"Sie wissen, dass sich dort draußen kein Mensch für Literatur interessiert und sie die letzten Verbliebenen Hüter einer glorreichen, in die Krise geratenen Tradition sind."
Man liest Bücher, um etwas über sich selbst in Erfahrung zu bringen. Ein Buch, in dem das nicht zur Disposition steht, taugt nichts. Nun ist es die Lateinamerikanische Literatur ganz allgemein, in der man vor allem etwas über Zerrissenheit lernen kann. Die Europäer - allen voran die Französische und Englische Literatur waren dem Kontinent literarischer Kulturbringer. Heute, da es in Europa keine nennenswerte Kultur mehr gibt, wendet man sich - wie auch hierzulande - Amerika zu. Die beiden Amerikas sind von oben bis unten mit Zerrissenheit und Kunst voll, Europa ist nur noch ein Relikt der Vergangenheit.
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Ricardo Piglia |
Das alles hat erst einmal gar nichts mit Ricardo Piglias Roman zu tun, der im Original "El camino de Ida", also etwa: Idas Weg lautet. Es war sein letzter Roman, Piglia starb im Januar dieses Jahres in Buenos Aires, nachdem er über zwanzig Jahre in den USA gelebt hatte. Es bleibt nicht aus, das dieser Aufenthalt ebenso abfärbte wie bei den früheren Autoren, die bevorzugt in Frankreich lebten (bei Borges waren es die Schweiz und Spanien). In der Post-Borges-Ära war Piglia der berühmteste Argentinier.
In MUNK erfahren wir viel über die Literatur selbst, was nicht verwundert, denn der Autor lehrte, wie sein Protagonist auch, als Professor Literatur. Wie schon Borges, Cortázar und Roberto Bolaño liebte auch Piglia seinen literarischen Fundus und schrieb ihn hier Emilio Renzi auf den Leib, der von Buenos Aires nach New York geht, um an der elitären Taylor Universität ein Seminar über W.H. Hudson zu leiten, den seinerzeit Joseph Conrad sehr bewundert hatte.
Eines Tages wird die hochintelligente Professorin Ida, mit der Renzi eine geheime Affaire beginnt, das Opfer eines Mordes. Das FBI ermittelt und zunächst wird der Fall zu den Akten gelegt, weil er wie ein Unfall aussieht. War es wirklich ein Unfall? Das FBI vermutet, dass sie durchaus auch eine Komplizin des Briefbombers gewesen sein könnte. Und hier kommt eigentlich der Titel ins Spiel (sic!), denn "Ida" bedeutet "Weg ohne Wiederkehr".
Piglia lässt Renzi zunächst in den Keller der Paranoia hinunter, denn freilich ist er zunächst einmal verdächtig und lernt die Gemeinsamkeiten der Argentinischen Junta und der Amerikanischen Ermittler kennen.
Viele der herausragenden Lateinamerikanischen Bücher bieten diesen doppelten Boden einer ungewissen Realität. Damit spiele ich auf den Magischen Realismus an, der ohnehin eine Erfindung westlichen Marketings war. Tatsächlich aber ist das Kafkaeske allgegenwärtig. Hier in Form des Dekans D'Amato, dem ausgesprochenen Melville-Kenner, der sich einen lebenden Weißen Hai im Keller hält. Oder die Vorstellung, dass Finnegans Wake gerne von Philosophen und Mathematikern gelesen wird. Mathematiker seien affektierte, gelangweilte Menschen, deren Kreativität meist vor dem fünfundzwanzigsten Lebensjahr versiegt. Die meiste Zeit vertreiben sie sich mit der Lektüre von Joyce.
Der Unabomber
Es ist etwas Merkwürdig, dass die teuerste und aufwendigste Verbrecherjagd in der Geschichte der USA heute etwas in Vergessenheit geraten ist. Gemeint ist der Fall Ted Kaczynski, einem der genialsten Mathematiker seiner Zeit. Verwiesen sei hier auf die Dokumentation von Lutz Dammbeck.
Das Besondere an Piglias Buch (bei ihm heißt der Bomber "Munk") ist jedoch nicht das Umweben dieser Geschichte, sondern die explosive Sprengkraft der Literatur, die wohl nur deshalb unterschätzt wird, weil sie die meisten Menschen entweder als Mainstream-Unterhaltung oder als intellektuelles Konstrukt vergangener Tage interpretieren, wohl gerade, weil kaum mehr ersichtlich ist, dass Sprache das einzige ist, was uns wirklich von Tieren unterscheidet. Im Guten wie im Schlechten, der Mensch und seine Umwelt ist nur das Konstrukt seiner Sprache; wo seine Sprache endet, endet sein Horizont.
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