Fix Zone

Gehirne

Redaktion: 

Harald Haeuser - Gehirne IV

»Rönne, ein junger Arzt, der früher viel seziert hatte, fuhr durch Süddeutschland dem Norden zu. Er hatte die letzten Monate tatenlos verbracht; er war zwei Jahre lang an einem pathologischen Institut angestellt gewesen, das bedeutet, es waren ungefähr zweitausend Leichen ohne Besinnen durch seine Hände gegangen, und das hatte ihn in einer merkwürdigen und ungeklärten Weise erschöpft. Jetzt saß er auf einem Eckplatz und sah in die Fahrt: es geht also durch Weinland, besprach er sich, ziemlich flaches, vorbei an Scharlachfeldern, die rauchen von Mohn. Es ist nicht allzu heiß; ein Blau flutet durch den Himmel, feucht und aufgeweht von Ufern; an Rosen ist jedes Haus gelehnt, und manches ganz versunken. Ich will mir ein Buch kaufen und einen Stift; ich will mir jetzt möglichst vieles aufschreiben, damit nicht alles so herunterfließt. So viele Jahre lebte ich, und alles ist versunken. Als ich anfing, blieb es bei mir? Ich weiß es nicht mehr.«

«Rönne aber sagte: sehen Sie, in diesen meinen Händen hielt ich sie, hundert oder auch tausend Stück; manche waren weich, manche waren hart, alle sehr zerfließlich; Männer, Weiber, mürbe und voll Blut. Nun halte ich immer mein eigenes in meinen Händen und muß immer darnach forschen, was mit mir möglich sei. Wenn die Geburtszange hier ein bißchen tiefer in die Schläfe gedrückt hätte …? Wenn man mich immer über eine bestimmte Stelle des Kopfes geschlagen hätte …? Was ist es denn mit den Gehirnen? Ich wollte immer auffliegen wie ein Vogel aus der Schlucht; nun lebe ich außen im Kristall. Aber nun geben Sie mir bitte den Weg frei, ich schwinge wieder – ich war so müde – auf Flügeln geht dieser Gang – mit meinem blauen Anemonenschwert – in Mittagsturz des Lichts – in Trümmern des Südens – in zerfallendem Gewölk – Zerstäubungen der Stirne – Entschweifungen der Schläfe.«

Wiederaufgelegt bei Moloko plus: der Novellenband „Gehirne“ von Gottfried Benn. Mit 24 Illustrationen von Harald Häuser.

„Harald Häusers Zeichnungen sind vom sogenannten „automatischen Schreiben“ beeinflusst. Dabei wird versucht, das Unbewusste den Stift führen zu lassen. Dazu muss man ihn aber der Gestaltungsabsicht des Bewusstseins entreißen. Ein Mittel hierzu ist Schnelligkeit – die Hand versucht, schneller zu zeichnen als das Bewusstsein die Bewegung steuern kann; entsprechend erregt wirken die Ergebnisse, etwa bei Henri Michaux. Das Bewusstsein wird so wohl nicht gänzlich ausgeschaltet, aber vielleicht lässt sich das Unbewusste so doch an die Oberfläche holen, wo es sich mit dem Bewusstsein verbindet. Was in Rönnes Gehirn unkontrolliert zusammenfließt, wäre so von der Kunst bewusst herbeigeführt – und von Harald Häuser als Zeichnung zu Papier gebracht. Ließen sich solche Zeichnungen restlos entschlüsseln, wären sie zu kurz gesprungen. Harald Häuser hat schon vor Jahren zu einer Zeichenschrift gefunden, die halb wie geschriebene Buchstaben wirkt, halb wie eine freie Zeichnung. In der Wechselwirkung entstehen Hieroglyphen, davor gefeit, sich ganz in der Verständlichkeit aufzulösen.“ schreibt Harald Ruppert im Südkurier. Nachzulesen hier, woselbst auch einige Illustrationen abgebildet sind.

 

Mehr aus der Fix Zone



Dezember 2013



November 2013