Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop

e   Marlboro. Prosastücke, Postskriptum Hannover 1981   Die Verwirrung des Gemüts. Roman, List München 1983    Die blutige Trauer des Buchhalters Michael Dolfinger. Lamento/Roman, Herodot Göttingen 1986; Ausgabe Zweiter Hand: Dielmann 2000   Die Orgelpfeifen von Flandern, Novelle, Dielmann Frankfurtmain 1993, dtv München 2001   Wolpertinger oder Das Blau. Roman, Dielmann Frankfurtmain 1993, dtv München 2000   Eine Sizilische Reise, Fantastischer Bericht, Diemann Frankfurtmain 1995, dtv München 1997   Der Arndt-Komplex. Novellen, Rowohlt Reinbek b. Hamburg 1997   Thetis. Anderswelt. Fantastischer Roman, Rowohlt Reinbek b. Hamburg 1998 (Erster Band der Anderswelt-Trilogie)   In New York. Manhattan Roman, Schöffling Frankfurtmain 2000   Buenos Aires. Anderswelt. Kybernetischer Roman, Berlin Verlag Berlin 2001 (Zweiter Band der Anderswelt-Trilogie)   Inzest oder Die Entstehung der Welt. Der Anfang eines Romanes in Briefen, zus. mit Barbara Bongartz, Schreibheft Essen 2002   Meere. Roman, Marebuch Hamburg 2003 (Verbotene Fassung)   Die Illusion ist das Fleisch auf den Dingen. Poetische Features, Elfenbein Berlin 2004   Die Niedertracht der Musik. Dreizehn Erzählungen, tisch7 Köln 2005   Dem Nahsten Orient/Très Proche Orient. Liebesgedichte, deutsch und französisch, Dielmann Frankfurtmain 2007    Meere. Roman, Letzte Fassung. Gesamtabdruck bei Volltext, Wien 2007.

Meere. Roman, „Persische Fassung“, Dielmann Frankfurtmain 2007    Aeolia.Gesang. Gedichtzyklus, mit den Stromboli-Bildern von Harald R. Gratz. Limitierte Auflage ohne ISBN, Galerie Jesse Bielefeld 2008   Kybernetischer Realismus. Heidelberger Vorlesungen, Manutius Heidelberg 2008   Der Engel Ordnungen. Gedichte. Dielmann Frankfurtmain 2009   Selzers Singen. Phantastische Geschichten, Kulturmaschinen Berlin 2010   Azreds Buch. Geschichten und Fiktionen, Kulturmaschinen Berlin 2010   Das bleibende Thier. Bamberger Elegien, Elfenbein Verlag Berlin 2011   Die Fenster von Sainte Chapelle. Reiseerzählung, Kulturmaschinen Berlin 2011   Kleine Theorie des Literarischen Bloggens. ETKBooks Bern 2011   Schöne Literatur muß grausam sein. Aufsätze und Reden I, Kulturmaschinen Berlin 2012   Isabella Maria Vergana. Erzählung. Verlag Die Dschungel in der Kindle-Edition Berlin 2013   Der Gräfenberg-Club. Sonderausgabe. Literaturquickie Hamburg 2013   Argo.Anderswelt. Epischer Roman, Elfenbein Berlin 2013 (Dritter Band der Anderswelt-Trilogie)   James Joyce: Giacomo Joyce. Mit den Übertragungen von Helmut Schulze und Alban Nikolai Herbst, etkBooks Bern 2013    Alban Nikolai Herbst: Traumschiff. Roman. mare 2015.
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Gerade bei Vila-Matas gelesen.

Nämlich was - wieder einmal! - Lobo Antunes schreibt:

Schreiben ist wie die Einnahme von Drogen, man beginnt aus reinem Genuß und organisiert am Ende sein Leben wie die Junkies nur um das Laster herum.
Das könnte freilich ebensogut für das Literarische Weblog gelten. Doch weiter, denn auf den letzten Satz kommt es an:

Genau so ist mein Leben. Selbst im Leiden erlebe ich es zwiegespalten: Der Mensch leidet, und der Schriftsteller überlegt, wie er dieses Leiden für seine Arbeit nutzen kann.
[Ich leide momentan absolut nicht, zu sehr noch bräunt die Erinnerung an den mezzogiorno meine Haut. Dennoch oder gerade deshalb ist das Zitat im Wortsinn bemerkenswert.]

herbst & deters fiktionäre

Von der Treue. Von der Erotik.

Immer wieder wird aus den liebenden Leidenschaften eine ebenfalls liebende, doch stillere Gemeinsamkeit, die Grundbedingung jedes währenden Zuhauses ist. Doch bezieht sich die Stille nur auf den Partner. Der Körper hingegen will immer wieder aufs Neue glühen und sich verschießen und sich von explodierender Kraft anfüllen lassen. Es ist fast unmöglich, dabei aufrecht und beidem gegenüber gerecht zu bleiben: gerecht zu der Liebe und gerecht zu dem Körper. Die meisten Leute verraten lieber ihn, als daß sie ihren Partner, wie es heißt, betrügen. Jedenfalls geben sie das vor. Um dem Partner nicht wehzutun. Um nicht beider und das Heim der Kinder zu gefährden.
Ein Verrat aber bleibt es. So oder so.

(LXXXII).

(Verzicht ist autoaggressiv: verdrängt kehrt er anderswo wieder. Und verletzt den geliebten Partner dann doch.)

Übermannung. Isabella Maria Vergana (1).

Dieses Haar! Die dicke geölte Pracht so schwer über die Schultern geworfen, daß ein Mann hineinpacken möchte und den Ballen schon in der Hand hat, der rechten, und ihn zusammendrückt, so daß es der in der Taille biegsamen Mestizin den Kopf in den Nacken zieht. Und sie öffnet, wie im Reflex, die Lippen. Unter seinem von dem heftigen Ansturm verspannten Gesicht.

[Doch die gar nicht schöne Frau tanzt nur. Sie singt. Und der Mann, zweieinhalb Meter von der kleinen Bühne entfernt, schüttelt schnell den Kopf, um diesen Traum wieder loszuwerden, der ihn bei offenen Augen überfiel.]

(Dionysos 1).

Angst um ein Kind.

