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Johann P. Tammen
Ein Poet nimmt Platz

Hierher verschlug es ihn   wissentlich
beschwingt wendet er Folianten
rittlings auf einem Schecken
pumpt er sich kurzatmig auf   tags drauf
lässt er sich bunte Röcke schneidern
verzichtet auf freundliche Grüße 
und wohlmeinenden Rat   himmel
wärts zerbröckelt der Fleiß

hier erobert er Schneckenhäuser
hobelt den Globus zum Quadrat
   normalisiert sich seine Herz
   und Lungentätigkeit   zettelt
      er die Brandstiftung siebzehn
      vergilbender Papierschiffchen an

hier gebar er den Schlüssel
zum Nabel der Welt   und blieb
darauf sitzen   hier häkelt er Damen
träume   lässt Himmel und Hölle
verschweißen   kämmt sich sein Haar
und weiß: nebenan beobachtet man ihn
auf seinem illuminierten Katafalk
seinem Westentaschenplateau

fröhlich steigt er herab   nimmt Platz
der Tisch ist prunkvoll gedeckt
   die Herren aus Detroit   die Herren Staats
   sekretäre   die Damen aus den Salons
      verneigen sich   applaudieren:
      warum sollte er undankbar sein.

  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 100

Michael Buselmeier

Einem Kasperlespiel entlaufen

Genau zum 75. Geburtstag des Dichters Johann Peter Tammen ist unter dem Titel „Stock und Laterne“ eine umfangreiche Auswahl aus seinem poetischen Werk im Wallstein Verlag erschienen, nicht chronologisch, sondern nach Themenbereichen und inneren Korrespondenzen geordnet. Eine Lebensleistung wird sichtbar, der man als Kommentator eines Gedichts nur schwer gerecht zu werden vermag. Das Buch versammelt schöne und dunkel gefärbte Verse über Licht und Schatten am Meer, über das „Greifen von Aalen“, dichte Bilder bäuerlicher Arbeit; dem Flechtwerk der Pflanzen entspricht das der Sprache. Manche Gedichte spielen „im Uferschilf am dorfnahen Priel“, am alten Deich, in Meeresnähe. Im „Wörterglück“, im „Wörterfluss“.
  In einem friesischen Dorf namens Hohenkirchen ist Tammen gleichsam zwischen Schafen, Kühen und Pferden als halber Außenseiter aufgewachsen, schon weil er Bücher las, unter einfachen, schweigsamen Menschen, die so etwas nicht taten. Hier war er lange ein „Sesshafter“, bevor er zum Studium der Germanistik und der Geschichte nach Oldenburg aufbrach und sich schließlich als freier Schriftsteller und Redakteur der Zeitschrift „die horen“ in Bremerhaven niederließ. So ist es bestimmt kein Zufall, dass er im Norden Deutschlands mehr Anerkennung erfahren hat als im übrigen Land, obwohl er für etliche Jahre auch im südpfälzischen Edenkoben als Mitinitiator der europäischen Übersetzer-Reihe „Poesie der Nachbarn“ wirkte.
  Auch das hier vorgestellte, regelmäßig gebaute Gedicht „Ein Poet nimmt Platz“ eröffnet den Geburtstagsband bestimmt nicht zufällig. Wer Tammen nur ein wenig kennt, bemerkt sofort, dass es sich um kein wie immer verschlüsseltes (Selbst-)Porträt handelt. Eine Kunstfigur, die möglicherweise nur träumt, auf dem „Nabel der Welt“ und damit im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, wird dem satirischen Blick ausgesetzt. Sie könnte einem phantastischen Lustspiel oder dem Kasperletheater entlaufen sein, wo große Gesten vorherrschen. Leben die wahren Poeten nicht in Luftschlössern, Baumhäusern oder mitten im feindlichen Laubgestöber als eine Art Don Quixote? Auf diese Weise behaupten sie ihren Platz, ja ihren angestammten Thron in den Wirren des Lebens, weniger als Träumer denn als Artisten, und sind gleichzeitig zu jeder Anpassung bereit, nur um dabei zu sein beim öffentlichen Wurstschnappen.
  Dieser Poet ist kein besonders angenehmer Zeitgenosse, eher ein „kurzatmiges“ Großmaul, das sich aufpumpt und ostentativ in Folianten blättert, eitel in „bunte Röcke“ kleidet, ein partiell unfreundlicher, aber harmloser Gesell, der lächerlicherweise Schneckenhäuser „erobert“, Brandstiftung an „Papierschiffchen“ verübt und „Damenträume“ häkelt. Fühlt er sich beobachtet, steigt er von seinem „illuminierten Katafalk“ fröhlich herab und „nimmt Platz“ unter den herrschenden Figuren aus Wirtschaft, Staat und Salon, die ihm „applaudieren“ und ihn umschmeicheln, ein Verhalten, das im Kulturbetrieb nicht gerade selten anzutreffen ist. Seltsam nur, dass er nicht von einem Denkmalsockel, sondern von einem „Katafalk“ heruntersteigt, der gemeinhin der Aufbahrung von Toten dient.
  Vielleicht will Tammen so auch nur die zum 75. Geburtstag zu erwartenden Ehrungen satirisch-kritisch unterlaufen, sich totstellen oder sich erfolgreich in die Büsche schlagen. Er weiß ja: „Die großen Hoffnungen“, Revolutionen etwa oder andere Glückserwartungen, werden im realen Leben meist enttäuscht. Es kommt auf die kleinen Dinge des Alltags an, den beinah stündlichen Widerstand: „Du wirst aufstehn / dich waschen / vor die Tür treten / tief Luft holen und Schritt für Schritt / dich entfernen.“

