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Gerhard Falkner
die roten schuhe

fremd bin ich aufgewacht und früh
der stecker steckte noch
eine frau, kleiner als ein pferd
reichte mir einen apfel auf englisch:
apple, she said
willst du nicht beißen
doch wer sind die roten schuhe
the red shoes
dort auf seiner saueren seite
blutig steigen sie den apfel herab
ach ich muß sterben und habe
noch gar nicht gefrühstückt


  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 11

Michael Braun
Wehmut und Ironie


Im Augenblick des Erwachens befinden wir uns noch im fluiden Bereich zwischen Traum und Wach­bewusst­sein. So auch das von Schwermut angenagte Ich im Gedicht Gerhard Falkners. Von ferne weht zunächst der ele­gische Ton des roman­tischen Wan­derers heran, der in Wilhelm Müllers „Winter­reise“ zu einem Irrgang in die Kälte aufbricht. „Fremd bin ich einge­zogen, /fremd zieh ich wieder aus“: Dieser liedhafte Sehn­suchts­ton über­lagert sich hier mit der bei­seite gesprochenen Auf­listung von Alltags­realien und der Evo­kation alter und neuer Märchen und Mythen.

Dieser Dichter inszeniert immer wieder die ästhetische Kollision klassisch-lyrischer Ver­zauberungs­strate­gien mit Vokabeln der Ironie und der Ernüch­terung. Die Traum­split­ter trans­portieren überscharf gesehene Details, isolierte Gegenstände aus den Symboliken der Poesie und des Märchens: rote Schuhe, ein Apfel, ein sur­reales Geschehen mit bluti­gem Ausgang.

Falkner mischt die Diskurse und metaphorischen Register so kunstfertig, dass ein reizvoller Zusammenklang von hohem Ton und lässi­ger Beiläu­figkeit entsteht. Das Gedicht „die roten schuhe“ zitiert nicht nur romantische Wehmut, sondern auch alte Märchenstoffe und zeit­genös­sische Trivialmythen: ein Märchen von Hans Christian Andersen, einen Ballett-Film, Versatz­stücke der Pop-Kultur. In Andersens Märchen wird dem armen Mädchen Karen eine obses­sive Vorliebe für rote Schuhe zum Verhängnis. Nachdem sie unschick­licher­weise in der Kirche getragen worden sind, ver­selbs­tändigen sich die roten Schuhe, werden zum handeln­den Subjekt und zwingen Karen zu immerwährender Bewegung und dauer­haftem Tanz. Und selbst nach der blutigen Ampu­tation der Füße setzen die roten Schuhe ihren Tanz fort.

Gerhard Falkner, der bereits mit seinen frühen Gedichten ein Sen­sorium für opulente Bilder und meta­phorische Über­raschungen bewies, kombiniert hier die unheimlichen Bilder des Märchens mit anderen Motiv­spuren und poten­ziert die gefähr­lichen Ver­lockungen. Denn Falkner hat nicht nur die Schuhe aus Andersens Märchen, sondern auch die „red shoes“ und „blue suede shoes“ der Popkultur und nicht zuletzt den bibli­schen Paradies-Apfel Evas in sein poetisches Diarium der Verführungen eingeflochten. Romantische Sprach­gebärden verbin­den sich mit locker geflochtenen Pop-Sentenzen („apple, she said“) und sur­realis­tischem Witz. Dazu werden englische Rede­frag­mente eingestreut, die dem Text eine unpathe­tische Lapidarität geben. In den beiden Schluss­zeilen kollidiert Pathos mit Komik: Auf einen Vers im hohen Stil („ach ich muss sterben“), der den nahen Tod imaginiert, folgt eine eher schlichte Alltagsnotiz.

Das Gedicht stammt aus dem Band „wemut“, mit dem sich Falkner 1989 von dem aus seiner Sicht maroden litera­rischen Betrieb verab­schieden wollte. Seine ästhetische Ein­bil­dungs­kraft hat er jedoch zum Glück nicht still­stel­len können. Die selbst auferlegte poeti­sche Mangel­wirtschaft durchbrach er 1996 mit dem Auswahl­band „X-te Person Ein­zahl“ – und neuen kühnen Gedichten. Die Lust an der ästhe­tische Konfron­tation des Gegen­sätzlichen – Verzau­berung und Ent­zau­berung, hoher Ton und coole Werbe­formel, Gesang und Gegen­gesang – hat seither alle lyri­schen Projekte Falkners bestimmt, bis hin zum preis­gekrönten Band „Hölderlin Reparatur“ (2009).

Gerhard Falkner, geboren 1951 in Schwabach/Bayern, debütierte 1981 mit dem Band „so beginnen am körper die tage“ und veröffentlichte zuletzt das preisgekrönte Lyrikbuch „Hölderlin Reparatur“ (2008) und den Dialektband „Kanne Blumma“ (2010). Falkner lebt in Weigendorf und Berlin.





Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
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08.11.2011



 

Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Gerhard Falkner
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  102   Brigitte Oleschinski
    
wie die Wörter auftauen
  101   Franz Josef Czernin
    
dunkel ortlos, hergezogen
  100   Johann P. Tammen
    
Ein Poet nimmt Platz
  99   Joseph Kopf
    
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  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
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Die Bahn einer Meeresschildkröte
  96   Ernst Blass
    
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  95   Michael Buselmeier
    
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  94   Heiner Müller
    
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Neunundzwanzigster Februar
  92   Katrine von Hutten
    
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  90   Arnfrid Astel
    
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Im Siel
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Drüben, im ›Winkel von Hardt‹
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Gottesgedicht, unberuhigt
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Dritter unvollständiger Versuch
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Felsenmeer
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nachts, ich laufe nach hause
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Gründe, linkselbisch
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Böhmischer Rebstock
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Fremde ohne Souvenir
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Versehrte Verse
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Zum Abschied hell ...
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Vom Flüchtigschönen
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grauwacke
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drei amseln
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„Alles ist in den besten Anfängen“
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Blume mit Geruch
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Rosa Meinung
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Edoms Nacht
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Belegte Brotzeit
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waage, vorm wasser
verchromt, gestählt
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  11   Gerhard Falkner
    
die roten schuhe
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Pro domo et mundo
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  5   Levin Westermann
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