Diese seltsame Furcht, die ich manchmal entwickle, gerade jetzt, in der frühen Nacht unter den Bäumen vor dem Zelt im Felshang hinter Sorrento mit der Taschenlampe Vila-Matas lesend, dabei vor den Augen immer wieder die Augen meines kleinen Jungen, die mich ganz groß ansahen, als ich ihm vorlas, ansahen und ansahen, als könnten sie nicht fassen, was sie sehen, bevor sie ihm zufallen und ihn in den Schlaf gleiten lassen, als rutschte er hinter ihnen in ihn hinein... diese Furcht, er könne nicht eingeschlafen, sondern in seinem Nestchen e n t schlafen sein... - Dreimal schon bin ich während dieses Urlaubs unruhig leise ins Zelt hinein und habe mein Ohr dicht an den Mund des Kindes gehalten, um mich zu vergewissern, daß der Junge noch lebt...

(Ist es eine Parallelangst zu d i e s e r? Befürchtet sie, daß ich mich innerlich von seiner Mutter zu trennen beginne und mit dieser Liebe dann auch ihn verliere? - Ich kann die Meere von hieraus nicht sehen, aber der Golfo erfüllt bis zu mir hoch und noch weit über mich hinauf die Luft. Nebenan, hinter einer langen Blende aus dünnem Bambus, sitzen vorm Wohnwagen fünf junge Leute und trinken. Und quäkender italienischer Pop schwebt von Felsterrasse zu Felsterrasse bis zur Bucht hinab.)

Notiz vom 28. August, Massa Lubrense/Sorrento.

Guantánamo & DIE ZEIT.

Dorothea Dieckmann, 3. September 2004, 12.26 Uhr:

Lieber ANH,
"Sprengstoff" ... Was sagen Sie zur ZEIT-Rezension? Wer ist eigentlich
dieser Falcke - Lohnschreiber, Erfüllungsgehilfe? Wer führt hier Krieg?
Radisch gegen ... Herbst?
Ich finde, sie hätte - selbst wenn es "Zufall" wäre, daß ihr hier einer nach
dem Mund redet - so viel Schamgefühl haben müssen, diesen Artikel nicht zu
drucken: um allein den Verdacht nicht aufkommen zu lassen, daß hier nach
Direktive geschrieben wird.
Häng's aber tiefer, als es jetzt klingt.
Herbstlich,
DD

ANH, 3. September 2004, 13.23 Uhr:

Das hab ich noch gar nicht gelesen. Und will das auch erst einmal nicht... zu sehr dräut mein Buchverbots-Prozeß, das ist alles eklig genug. Und ich sitze an einer Erzählung, nach der ich seit drei Wochen suchte und für die ich gestern - einfach, weil ich die Notiz einer Beobachtung ins Weblog übertrug - den Anfang fand --- "Dionysos in Linz" wollt ich das Ding erst nennen, aber jetzt heißt es "Isabella Maria Vergana" und reiht sich in eine Reihe halbrealer, halb mythischer Frauenfiguren ein, die mich seit Jahrzehnten begleiten. Da muß ich konzentriert sein und kann mich nicht von anfallenden Depressionen wegen der üblichen Betriebsmieserei ablenken lassen.
Aber Radisch gegen Herbst, ganz sicher. Iris rächt sich für einen Irrtum ihrer Partnerwahl vor nun bald 22 Jahren. Herrn Falcke hingegen kenne ich nicht. Sollte er in seinem Artikel mich und meine Rezension erwähnt haben, dann dürfte das nur ein Zeichen dafür sein, wie genau ich den Schmiß schlug, der den Wohlgerechten nun an der Wange schmerzt. [Aufgrund von Anobellas hierunter stehendem Kommentar grundlos geworden und also gestrichen.]
Daß Sie von Schamgefühl innerhalb des Literaturbetriebs sprechen, schockiert mich allerdings fast. Auch Sie - wie ich - glauben also noch an ästhetische Wahrheit im Feuilleton...
Herzlich
ANH

Von Burgess.

Aber er ist ein Dichter, und die Dichter sind nun mal auf Halblügen versessen. Oder auf ganze, würde Platon sagen.

Überwältigung. Bewältigung von Geschichte.

Der Keller. Der Unterbau, das Fundament. Unverschlossene Türen. Lesezeichen von Ämtern. 2004.
Ein Schlüssel fällt aus der Hand, fällt auf einen Rost, fällt hindurch, klirrt hinab. Ein kurzer dumpfer Ton. Draußen leuchtet blau der Himmel, an den Zweigen entfalten sich Blätter, ein Leben in Grün. Der Schlüssel aber liegt unten. 1995. Es geht in die Zeit. Jede Stufe der Kellertreppen ein Jahr. 1945. Eine Tür. Kein Kreischen im Schloß, nur stumm. Staub. Schimmel. Dämmerung. 1944. Bunker. Der Gesundheits-Ingenieur.
1943. Der moderne Schlachthof. Schädlingsvernichtungswissenschaft. Das Kohlenmonoxid befriedigte nicht völlig. Die Ausbeute konnte nicht völlig erreicht werden. Acht-Zwei-Neun-Fünf-Sieben-Fünf-Acht-Sechs-Neun. Zwei Probleme waren eng miteinander verknüpft. Es wird eindeutig festgelegt, daß die Arbeitsdauer keine Begrenzung erfährt. Das Durchgasungspersonal.
Die Politisch-Anthropologische Revue, 1902. Meine Damen und Herren, es gibt keine Dokumentation. Das Archiv für Rassenkunde und Gesellschaftsbiologie, 1904. Es gibt nur Splitter, ein jeder in sich unendlich teilbar. Die Gesellschaft für Rassenhygiene, 1905. Ein jedes Teil entfaltet ein neues Universum des Schreckens. Die Rehebother Bastards und das Bastardisierungsproblem beim Menschen, 1913. Vielleicht ist ein jedes Teil je Abbild des andren. Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, 1920. Und der statistischen Systematik eines zur Entseelung führenden Vollzugs widerspricht einzig das Bruchstück, das die Seelenlosigkeit eben nicht durch akribische Systematik einer sogenannten Aufarbeitung verdoppeln will, sondern sich dem Schrecken stellt, dem man sich immer nur als einzigem, als distinktem stellen kann. Menschliche Erblichkeitslehre und Rassenhygiene, 2. Auflage, 1923. Der Versuch, die Systematik umfassend zu verstehen, wird immer systematisch werden und also das konkrete Elend abstrahieren. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, 1927. Deshalb ist der Abstraktion, die stets Entwirklichung ist, zu begegnen. Die 3. Auflage des „Baur-Fischer-Lenz“, 1931. Jedes Elend ist einzeln. Die Eugenik im Dienste der Volkswohlfahrt, 1932. Deshalb findet seine Darstellung angemessen nur im Fragment statt. Rassenkreuzung und geistige Leistung sowie Das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums und Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, 1933. Im Fragment kann der Schrecken erscheinen, ohne daß er sich ordnen, also verharmlosen ließe. Das Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre, 1935. Man beachte die Wörter. Die Rassenhygienische und Bevölkerungspolitische Forschungsstelle, 1936. Bis weit in die Sechziger Jahre gab es in der Bundesrepublik den Begriff der „Ehehygiene“. Bemerkungen zur Umsiedlung unter dem Gesichtspunkt der Rassenpflege, 1940. Das Wort „Reihenuntersuchung“ hat sich bis heute, vor allem an Grundschulen, erhalten. Verschrottung durch Arbeit.
Begasungskammer. Der erste Punkt wurde gelöst. Achtkammerige Blausäureanlage. Entlausungspersonal. Nach beendigter Gasung. Mitsamt der Brut.

