exotisch zugleich, mal weltstädtisch, mal agrarisch gefärbt (das Allgäu, dem er entstammt, ist ständig dabei), auf jeden Fall sehr poetisch. Es ist Gewalt darin, Mutwillen, Witz und ausschweifende Liebe. Eine nervöse Neugier wacht über allem. Ähnlich wie in seinen Aufzeichnungen zu Marathonläufen, seinen großen und kleinen Romanen (etwa „Haitata“, 2012), seinen inspirierenden Briefen, Fotonovellen, Hörspielen, Kinderbüchern geschieht auch in diesen Gedichten das Schreckliche ganz unschuldig, wie unter Kindern und Tieren.

Günter Herburger wurde 1932 in Isny im Allgäu als Sohn eines Tierarztes geboren, er lebt nach Jahren in München wieder in Berlin. Das vorgestellte Gedicht wurde dem Band „Schatz. Liebesgedichte“, Kugelberg Verlag, Gerstetten 2015, entnommen.
Wir danken Autor und Verlag für die Wieder­gabe im Rahmen dieses Gedichtkommentars.

Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht     01.05.2016




Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (1. Band)
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Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
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