Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop

e   Marlboro. Prosastücke, Postskriptum Hannover 1981   Die Verwirrung des Gemüts. Roman, List München 1983    Die blutige Trauer des Buchhalters Michael Dolfinger. Lamento/Roman, Herodot Göttingen 1986; Ausgabe Zweiter Hand: Dielmann 2000   Die Orgelpfeifen von Flandern, Novelle, Dielmann Frankfurtmain 1993, dtv München 2001   Wolpertinger oder Das Blau. Roman, Dielmann Frankfurtmain 1993, dtv München 2000   Eine Sizilische Reise, Fantastischer Bericht, Diemann Frankfurtmain 1995, dtv München 1997   Der Arndt-Komplex. Novellen, Rowohlt Reinbek b. Hamburg 1997   Thetis. Anderswelt. Fantastischer Roman, Rowohlt Reinbek b. Hamburg 1998 (Erster Band der Anderswelt-Trilogie)   In New York. Manhattan Roman, Schöffling Frankfurtmain 2000   Buenos Aires. Anderswelt. Kybernetischer Roman, Berlin Verlag Berlin 2001 (Zweiter Band der Anderswelt-Trilogie)   Inzest oder Die Entstehung der Welt. Der Anfang eines Romanes in Briefen, zus. mit Barbara Bongartz, Schreibheft Essen 2002   Meere. Roman, Marebuch Hamburg 2003 (Verbotene Fassung)   Die Illusion ist das Fleisch auf den Dingen. Poetische Features, Elfenbein Berlin 2004   Die Niedertracht der Musik. Dreizehn Erzählungen, tisch7 Köln 2005   Dem Nahsten Orient/Très Proche Orient. Liebesgedichte, deutsch und französisch, Dielmann Frankfurtmain 2007    Meere. Roman, Letzte Fassung. Gesamtabdruck bei Volltext, Wien 2007.

Meere. Roman, „Persische Fassung“, Dielmann Frankfurtmain 2007    Aeolia.Gesang. Gedichtzyklus, mit den Stromboli-Bildern von Harald R. Gratz. Limitierte Auflage ohne ISBN, Galerie Jesse Bielefeld 2008   Kybernetischer Realismus. Heidelberger Vorlesungen, Manutius Heidelberg 2008   Der Engel Ordnungen. Gedichte. Dielmann Frankfurtmain 2009   Selzers Singen. Phantastische Geschichten, Kulturmaschinen Berlin 2010   Azreds Buch. Geschichten und Fiktionen, Kulturmaschinen Berlin 2010   Das bleibende Thier. Bamberger Elegien, Elfenbein Verlag Berlin 2011   Die Fenster von Sainte Chapelle. Reiseerzählung, Kulturmaschinen Berlin 2011   Kleine Theorie des Literarischen Bloggens. ETKBooks Bern 2011   Schöne Literatur muß grausam sein. Aufsätze und Reden I, Kulturmaschinen Berlin 2012   Isabella Maria Vergana. Erzählung. Verlag Die Dschungel in der Kindle-Edition Berlin 2013   Der Gräfenberg-Club. Sonderausgabe. Literaturquickie Hamburg 2013   Argo.Anderswelt. Epischer Roman, Elfenbein Berlin 2013 (Dritter Band der Anderswelt-Trilogie)   James Joyce: Giacomo Joyce. Mit den Übertragungen von Helmut Schulze und Alban Nikolai Herbst, etkBooks Bern 2013    Alban Nikolai Herbst: Traumschiff. Roman. mare 2015.
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Die Probenmontage (Montage I). Die Vorhänge der Wirklichkeit (8). Daniel F. Galouye. Mit einer Verbeugung vor der Stimme Kavita Chohans.