JETZT MIT LINK: Aus einem Totenhaus. Dorothea Dieckmanns grandioser, beklemmender, leuchtender Roman „Guantánamo“.

ANH's Rezension über das Buch heute in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG.

NACHTRAG (4. September): Die FAZ hat den Text 3608935991.03.mzzzzzzzaus dem Netz genommen. Er wird ab morgen bei den Fiktionären nachzulesen sein. Vorerst stelle ich ihn einmal h i e r hinein:

aus einem totenhaus fassung 2 050804 (doc, 34 KB)

NACHTRAG II: Der Link wurde von der FAZ nur verlegt. Er findet sich jetzt >>>> h i e r.

Stellenanfrage.

1.
Stellenbewerbung ohne vorherige Anzeige

Sehr geehrte Damen und Herren!
Ich habe über Ihnen dürch INTERNET gehört. Meine Name ist POPOVICIU DOINA, ich bin Dipl.ing. Bekleidungstechnik mit einer sehr gutes Erfahrungs in Produktion und internationals Verträgs. Die gegenwärtige Stellung ist der Vertreter - STEILMANN Deutschland an einen Rümanischebetrieb . Zu Ihrer weiteren Information finden Sie in der Anlage einen detaillierten Lebenslauf oder an WEB-adresse : http://popdoina.tripod.com/index.html.
Ich suche eine neue Arbeitplatz mit andere größere Moglichkeiten. Meine e-mail Adresse ist: apopovici@keysys.ro und tel: 0040-724.002.323 0040-726.794.938 Ich würde mich frenen, bald von Ihnen zu hören.
Mit besten Grüßen
Doina Popoviciu

2.
Sehr geehrte Frau Popoviciu,
danke sehr für Ihre Stellenanfrage. Die Fiktionäre sind allerdings ein rein fiktives Unternehmen, in dem sich reale Menschen und Avatare zu einem Projekt zusammengefunden haben, das Sie sich unter http://albannikolaiherbst.twoday.net anschauen und mitverfolgen, an dem Sie gern auch teilnehmen können. Nur stellen wir keine Mitarbeiter ein, sondern unser Mitarbeiterkreis ergibt sich oft zufällig und völlig ohne finanzielle Intentionen. Einige Fiktionäre wissen darüber hinaus nicht einmal, daß sie welche sind.

Mit bestem Gruß
Hans Erich Deters

3.

Vielleicht kann jemand aus der Dschungel-Leserschaft helfen.

Isabella Maria Vergana (2).

Die Arbeit an der Erzählung läuft erstaunlich gut. Plötzlich der richtige Einfall, dann noch einer, wie so oft ergibt sich der Verlauf einer Geschichte, indem ich mich auf den Fluß der Sätze verlasse, dann tatsächlich zugleich in einer Linzer Kellerkneipe sitze wie vor einer venezolanischen Hütte liege, ich rieche den warmen aufgewirbelten Staub, und schon kapiert man, was man da eigentlich erzählt. Immer wieder lose Fäden, die später abgeschnitten und verkittet werden müssen, damit die Form auf den Inhalt stimmt... aber das laufen lassen und vertrauen.
Ich war ganz benommen gestern nachmittag, als ich den Kleinen vom Kindergarten abholte, war noch ganz befangen in diese eigenartige Welt, in der man sich völlig schuldlos mit Schuld belädt und sie – annimmt.

Die Vergana brach unmittelbar in der Singlinie ab, lachte hell und zuckte gleichsam entschuldigend mit den Schultern. Die etwa dreißig Anwesenden klatschten, jemand juhute ein bißchen deplaziert, weil allzu privat gemeint, und Perez griff zur Gitarre. Rauchwolken stiegen von den Tischen auf. Kleines gläsern funkelndes Vorspiel, dann hub die Vergana wieder an: Oye la historia que contome un día el viejo enterrador de la comarca era un amante que por suerte impía su dolce bien le errebató la parca. Abermals schluckte der gutturale Ansatz alle Kindlichkeit weg, die vielleicht siebzehn, vielleicht bloß fünfzehn Jahre, die die Sängerin bislang auf der Welt war, schienen von Generationen vollgestopft worden zu sein. Was mochte, dachte ich, dieses Geschöpf bereits erlebt haben, durch welches Elend war sie gegangen, welche Wollüste hatten sie gefüllt! Und wieviel schuldlose Schuld mochte ihren Lebenslauf schon säumen, wieviele Herzen waren von ihr, wie oft war ihr eigenes gebrochen woren, daß sie einem alten Totengräber diesen klagenden Ausdruck schenken konnte, ihm, dem stummgewordenen, die Sprache rückerstatten? Was überhaupt hatte sie nach Europa, was ausgerechnet nach Linz gebracht, in diesen barocken BiedermeierOrt, an dessen Modell bis ganz zuletzt ein furchtbarer österreichischer Diktator in seinem Berliner Führungsbunker herumgebastelt hat und in dem nun sie sich durchschlagen mußte mit den vielleicht 150 Euro, die sie und ihr Begleiter für ihre gelegentlichen Auftritte einnahmen? Und dann sah die Vergana mich wieder an... y para siempre se quedó dormido ...sah mich an und hielt den Ton.

Isabella Maria Vergana (3).

Das Rätselhafte einer Erzählung entsteht, indem ein "Clou" - hier der zum Tod der Vergana führende Geschlechterkampf - zwar nicht vermieden, aber gleich auf den ersten Seiten erzählt und später nicht mehr darauf zurückgekommen wird, sondern das Geschehen löst sich allegorisch auf. Das gibt dem furchtbaren Vorfall etwas Ungefähres, Scheinbares. Zugleich hält der Erzähler an dem Geschehenen fest, akzeptiert es ganz am Ende der Erzählung und zieht für sein weiteres Leben sogar eine stille Lust daraus.

