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Heiner Müller
Traumwald

Heut nacht durchschritt ich einen Wald im Traum
Er war voll Grauen Nach dem Alphabet
Mit leeren Augen die kein Blick versteht
Standen die Tiere zwischen Baum und Baum
Vom Frost in Stein gehaun Aus dem Spalier
Der Fichten mir entgegen durch den Schnee
Trat klirrend träum ich seh ich was ich seh
Ein Kind in Rüstung Harnisch und Visier
Im Arm die Lanze Deren Spitze blinkt
Im Fichtendunkel das die Sonne trinkt
Die letzte Tagesspur ein goldener Strich
Hinter dem Traumwald der zum Sterben winkt
Und in dem Lidschlag zwischen Stoß und Stich
Sah mein Gesicht mich an: das Kind war ich.


  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 94

Michael Buselmeier
Schmerzensmann


Das mir, seit ich es kenne und schrittweise verstehe, immer näher rückende Gedicht „Traumwald“ habe ich nicht unter Heiner Müllers Gesammelten Gedichten entdeckt, sondern zunächst im zweiten und letzten Band der Gespräche, die Alexander Kluge mit Müller geführt hat. „Ich bin ein Landvermesser“ lautet der Buchtitel. Das Gespräch wurde am 9. Oktober 1995 in RTL gesendet, zweieinhalb Monate vor Müllers Tod. Das Gedicht selbst erschien bereits am 9. Januar 1995 im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
  „Traumwald“ spricht leise und eindringlich vom Sterben. Heiner Müller hat die Verse 1994 unmittelbar nach einer komplizierten Krebsoperation, bei welcher ihm die Speiseröhre entfernt wurde, auf der Intensivstation zu Papier gebracht – ein Gebilde aus „klirrenden“ Krankheitsbildern. Es ist, metrisch exakt gefasst, ein Sonett, was bei Müller eher selten vorkommt. Wenn man dem Reimschema folgt, ergeben sich zwei vierzeilige und zwei dreizeilige Strophen. Strenge Formen, lehrt Müller, dichte lyrische Texte, helfen gegen die Schmerzen. Das wusste auch der nierenleidende Formkünstler und Dante-Nachdichter Stefan George schon. Beim Feilen an der Sprache und beim genauen Lesen vergisst man für ein paar Minuten die Krankheit.
  Auffallend sind die literarischen Bezüge, die das angeblich spontan im Krankenhaus entstandene Gedicht offenbart. Da ist einmal das „Kind in Rüstung Harnisch und Visier“, das der Gesprächspartner Alexander Kluge sofort als Richard Wagners der Mutter entlaufenen Sohn Parsifal identifiziert, während Müller vorsichtig einwendet, „ich wusste das nicht, als ich es geschrieben habe.“ Freilich ist das „Kind“ bei Wagner nur unzureichend mit Pfeil und Bogen ausgerüstet; von Lanze, „Harnisch und Visier“ noch keine Spur. Müllers Verhältnis zu Wagner und seiner Musik war eng, spätestens seit er 1993 in Bayreuth „Tristan und Isolde“ statuarisch in Szene gesetzt hatte.
  Der von Parsifal im heiligen Bezirk des Grals getötete Schwan singt in Müllers „Traumwald“-Version unsichtbar hinter den Kulissen. Dafür gerät „das Kind“ bei beiden Autoren zum Todesboten: „Der reine Tor“, klagt der an einer nie sich schließenden Wunde leidende Gralskönig Amfortas – „Dürft ich den Tod ihn nennen!“ Und der dem Ende nahe Heiner Müller erkennt hinter „dem Traumwald der zum Sterben winkt“ den Doppelgänger, sein eigenes „Gesicht“: „das Kind war ich.“ Anfang und Ende berühren sich hier.
  Zu Beginn des Gedichts wird zwischen den Zeilen auf Dantes „Göttliche Komödie“ angespielt, genauer: auf den berühmte Beginn des ersten Gesangs aus dem „Inferno“ mit den fünffüßig voranschreitenden Jamben: „Es war in unseres Lebensweges Mitte, / Als ich mich fand in einem dunklen Walde, / Denn abgeirrt war ich vom rechten Weg ...“ – so heißt es in Karl Wittes Übertragung. In beiden Fällen ist der Wald „voll Grauen“, auch wegen der „Tiere“, die „mit leeren Augen“ im „Spalier der Fichten“ auftauchen und dem einsamen Wanderer bedrohlich „entgegen“ treten. Doch während in Dantes großem Poem Vergil als „von oben“, vom Paradies direkt auserwählter Retter erscheint, gibt es für Heiner Müllers Schmerzensmann eigentlich keinen Ausweg.
  Einen plausiblen Grund für seine tödliche Erkrankung glaubte Müller weniger im steten Zigarrenrauchen und Whiskytrinken als darin erkannt zu haben, „dass ich seit Jahren keine Möglichkeit gesehen habe, ein Stück zu schreiben.“ Es sei für ihn „eine Lebensfunktion, Stücke zu schreiben, und wenn das aussetzt, fehlt irgendwas, fehlt die Motivation.“ Die Gedichte des Spätwerks, so reich und ergreifend sie, wie im vorliegenden Beispiel, auch sind, konnten den Verlust offenbar nicht ausgleichen. Die in ihrem Kern lyrischen Stücke werden selbst – so mein Eindruck – auf deutschen Bühnen kaum noch aufgeführt. Daraus könnte sich eine neue Blütezeit der Gedichte ergeben.

Heiner Müller einer der wichtigsten deutschen Theatermacher in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wurde 1929 in Eppendorf in Sachsen geboren. Er war längere Zeit Autor, Dramaturg, zuletzt auch Intendant des Berliner Ensembles. Er starb am 30. Dezember 1995 in Berlin. Das vorgestellte Gedicht stammt aus: Heiner Müller, Werke Band 1. Die Gedichte; Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998.

Copyright: Heiner Müller, Werke. Herausgegeben von Frank Hörnigk, Band 1: Die Gedichte. © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1998. Alle Rechte bei und vorbehalten durch den Suhrkamp Verlag Berlin.

Kommentar, 01.10.2018




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