Sehr viel früher, als ich gedacht habe, bin ich mit den Schneidearbeiten gestern fertig geworden; ich schrieb das eben schon >>>> ins Arbeitsjournal. Also legte ich gestern bereits die erste Montage an, entschied mich für elf Spuren: 1) Die >>>> Sprecheraufnahmen aus dem ARD HS, 2) die sogenannten „Zufalls“- also Einzelstimmen, 3) Stimmen-Leitmotive (das sind einzelne Wörter, einzelne Phrase, die durch das Stück gestreut werden), Atmo- und Musikleitmotive, sowie Stimmgeräusche (während der Aufnahme im Prozeß entstandene Seufzer, Lacher, Ächzer, Flüche, Räusperer), 4) Platzhalter (in denen ich selbst, was noch nicht aufgenommen ist, provisorisch einspreche, 5) und 6), alternierend, O-Töne und Atmos, 7) Cello, 8) Akkordeon, 9) Grundatmo (Science Galery des Max Planck Institutes; sie läuft die ganze Stunde durch, wird durch Auf- und Wegdimmen geregelt). Die Spuren 10 und 11 sind Ausweichspuren, falls ich mit kompakteren Überlagerungen arbeiten muß. Auf der 10 laufen derzeit Straßengeräusche von Unter den Linden.
Was ich bereits jetzt erzählen kann, ist, daß die erste Viertelstunde, die bislang „steht“, bereits derart dicht ist, daß ich mir gestern nacht unsicher wurde, ob das Stücke überhaupt noch eine „äußere“ Musik b r a u c h t. Ich habe in den O-Tönen so viele dichte Signale und sie teils auch musikartig bereits einmontiert, daß bisweilen eine enorme Beklemmung entsteht, die Galouyes Texten sehr entspricht - weniger ihren Formen, allerdings, als ihren Inhalten; formal ist er ein naiver Autor, einer halt, der auf Plots schreibt. Diese Naivetät nehme ich heraus, verwandle sie in poetische Mehrdeutigkeit; so tat es auch schon Faßbinder in Welt am Draht, nur er halt mit filmischen Mitteln und viel weitergehend an eine Handlung gebunden als ich, der ich Stimmung, Drohung, Ambivalenzen alleine über die Akustik vermittle.

21.18 Uhr:
Die Probemontage (Rohmontage) steht.
soeben läuft die Sicherung auf der gesonderten Festplatte.
Es ist der ungewöhnliche Fall eingetreten, daß ich zu kurz bin, mit 43‘18‘‘ um knapp zehn Minuten. Ich weiß allerdings, woran es liegt: ich habe nicht mit Musiken gearbeitet, sondern allein mit dem Material bisher. Jetzt gibt mir das die Möglichkeit, viel mehr zu spielen und improvisieren, als ich das bei irgend einem anderen meiner bisherigen Hörstücke konnte; dort war es meistens darum gegangen, irgendwie kürzer zu werden. Zumal bin ich, auch dies ist ungewöhnlich, über einen Monat vor der Sendung mit einer Rohfassung schon fertig. Dennoch will ich nicht lax werden, sindern so tun, als würde bereits in einer Woche gesendet - weil das den nötigen Druck erzeugt, den ich für Arbeiten schätze; es gab auch gegenüber dem schon kürzere, heiklere Termine.
Einmal, zum Abendessen, ganz durchgehört; ein paar wenige Stellen brauchen Modulation, anderen will ich mehr Luft geben; alles ist s e h r dicht im Moment. Das Ende des Stücks - anders, als das Typoskript will, sondern spontan hochgeschossen, die Idee; und so böse logisch ist sie, daß mir selbst beim Abhören etwas schummrig wurde - ist stark hörspielartig, ja plothaft, wird aber über die Absage zurück ins Feature gerafft. Und enorm ist, was meine neuen O-Töne hergeben, wobei ich aber auch auf alte Mitschnitte zurückgegriffen habe: Erstmals machte es sich bezahlt, daß ich in Oper und Konzert Publikum mitschneide, Stimmen der Instrumente, Applaus, und mein Mitschnitt >>>> aus dem Berghain hat mir das Gerede von Menschengruppen gebracht. Eigentlich sollte ich meinen LS11 permanent laufen lassen, wenn ich draußen bin.
Worum es ab morgen geht, ist, den Zerfall, den das Ende des Stückes erzählt, schon vorher immer mal anzudeuten, unmerklich fast, nur spürbar, ungewißhaft, zwittrig, irritierend, ohne daß aber die „Fabel“ leidet. Dazu kam mein Junge mit der Idee, ob ich nicht noch weitere Kinderstimmen nehmen wolle... - Er hat recht. Und ich bräuchte zweidrei Alte. Es schadet gar nichts, manche der „Zufalls“stimmen mehrfach besetzt zu haben und leitmotivisch durch das Stück zu streuen. Aber für heute ist Schluß, morgen geht es weiter.
(Großartig, wirklich großartig Kavita Chohans Stimme: tief, innig, leidenschaftlich, warmherzig, umfassend.. Selbst, wenn sie sich verspricht oder irgend etwas anderes nicht ganz stimmt, weil es „nicht ihr Tag“ gewesen, kann man mit dieser Stimme auf eine Weise technisch umgehen, die nahezu jeden Ausdruck möglich werden läßt. Eigentlich müßte man unentwegt alleine für s i e Hörstücke schreiben. Es ist mir absolut unverständlich, wieso das nicht andere merken und ihre Stimme quasi dauernd buchen. In ihr ist etwas von dem Urtalent der Callas, nein, nicht nur etwas, sondern vieles - aber für die Sprech- und Sprachkultur, nicht für den Gesang.)