Die Künstler erschienen und wurden von vielen der Anwesenden wie enge Bekannte gegrüßt. Maria Vergana war eine mädchenhaft wirkende Indianerin, vielleicht Halbindianerin, mit etwas ge­drungenem Unterleib, aber schmaler Hüfte, kleinen Brüsten und einem Gesicht von deutlich asiatischem Einschlag. Wenn sie lachte, blitzen ihre Zähne wie ein Raub­tiergebiß, was zu der kaum erwachsen wirkenden Person gar nicht paßte und mich so sehr irritierte, daß ich dauernd zu ihr hinsehen mußte. Sie spürte wohl meinen Blick, empfand ihn vielleicht als allzu taxierend, vielleicht auch als kalt, schon weil es der eines Fremden war. Denn plötzlich warf sie das schwarze Haar herum und sah mich an, hörte auf zu lächeln, sah mich nur an, ich konnte ihren Blick nicht erfassen, die Augen waren zu dunkel... zu dunkel in dem Gesicht und zu dunkel in dem schattigen Raum. Ich hätte ihm gern standgehalten, hätte mich gern sozusagen in ihm aufgerichtet, aber ich sah ihn ja nicht. Momentlang stand ein gefrorener Kampf in der Kellerbühne, einer, bei dem die eine Seite die andere nicht ausmachen kann, diese aber jene sehr wohl. Er währte ganz sicher keine Sekunde, schon hatte die Vergana ihren Kopf wieder zurückgeworfen, dann legte sie ihn, als ihr Begleiter ihr etwas ins Ohr sagte, in den Nacken und lachte mit ihrer Kinderstimme ein paarmal auf.
Und auch hier wieder, um allem - als Gegenbewegung zum Allegorischen - unbezweifelbare Realität zu verleihen, von wirklichen Personen ausgehen, den 'Helden' als "Herbst" ansprechen und die theoretischen Freunde auftreten lassen, so daß die Erzählung über weite Strecken fast den Ton einer Dokumentation erhält.

Wir tagten bis fünf, diskutierten anschließend in den pompösen Gängen des Landes­museums, vor allem Brittnacher, Ruthner, Marcus May und ich. Dann zogen wir mit einem Teil des Publikums fürs Essen ins Restaurant HOFArT, unter dessen warmen Arkaden ein Tisch reserviert war. Dort kamen ausgerechnet Anelm Wagner und ich uns theoretisch so nahe, daß wir, als die anderen abreisten, noch einige Zeit mitein­ander verbringen, jedenfalls noch ein paar Wein trinken wollten.
[Da ich mich zwar an die Linzer Orte, Kneipen usw. gut erinnere, nicht jedoch mehr genau weiß, wie sie hießen, werd ich den fertigen Rohentwurf der Erzählung an Peter Aßmann nach Linz mailen und ihn bitten, die zweifelhaften Angaben dokumentarisch zu ergänzen.

Mischwesen. Atavismen. Isabella Maria Vergana (4) und der fünfte September III.

Daß ich B's Reptil-Wirbelsäule vergaß! Wie ungläubig ich, krümmte die schmale Frau den Rücken, mit den Fingern über die vom Nacken bis zum Becken weit wie ein Kamm herausstehenden Wirbel strich... Genau das hat mir sozusagen als kafkasche Schwimmhäute für die Vergana noch gefehlt. Dabei legte es mir die Realität direkt vor die Füße.
Für was kleine Engagements, an die man nicht glaubt, manchmal gut sind.

[Mit der Niederschrift der Erzählung, so sehr sie mich auch beschäftigt, seit gestern morgen pausiert. Morgen sehr früh unbedingt wieder drangehen, damit der Sprachfluß nicht verebbt. Die zweite Erinnerung muß einsetzen, ausgelöst durch d a s h i e r.]

[Egon Wellesz, Die Bakchantinnen]

NACHTRAG (7. September, jetzt bei Heinz Reber: Ma):
Und auch diese beiden Sätze müssen, nahezu unverändert, in die Geschichte hinein:

Daß ich die Reptil-Wirbelsäule Marias vergaß! Wie ungläubig ich, krümmte die gedrungene Frau ihren Rücken, mit den Fingern über die vom Nacken bis zum Becken weit wie ein Kamm herausstehenden Wirbel strich...

Corso der Lichtgestalten. Danach die Strandbar Mitte. (Der fünfte September II).

leucht1Da nun erwartete uns der nächste dilettantische Höhepunkt: Benjamin Schuberts aus Leuchtröhren hingebastelte Buchstaben, die auf Autoanhängern durch Deutschland gekarrt worden waren, um auf die vielen Analphabeten aufmerksam zu machen, die es hierzulande noch gibt. Ein ehrenvolles Unternehmen, dem Die Dschungel in keinerlei Sinn zu nahe treten möchten, auch wenn der Satz sie auszudörren droht, der Künstler habe "eine neue, unverbrauchte Art" gefunden, "Schrift, Wortinhalt und Skulptur in ästhetischem Kontext zu vereinen."
Außer den zwischen Touristen und Würstchenbude und einer fahrbahren Bühne herumstehenden Dingern genossen wir den erhebenden Blick auf den Palast der Republik, vor dem noch immer hundert Leute radikalmasochistisch gewillt waren, sich einer Armee chinesischer Tonsoldaten auszusetzen. Als sich zu allem Elend auch noch eine Gruppe mittelalterlich gekleideter Jungmusiker in keltischem Hollywood zu produzieren begann, mitsamt schrillem Sopran und einem kleinen schau-mir-in-die-Gitarre-Baß sowie diverser Trommelei und mit Geige, zogen wir es vor, den Kunstgenuß unseren nahbei aneinandergeschlossenen Fahrrädern zu überlassen und spazierengehenderweise in die Strandbar Mitte zu emigrieren, wo wir nebeneinander, die Tomiak Sekt schürfend, ich - da mein persönlicher Ramadan angebrochen ist - an alkoholfreiem Bier nuckelnd, in tiefen Liegestühlen einen Platz fanden, den meine Begleiterin "eine Falle" nannte, obwohl ich das, mich selbst einmal beiseitelassend, nicht recht einsehen konnte. Jedenfalls hatte der Platz neben dem Fluß, der, mit dem Rücken zum Alex, auf Bodemuseum und Kräne und Zementsilos sehen ließ und den Füßen erlaubte, ihre Zehen im feinen Sand spielen zu lassen, eine deutlichere poetische Valenz als alle Kunstversuche dieses Tages sonst, zumal leise Erotik sich ins Plaudern schlang, die mir mehr gab als bloße Satisfaktion. Deshalb ist es mir ein Genuß, mit Linkverweis eine Fotografie des Ortes einzustellen, für den nicht ich, sondern ein anderer Herbst allmählich voraussehen läßt, es gehe auf eine Trennung zu.

strandbar mitte
© by Bernd Schönberger

die elfte Stunde. (Der fünfte September I...

