![]() |
![]() |
poeten | ![]() |
loslesen | ![]() |
gegenlesen | ![]() |
kritik | ![]() |
tendenz | ![]() |
news | ![]() |
links | ![]() |
info | ![]() |
verlag | ![]() |
poet | ![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
Christoph Wenzel
ländlich, der mundraum: die zunge und der weiche gaumen,
die dialekte ziehen sich längst aus der fläche zurück. mit einem groschen ließe sich vielleicht noch ein rostiges wort für groschen aus dem automaten ziehen, dem letzten vor der autobahn. ein grauschnäpper im blumentopf presst eine halbe volksliedstrophe aus dem kropf. ein hund schlägt an auf platt. beim zensus entdeckt man aus versehen blinde flecken. also werden seelen gezählt, schäfchen, silben auf den klingelschildern. hier schultheiß, schulte, da neumann, neander, unter ferner liefen dann: bachum, tacken, balachesen
Michael Braun
In seinem Gedichtband „morsch“ (1996), ließ der große Sprachekstatiker Thomas Kling seine poetische Weltreise mit dem Zyklus „Manhattan Mundraum“ beginnen. Ein Zyklus, in dem die landschaftliche Formation der Stadt zum einen mit Granitgestein, zum andern mit den Körperteilen Mundhöhle und Zunge in Verbindung gebracht wird. Die Welt, lateinisch „mundus“, siedelt bei Kling im „Mundraum“, als veränderbare Materie, als eine geschmolzene und wieder aufgeschmolzene Substanz. Die Stadt erscheint als organischer Körper, als Naturmacht, deren Atem in eine sinnliche Sprachgestalt transformiert wird. Der in Aachen lebende Lyriker Christoph Wenzel liefert im vorliegenden Gedicht ein ländliches Gegenstück zu Klings „Mundraum“-Phantasie. Bei ihm wird ein Provinzflecken als „Mundraum“ qualifiziert - und das Gedicht durchstreift die Reste einer Sprachlandschaft: Idiome, dialektale Splitter und versprengte Wörter aus einem spezifischen Rotwelsch aus der westfälischen Kindheitsgegend des Autors. Bei Thomas Kling widerfahren der „Stadtzunge“ eigentümliche Deformationen – im ländlichen „Mundraum“ Christoph Wenzels werden Verluste von Sprachkulturen bilanziert. Wenzel ist ein Autor, der in kulturarchäologischer Absicht die Naturstoffe und Materien eines landschaftlichen Raumes erkundet. In seinem Gedichtband „lidschluss“ (Edition korrespondenzen, 2015) sind es die Geisterdörfer des rheinischen Braunkohlereviers und die „geographischen Flecken“ Westfalens, die Gefährdungen und Zerstörungen von vertrauten Landschaften und Lebenswelten, die im Zentrum der Texte stehen. Der 1979 im westfälischen Hamm geborene Wenzel ist aber mehr als nur ein Landschaftsdichter seiner Herkunftswelt. Er registriert in seinem Gedicht seismographisch die Erschütterungen, die sich in den alltäglichen Sprechakten vollziehen, etwa die Erosion der Dialekte. Das lyrische Subjekt reagiert darauf aber nicht mit nostalgischer Beschwörung des Vergangenen, sondern mit ironischer, mitunter kühler Kommentierung der verschwundenen Redeweisen und Wörter. Für den „Groschen“ stehen zum Beispiel nur noch Surrogate bereit - und auch die großen Traditionen der Dichtkunst werden hier als vermisst gemeldet, die „Volksliedstrophe“ lebt allenfalls im Gesang eines Vogels fort. Der Reichtum der Sprache scheint hier nur noch in der Tierwelt präsent zu sein, der hier aufgerufene Landstrich ist in buchstäblichem Sinn eine verlassene Gegend. Das Verschwinden kultureller Phänomene wird in der sozialen Praxis nur noch in bürokratischen Akten wie der Volkszählung registriert. Das Gedicht bedient sich in seiner trocken-ironischen Sprechhaltung eines statistischen Gestus, indem es die untergegangenen Namen verzeichnet, die einst mit dem Beruf der Personen verbunden waren. Der „Schultheiß“ firmierte seit dem frühen Mittelalter auf den Dörfern als Gemeindevorsteher, dem auch die Funktion der richterlichen Obrigkeit oblag. Im Verlauf des Gedichts realisiert Wenzel immer mehr das Programm des späten Günter Eich, der sich etwa in seinem Gedicht „17 Formeln“ (1964) hinter kryptische Fügungen und rätselhafte Wortverbindungen zurückzog. Bei Wenzel stehen am Ende drei Fundstücke aus dem Glossar des Rotwelsch-Lexikons. Bachum, einem kleinen Ort aus dem Hochsauerlandkreis, werden zwei Wörter zugeordnet, die mit pekuniären Angelegenheiten zu tun haben: „Balachesen“ und „Tacken“, zwei Synonyma für Geld. Auf ganz unaufdringliche Weise werden in Wenzels Gedicht die elementaren Prozesse des Gedichteschreibens benannt: Es werden „silben gezählt“, eingebettet in eine schöne Kombinatorik seltener Wörter.
Christoph Wenzel,geboren 1979 in Hamm, studierte Germanistik und Anglistik an der RWTH Aachen und wurde dort promoviert. Er ist Mitbegründer der Literaturzeitschrift [SIC], im Rimbaud Verlag erschien 2005 sein Erstling „zeit aus der karte“. Für seine Gedichte erhielt er verschiedene literarische Auszeichnungen, u.a. den Förderpreis des Landes NRW. 2015 erschien der Band lidschluss (Edition Korrespondenzen). Das vorliegende Gedicht erschien zuerst im Poetenladen, danach im Jahrbuch der Lyrik 2018 (Hrsg. v. Nico Bleutge/Christoph Buchwald. Schöffling & Co., Frankfurt a.M. 2018) Druckansicht
|
![]() |
Gedichte, kommentiert
|
|
poetenladen | Blumenstraße 25 | 04155 Leipzig | Germany
|
virtueller raum für dichtung
|
![]() |