Johann P. Tammen wurde im Februar 1944 in einem friesischen Dorf geboren. Er studierte an der Universität in Oldenburg. Seit 1969 war er Redakteur der Zeitschrift „die horen“, von 1994 bis 2011 auch deren Herausgeber. Seit 1980 gab er die Buchreihe „edition die horen“ heraus. Das vorgestellte Gedicht stammt aus dem Band „Stock und Laterne“. Ausgewählte Gedichte 1969–2019, Wallstein Verlag, Göttingen 2019. Es stand ursprünglich in dem frühen Gedichtband „Kopf hoch kalte Wut“ von 1979. Parallel ist 2019 unter dem Titel „Wind und Windporzellan“ ein Band mit Nachdichtungen erschienen.
Wir danken Autor und Verlag für die Wiedergabe im Kontext des Kommentars.

Kommentar, 01.04.2019




Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (1. Band)
100 deutsche Gedichte der Gegenwart,
kommentiert
Taschenbuch
360 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2011

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  M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (3. Band)
60 deutsche Gedichte der Gegenwart,
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Broschiert mit farb. Vorsatz
216 Seiten, 18.80 Euro
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Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Johann P. Tammen
Liste
Gefördert vom
Deutschen Literaturfonds



  102   Brigitte Oleschinski
    
wie die Wörter auftauen
  101   Franz Josef Czernin
    
dunkel ortlos, hergezogen
  100   Johann P. Tammen
    
Ein Poet nimmt Platz
  99   Joseph Kopf
    
Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn
  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
  97   Sandra Burkhardt
    
Die Bahn einer Meeresschildkröte
  96   Ernst Blass
    
An Gladys
  95   Michael Buselmeier
    
Holzpuppe
  94   Heiner Müller
    
Traumwald
  93   Thomas Böhme
    
Neunundzwanzigster Februar
  92   Katrine von Hutten
    
Beschreibung
  91   Dieter M. Gräf
    
Nach Mattheuer
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  72   David Krause
    
Wolken
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An manchen Tagen
  70   Harry Oberländer
    
kurz vor der revolution
  69   Mara-Daria Cojocaru
    
Ich bin
  68   Hilde Domin
    
Antwort
  67   Elisabeth Borchers
    
Zukünftiges
  66   Günter Herburger
    
Großjean, der aus einem ...
  65   Georg Leß
    
Kondorlied
  64   Thomas Kling
    
Tessiner beinhaus. wandbild
  63   Rainer René Mueller
    
Da ist es
  62   Ernst S. Steffen
    
Man sagt
  61   Henning Ziebritzki
    
Elster
  60   Jürgen Brôcan
    
Fremde ohne Souvenir
  59   Carolin Callies
    
wackersteine im wams
  58   Friedrich Ani
    
Versehrte Verse
  57   Elke Erb
    
»Ursprüngliche Akkumulation«
  56   Uwe Kolbe
    
Heidelberg, den 14ten August
  55   Sonja vom Brocke
    
Kunde
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krähen
  53   Jan Wagner
    
im brunnen
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Frontier
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Uraniafalter
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Der Zischelwind
  49   Judith Zander
    
fürs erste leb im später
  48   Andreas Rasp
    
diese steine hier
  47   Marcus Roloff
    
hl. grab, eingang wahlkapelle
  46   Clemens J. Setz
    
Motte
  45   Martina Weber
    
jetzt, da die letzten bilder verschwunden sind
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Der Nebel fällt
  43   Klaus Merz
    
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  42   Christian Lehnert
    
Du bist die Aussicht  ...
  41   Àxel Sanjosé
    
Zum Abschied hell ...
  40   Ulrike Draesner
    
feld elternlos
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Weiß wie
  38   Heinrich Detering
    
Kilchberg
  37   Hendrik Rost
    
Requiem
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Vom Flüchtigschönen
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grauwacke
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Kinderjuni
  33   Thomas Rosenlöcher
    
Die Hoffnungsstufen
  32   Jan Koneffke
    
Dem toten Kind in einer Oktobernacht
  31   Arne Rautenberg
    
drei amseln
  30   Oskar Loerke
    
Ans Meer
  29   Jean Krier
    
„Alles ist in den besten Anfängen“
  28   Werner Laubscher
    
Winterreise. Wintersprache
  27   Wolfgang Schlenker
    
stichwort minimieren
  26   Christoph Meckel
    
Kind
  25   Günter Grass
    
Die Vorzüge der Windhühner
  24   Jürgen Theobaldy
    
Blume mit Geruch
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Edoms Nacht
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Belegte Brotzeit
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Allein
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muxmäuschen
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verchromt, gestählt
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     Lass rauschen Lied ...
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     an den vater von sem,
  6   Elisabeth Langgässer
     Erster Adventssonntag
  5   Levin Westermann
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  4   Dirk von Petersdorff
     Raucherecke
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  2   Steffen Popp
     Fenster zur Weltnacht
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