So geht's, wenn ein junger Veranstalter, der selber gerne schreibt, mit viel Energie und Idealismus einen Lesungstag aus dem Boden stampft, aber, weil er auf Financiers und Mitträger Rücksicht nehmen muß, sich lieber die Texte nicht anschaut: Es wird eine Familienveranstaltung, eine Art Nachmittag für die jüngere empfängliche Hausfrau (zu denen auch das eine und/oder andere Männlein gehört), die sich am leidhübschen Poetchen delektiert. 11. stunde programmMan sitzt kaffeekränzchend beisammen und lauscht lauen Texten, durch die alle naselang ein Autobus braust, da wegen des Sommerwetters die Tür zur Straße nicht geschlossen wird. Und springt jemand auf, um den Mißstand zu beheben, läßt sie der nächste, der eintritt, gleich wieder auf. Dabei Getuschel und eine Talentshow, welcher meist der erste Teil des Wortes f e h l t. Nur ganz bisweilen glitzt eine Sprachfindung auf, bei der sehr sehr jungen Sonja Petner etwa, deren lyrische Gebilde nach einer Eisenhand rufen, die das Gutgemeinte aus dem Wohlklang verbannt. Unerträglich schließlich - aber man darf das nicht sagen - die ältere Mutter, die ihren Sohn verlor und darüber ein Buch schrieb, aus dem sie nun liest, als wäre ein Sohn im Text tatsächlich d e r Sohn und als wäre schließlich sie als Figur auch sie selbst. k4
"Weshalb haben die Menschen kein Gespür für Peinlichkeit", fragte ich flüsternd die Tomiak, die neben mir saß. "Ich habe keine Ahnung", flüsterte sie. Nicht Trauerarbeit, was legitim, aber immer noch keine Literatur wäre, war hier geleistet worden, sondern das genaue Gegenteil: die Trauer feiern und damit sprachklebrig sich selbst zelebrieren. So daß man aufstehen und der verlorenen Mutter sagen möchte: Seien Sie nicht so sentimental. Was persönlich Unrecht, künstlerisch aber in aller Grausamkeit geboten wäre. Doch selbst i c h hielt die Schnauze.
Und dann d o ch ein Erlebnis.
Nämlich lasen im Anschluß an all die Jungen und jungen Alten einige ehemalige Analphabeten, die sich nun, nach Abschluß ihres neuen Lebensaufbruchs, Schreibgruppen angeschlossen hatten. Und der erste dieser fast durchweg leicht behinderten Menschen stand stockend vor Pult und Text und kommentierte die Erzählung seines Illustrators mit großem, irgendwie schiefem, ja zuckendem Lachen, wunderbar innig waren in ihm Hilflosigkeit und Anstrengung, Wille und eine schöne Form von Eitelkeit gemischt. Wie diagonal geneigt sein Körper dabei war und fuhr mit dem linken Zeigefinger gegenläufig jedes einzelne Wort nach. der analphabetEr auch war der einzige, der in Hemd und Krawatte zu dem für die Leute durchaus feierlichen Nachmittag erschienen war. Und fing dann stotternd und langsam den eigenen Text vorzutragen an und trug ihn in einem Rhythmus vor, der gänzlich neben den Worten lag, aber gerade dadurch Kraft in sie hineinbrachte... Kraft und Kunst. rhythmusEtwas Ähnliches habe ich zuletzt bei einem Vortrag John Cages erlebt, vor Jahren im alten Frankfurtmainer Theater am Turm. Nach einer Stunde begann dort der konzentrierte Hörer zu schweben. Hier nun war es nahezu beängstigend, wie schnell sich nach all dem Halbgesabbel Aura in den Raum breitete... nicht beabsichtigt, gewiß, sondern so wie große Werke o f t entstehen: aus Anstrengung und Notwehr.

Als sich entgegen unserer Hoffnung kein zweites solches Erlebnis einstellen wollte, sondern der Spätnachmittag nun eine deutlich sozialpädagogische Wendung nahm, flutschten die Tomiak und ich durch die Tür in den sonnigen Tag davon und radelten zum CORSO DER LICHTGESTALTEN auf den Schloßplatz hinüber.

Antiamerikanisch? Die Dschungel?! - Aber ja!

Nach den neuesten Ergebnissen der dortigen Wahlumfragen ist eine andere Haltung gar nicht mehr möglich.
Wobei zwei gravierende Einschränkungen vorzunehmen sind:

1) Ist das Adjektiv "amerikanisch" umgehend durch "US-amerikanisch" zu ersetzen, da es nicht angeht, für eine einzige Nation den ganzen Kontinent zu inhaftieren.
2) Gibt es dennoch viele US-Amerikaner, denen der Anti-US-Amerikaner liebevoll oder innig oder mit großem Respekt und sogar bewundernd verbunden bleibt.

Ein toter Säugling. Ein Vogelskelett.

I
Ich stehe an der Hecke zum Nachbargrundstück, hinter mir amüsiert sich mein Sohn an einer Schaukel. Die Nachbarin will ihr Kind mit meinem Jungen spielen lassen, aber nicht mit ihm, sondern mit einem zweiten Kind von mir, an das ich mich gar nicht erinnere.
"Keine Ahnung", sagt sie, "was Ihr Jungen da an Aggressionen austrägt, aber niemand will sich mehr mit ihm abgeben. Sie haben alle Angst vor ihm."
Ich drehe mich betroffen um und sehe den kleinen, kräftigen Burschen ausgelassen hüpfen. Dabei fällt mir mein zweiter Sohn tatsächlich wieder ein. Weshalb ich zu suchen anfange und ihn wirklich finde, aber quasi als Skelettchen und allenfalls fünfzehn/zwanzig Zentimeter hoch. Das Persönchen liegt in einem von einer dünnen Glasplatte verschlossenen schmalen Kasten, der sehr an die Holzbehälter für Mikado-Stäbchen erinnert. Jedenfalls ist das zerbrechliche Geschöpf völlig durchscheinend, so daß man den milchigweißen Knochenbau sieht, dessen Feinheit an ein Vogelgerippe erinnert. Ein batteriebetriebenes Instrumentarium sollte das Wesen am Leben erhalten, aber die Batterien scheinen verbraucht zu sein, denn das rote Kontrollämpchen links unten leuchtet nicht mehr.
In diesem Moment fällt mir ein, daß nicht ich (!) das Kind geboren habe, sondern es war die Nachbarin selbst. Aber wir alle haben es einfach vergessen. Ich drehe das Kästchen in den Händen und lese die auf der Rückseite angebrachte Gebrauchsanweisung, derzufolge die Geburt des Kindes spätestens nach drei Tagen gemeldet und das Neugeborene ins Krankenhaus gebracht werden müsse. Das haben wir verabsäumt, und nun ist das Kind tot.
Mir ist sofort bewußt, daß ich einen Prozeß zu gewärtigen habe und womöglich wegen fahrlässiger Tötung ins Gefängnis muß. Aber ich bin nicht in Panik, nicht in Sorge, sondern sehe dem vollkommen ruhig entgegen, nahezu gefühl-, ja gemütlos.

II
Ich bekomme mehrmals hintereinander anonyme Drohanrufe, die mit dem hierüber geschilderten Ereignis irgendwie zusammenhängen. Schon klopft es an die Tür meiner Arbeitswohnung und zwei wuchtige Männner drängen herein. Sie drängeln an mir ins Schreibzimmer vorbei und sagen:
"Diese Wohnung muß aus Sicherheitsgründen geschlossen werden."
"Ich rufe sofort meinen Anwalt an", erwidere ich. Aber ich kann mich an Gregors Telefonnummer nicht erinnern, bekomme sie, den Hörer bereits in der Hand, einfach nicht in meinen Kopf.
Da schneidet einer der beiden Männer das Telefonkabel durch, und ich erwache.

[Aus dem Notizbuch. 25. September 2004. Monte Circeo, frühmorgens vorm Zelt.]

III
Auch so etwas birgt Keimzellen für Erzählsegmente. Nicht eigenständig für sich, weil es sonst zur Nachbildung eines KafkaTextes würde, aber eingebaut in größere, am besten "realistische" Zusammenhänge und mit denen, ohne Traumausweisung, verschliffen. Wie Garrafff in "Buenos Aires".

Isabella Maria Vergana (6).

[Pietro Mascagni, Iris.]

Bis jetzt durchgeschrieben, und immer noch schreibe ich und singe zu der Lirica. Keine Ahung, wie ich das Thema schließlich sprachlich in den Griff bekomme, aber die Geschichte s t e h t. Jetzt noch die Coda, irgendwie. Dann an die Feinarbeit. Noch nie war ich dem Innersten einer Allegorie so nah.

Ich hob, weil sie sich kühlte, meine linke Hand, hob sie, indem ich sie drehte, ganz vor meine Augen. Aus dem Ballen trat ein Rinnsal roten Granatapfelsafts. Und ich wußte, es war soweit. Die Geschichte, deren Beginn auch jetzt noch in weitester, mir unzugänglicher Vergangenheit liegt, verlangte wie eine über Jahre schwärende, crescendierende Musik nach der Stretta. In Carúpano war ich dafür nicht bereit gewesen, vielleicht n o c h nicht, vielleicht war es aber für den, der ich dort offenbar gewesen (oder weiterhin) bin, gar nicht möglich, sich in dieses Stück zu fügen. So hatte ich mich eines Tages, als Maria für Besorgungen ausgegangen war, davongestohlen. Und hatte den Bus nach Cumaná bestiegen. Mein Ticket für die Überfahrt nachhause war heimlich längst erstanden, über vier Wochen lag es bei mir zwischen Schonbezug und Matratze versteckt. Beide schliefen wir darauf. Ich hinterließ Maria keine Zeile, und selbst die geliebte Fotografie, die sie in einem billigen Plastikständer auf unserem Tisch aufgestellt hatte, nahm ich ihr fort. Auch ein paar der Scheine, die sie über der Spüle im Zahnglas aufbewahrte. Als das Schiff auslief, fürchtete ich, die Mestizin käme noch in allerletzter Minute an den Kai gerannt und schrie oder weinte. Oder brächte vermittels irgend eines absurden, aber heftig vorgetragenen, gewiß höchst theatralischen Vorwands die Hafenbehörde dazu, das Schiff noch einmal beidrehen zu lassen. Aber Maria erschien nicht. Und ich, als wir unter brennender Sonne die offene See erreichten und Margarita passierten, zeriss die Fotografie, zerriß selbst die Schnipsel noch einmal. Die Hunderte Fitzelchen flockten wie Schnee nahe dem Bug auf die Wogen.
Sehr allmählich blieb die Küste zurück, und wir pflügten die Karabische See. Selten fühlte ich mich derart befreit.

Das ist exakt das, was in der Musiktheorie ein Scheinschluß genannt wird. Mit dem die Coda erst eigentlich anhebt.

Sozialleben. Kiosk.

Ich gehe über die Stargarder hinüber in die südliche Dunckerstraße zum türkischen Zigaretten- und Zeitungshändler. Es ist sonnig, die schmale Tür steht auf, draußen ein Pulk Trinker an einem hohen runden Bartisch aus weißem Plastik. Zwei hüfthohe, langhaarige Hunde, eine fette Frau mit schon körnigem Besenreißer im Gesicht. Drinnen sucht vorm magazinüberladenen Tresen ein vielleicht 30jähriger, durchaus gepflegt wirkender Mann einen Flachmann aus, entscheidet sich, sagt:
„Ach, Wodka ist mir heute lieber. Und bitte noch einen... einen... für Karl...“
Der islamisch erzogene, etwas untersetzte, immer sehr freundliche Verkäufer, dessen tiefverhüllte Frau (oder Mutter?) ebenfalls am Eingang steht, lächelt nicht ohne Abfälligkeit, was seine Herzlichkeit ganz besonders sonnig aussehen läßt.
Und er sagt zu dem jungen Mann: „Nein, Karl trinkt heute nicht.“
Darauf der junge Mann wieder: „Möchte er heute nicht betrunken sein?“
Dem Blick, den mir der Verkäufer nun zuwirft - weiterhin lächelnd, weiterhin aufs innigste verächtlich -, weiche ich aus. Denn plötzlich schäme ich mich. Und ich begreife, wogegen sich der fundamentale Islamismus a u c h wehrt.

Soviel in aller Kürze zu Deutschen und Türken. Einfache Türken, einfache Deutsche. Soviel halt zum V o l k.

Sucht & Kunst. Kleine Theorie des Literarischen Bloggens (23).

[Anour Brahem, Astrakan Café]

Wie aus einer Geschichte sofort die nächste und wiedernächste entsteht, ganz unmittelbar, und wie früher der Schreibtisch mit Zetteln, füllt sich nun der Bildschirm mit Notizdatei um Notizdatei. Oft ist es die Formulierung, die zur neuen Idee überleitet, ein Wort nur, ein Idiom, das direkt auf die kleine innere Trommel der Assoziationen schlägt. Bisweilen aber auch eine persönliche Erinnerung... an einen Duft, an ein Haus in S. Lucia, an meinen Bruder.
Die literarische Arbeit, da sie sich aus sich selbst fortpflanzt, wird genau deshalb, wie Vila-Matas bemerkt (und was er seinerseits zur Voraussetzung und zum Thema eines Romanes macht), zu einer Lebensform, darin von nicht-künstlerischen Tätigkeiten scharf unterschieden – mit Ausnahme interessanterweise von jenen, die sich mit Computern und Software beschäftigen. Auch diese, da in Wirklichkeit nicht dinglich, sondern Realisierung von Innenwelt, tendieren dazu, ein Lebensmilieu zu schaffen, aus dem man nur schwer wieder auftauchen kann. In beiden Fällen wirkt etwas, dessen Dynamik an die von Süchten gemahnt, aber nicht mit ihnen identisch ist. Denn die Sucht konsumiert nur, die kybernetische und künstlerische Tätigkeit hingegen produziert. Daß dennoch nicht selten die eine Lebenswelt die andere befördert, zumindest befördern s o l l, zeigt beider Verwandtschaft. Sie lassen sich miteinander verkoppeln, man kann von der Wohneinheit in die Arbeitseinheit wechseln, ohne die Dynamik selbst verlassen zu müssen. Wiederum haben beide einen Zug ins vereinsamend Asoziale, und zwar sogar dann, wenn ihnen gemeinschaftlich nachgegangen wird. Die im Orbit des kybernetischen Raums schwebenden Stationen bilden communities von bloß scheinbarem Sozialcharakter aus. In Wirklichkeit sind es Monaden. Das tatsächliche Gespräch, zu dem Speichel gehört, wird von einem abgelöst, das man - in der Literatur wie in der kybernetischen Kommunikation – mit Avataren führt, denen Feuchtigkeit den Garaus macht. Der Avatar in der Dichtung ist der Leser genannt, - eine reine Konstruktion des IchIdeals, das seine Anima projeziert.


>>>> Zweiter Zwischenbefund
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Isabella Maria Vergana (5). Eine Anfrage.

per email.

Sehr geehrter Herr Wien,
ich fand Ihre Site beim googlen.
Für eine Erzählung, an der ich gerade arbeite, brauche ich den Namen einer mittelkleinen Stadt in Venezuela, vielleicht an der Küste, vielleicht auch am Rand eines Regenwaldes, aber nicht in den Bergen, sondern in der Ebene. Der Ort sollte mehrere Tanzbars und kleine billige Hotels haben, in dem ein zwar gebildeter, aber heruntergekommener Europäer auf Geld für die Ausreise wartet und wo er sich wegen seines längst abgelaufenen Visums vor den Behörden verkriechen kann. Wie würden solche Hotels und Bars heißen?
Außerdem wäre mir der Name eines Dorfes lieb, in dem Halbindianer leben könnten - gern auch ein Fantasiename; der sollte aber m ö g l i c h sein.
Können Sie helfen?

Ich danke Ihnen im voraus.
ANH

Zur narrativen Poetik. LXXXIII.

[Hespos, dschen.]

Eine Geschichte ist Voraussetzung für erzählende Literatur. H a b e ich sie, so kann ich in und mit ihr sprachlich Kunst versuchen. Das Unternehmen ist nicht riskant, denn auch das mißlungenste Sprachexperiment wird eine gute Geschichte überleben lassen. Ist sie selbst aber schlecht, wird selbst die beste Kunst den Text nicht vorm Vergessenwerden bewahren.
Unterhaltungsschriftsteller - die Dienstleister, nicht etwa Künstler sind - haben es aus diesem Grund einfach und schauen mit Recht triumphal auf den Künstler herab, dem etwas, da ihm kein handelnder Einfall kam, mißlang. Tatsächlich ist es ein Grund für Mitleid, vielleicht auch für Trauer.

Ein Künstler aber, dem etwas g e l a n g, schaut n i c h t herab; denn das ist keine Kategorie, der noch Bedeutung zukommt. Soziales Verhalten spielt in der gelungenen Kunst überhaupt keine Rolle.

[Deshalb ist ein vitaler Unterhaltungsschriftsteller gesellschaftlich niemals gefährdet. Und der "große" Künstler - wie seine Kunst - nahezu immer asozial.]

Von Valéry.

Alles, was von den Göttern kommt,
legt Höllen in den Menschen.

Die Liebe. Der Sex. Und.
Kunst.

Vergeltung für Bewunderung.

Der, hätte Nietzsche formuliert, feine Charakter hat allen Grund, sich an persönlich ihm gegenüber geäußerter Bewunderung zu rächen. Denn sie vereinnahmt.

(LXXXIV)

________________________
[NACHTRAG (9. September):

sich an persönlich ihm gegenüber geäußerter Bewunderung
Hier muß etwas geändert werden, die Formulierung stimmt noch nicht. Sie ist unschön. Was ästhetisch bedeutet: Noch ist sie nicht zur Gänze wahr.
Es geht, spüre ich, um den Rhythmus einer Wahrheit.]

Hagen (1).

Mein Bruder also, der am Tag seines vierzigsten Geburtstages beim Wildwassertauchen umkam. Mit welchem Schaudern ich mich daran erinnere, daß wir uns - ich war siebzehn, er fünfzehn - in die Hand versprachen, niemals älter als vierzig zu werden. Und daß er sein Versprechen h i e l t. Mit der ganzen Radikalität, die diesem bis in den kriminellen Untergrund konsequenten Jungen und später Mann eignete. Er hat seinen Tod sogar geübt, hat dafür trainiert: beim Bungee-Springen, beim Absprung aus dem Flugzeug in voller Tauchermontur, bei einigen anderen extremen Sport-Disziplinen.
Und auch das ist eine Allegorie: daß er seinem Vornamen lebensdynamisch eine Rechnung trug, von der der Dichter in mir meint, sie sei durch ihn, durch den Vornamen, erst beschworen worden. Einmal ganz abgesehen davon, daß es symbolisch höchst unbesonnen ist, wenn nicht gar äußerster Gemütslosigkeit bedarf, ein Kind, das diesen belasteten Nachnamen trägt, im Nach-Hitler-Deutschland der Fünfziger Jahre ausgerechnet nach dem Tronjer aus den Nibelungen zu nennen. Nun hat sich deren Schicksal auf ihn gestürzt, ganz persönlich, ganz individuell, und zwar obwohl die Krimhild, die seine Lehnstreue in die Pflicht nahm, bloß die Mutter war, die nun wie Etzels Weib bis zu den Waden im Blut steht. Und es wahrscheinlich nicht faßt. Denn auch in ihr realisierte sich eine Allegorie.

Also diese Geschichte ist gleichfalls zu erzählen. Poetologisch fordert das: Allerpersönlichstes auszukühlen und distanziert zum Kristall zu schleifen.

Isabella Maria Vergana (7).

Die Rohfassung des Textes ist abgeschlossen. Ich bin überrascht, wie schnell diese immerhin knapp dreißig Buchseiten umfassende Erzählung entstand, vor allem, daß die Form (also die sinnliche Konstruktion) offenbar kaum mehr einer Revision bedarf. Nur sind die Sätze noch nicht gläsern genug, daran ist zu feilen, vielleicht auch umzuschreiben. Es muß mehr Kälte in den Text, gerade weil er so glüht: Dieses Glühen darf nicht verbalisiert werden, was einer Beschwörung gleichkäme, sondern soll vom Leser geradezu aus Notwehr gegen die Sprache, die sich scharf distanziert, erfühlt werden. Erst dann, stellt er dieses Gefühl aus sich selbst her, ist die Gestaltung einer Allegorie - die zugleich symbolisch wie restlos realistisch ist - gelungen. Alles andere wäre immer nur Behauptung des Autors.

(Dieses erlebte ich in der Nacht auf den 23. Mai des jetzigen Jahres 2004 und skizzierte die Ereignisse während meiner Rückfahrt nach Berlin. Seither sind mehr als drei Monate verstrichen, und es war von alledem nirgendwo etwas zu hören. Es gab keine Nachrichten in der Presse, keine Suchmeldung im Fernsehen. So sehr ich also Ermittlungen fürchten mußte, so sehr ich während der folgenden Wochen bei jedem Klingeln an der Tür meiner Arbeitswohnung bangte und so furchtsam ich jeden Mittag meinen Briefkasten öffnete, es kam tatsächlich nichts nach. Bislang. Selbstverständlich habe ich alle Spuren vernichtet, habe meine Kleidung verbrannt, habe sogar, sinnloserweise, die Unterlagen des Symposions verbrannt. Meine Striemen sind unterdessen verheilt. Bis auf paar kleine Narben links an der Brust, die noch der Vergana Zähne erkennen lassen. Diese Spuren fallen indes unter der Behaarung nicht auf. So habe ich mich mittlerweile beruhigt, ja schaue mit erstaunlich beruhigter Zuversicht in die Zukunft. Ihr ist sogar ein leiser Triumph beigemischt, der etwas Auserwähltes hat. Denn meine Schulter haben die zwei Finger berührt. Ich bin es gewesen, der in den Granatapfel schaute. Ich nahm ihn entgegen. Ich aß von ihm. Und ich, niemand anderes, b e s c h l o ß das Stück.)

In eigener Sache. Den Dschungellesern.

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(Der Link liegt h i e r.)


HED

Es dreht sich. Es d r e h t sich!

Der im Mai neugegründete sozialwissenschaftliche Fachverlag Barbara Budrich zeigt bereits stolz seinen ersten Titel: „Diplomatie digital“ vom Herausgeberteam Alexander Bilgeri und Alexander Wolf. Weitere vier Bücher erscheinen zum Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, der Anfang Oktober in München stattfindet. „Startitel“ unter diesen ist der bereits von Buchhandel und Presse gut wahrgenommene Band „Die Gesellschaft der Literatur“, der von Uwe Schimank – einer der bekanntesten Soziologieprofessoren Deutschlands – und Thomas Kron herausgegeben wird. Hier werden die Werke von NachkriegsautorInnen aus soziologischer Sicht auf ihren gesellschaftserklärenden Wert hin untersucht. Zu den untersuchten AutorInnen und Werken gehören beispielsweise Thomas Pynchon „Die Enden der Parabel“, Alban Nikolai Herbst „Bueons Aires. Anderswelt“, Milan Kundera „Der Scherz“, Maj Sjöwall, Per Wahlöö, Henning Mankell, Donna Leon, Michel Houellebecq, Herta Müller, Arno Schmidt „Aus dem Leben eines Fauns“, Tom Sharpe, Wilt-Triology, Botho Strauß, Kobo Abe und Bodo Kirchhoff – ein Buch auch für BuchhändlerInnen. Die erste Halbjahresvorschau mit rund 30 Titeln aus den Fächern Erziehungswissenschaft, Geschlechterforschung, Politik, Soziale Arbeit und Soziologie erscheint zum Frühjahr 2005.

Nachtarbeit. Isabella Maria Vergana (8).

[Bruckner, Dritte Sinfonie.]

Etwas zu überarbeiten bedeutet nahezu immer: Es n e u schreiben.
vergana 1
Bisweilen dreht sich dadurch der Sinn in eine andere Richtung, was strukturell a u c h bedeutet: Er zieht a n, zieht sich zusammen.
vergana 2

(Selbstvergewisserung 4.)

Hagen (2).

Als Fünfzehnjähriger meldete er sich selbst (heimlich, mit einem gefälschten Schreiben) von der Schule ab, ging aber dennoch hin, weil er wissen wollte, wie die Chose ohne ihn lief.

Jerusalem.

Es ist wie an der Westmauer: Ich habe das Meine getan, wenn ich mich vor ihr eingefunden habe – alles andere tut sie. Oder wie am Klavier, wenn ich ein schweres, für mich wichtiges, unumgängliches Musikstück höre oder einübe. Ich muß es nur geduldig immer und immer wieder hören und üben. Es wird dann schon für sich und für mich sorgen, das heißt, so weit in mich eingehen, so weit es mir möglich ist. Die Musik macht etwas mit mir, nicht ich mit ihr.
Klaus Schäfer in seinem Buch über die geschundene Stadt der drei Götter, die Saiten des einen Immergleichen sind.

Atem & Heiliger Geist, physiologisch.

Das Pneuma ist ein Pheromon.

(LXXXV.)
 



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