Die Vorhänge der Wirklichkeit (6 & 7). Die Schneidetage.


Im Arbeitsjournal >>>> da und >>>> dort.

Fahrlässigkeit und Geschick ODER Wie man Fehler zum künstlerischen Prinzip macht. Die Erste Montage (Erste Fassung). Die Vorhänge der Wirklichkeit (9). Daniel F. Galouye.

Donnerstag, der 3. Mai:
Einen klassischen Fehler habe ich gestern gemacht; mag sein, es lag an der Zahngeschichte. Klassischer Fehler, meistens, sind Anfängerfehler, zum Beispiel, wenn man an der Börse einen Verkaufsauftrag erhält, aber in der Eile versehentlich das „Buy“ ankreuzt. Macht jeder mal; die „Kunst“ besteht dann darin, sich auf der Affäre möglichst elegant wieder herauszuwinden - was kein Problem ist, wenn der „Irrtum“ gutgehen sollte; verliert man aber dabei, zeigt sich, wer geschickt ist. Das habe selbstverständlich auch ich in der Geschichte meines Lebens stehen, als Anekdote, glücklicherweise; es hätte damals auch eine Katastrophe werden können.
Katastrophe war es auch diesmal nicht, aber kostete sehr viel Zeit. Nämlich waren mir vorgestern nacht beim Abhören der >>>> Probemontage zwei Fehler im Text aufgefallen, die ich unbedingt korrigieren wollte. Zum einen erzählt das Typoskript von einer jungen Frau, die in der Science Galery die Führungen mache; gesprochen wird der Part aber von Barrientos, die eine vortreffliche Sprecherinnenstimme hat, aber keine, die auch nur ungefähr nach Jugend klänge. Also muße das „junge“ herausgeschnitten werden; zum zweiten gibt mein Text an, es sei „vollkommen still, bzw. still wie in einer Kirche“, aber ich lege zugleich eine permanente Geräuschkulisse, nämlich den tatsächlichen O-Ton, darunter, der auszugsweise sogar zu einem akustischen Leitmotiv des Stückes wird. Das widersprach sich.
Soweit okay und soweit auch durch Kürzung und Umstellung innerhalb der Tondatei zu korrigieren. Nur finden sich die Fehler in der durchlaufenden Sprecherdatei des ARD Hauptstadtstudios, und weil ich sie ganz oben als Spur 1 einfach durchlaufen lasse und dann jeweils die Takes schneide, aber als Hauptspur weiter durchgehen lasse, haben die an sich nur kleinen, in Sekunden berechenbaren Korrekturen die gesamte Anlage der Montage zeitlich durcheinandergebracht; Hunderte Tonschnipsel saßen dann unkorrekt, weil die Hauptspur nun immer, wenn ein neuer herausgeschnittener Einsatz kam, an falschen Stellen begann.
Dadurch geriet die gesamte Montage ins Wanken, Zittern, Vibrieren, war teils restlos unverständlich. Dabei hätte ich nur die zwei Passagen, um die es eigentlich ging, kopieren, als getrennte Dateien neu anlegen, dann korrigieren und schließlich an die vorherigen Stellen einfügen müssen. Aber ich dachte einfach nicht dran - und hatte den Salat. Da half es auch nichts, daß ich selbstverständlich die Probemontage getrennt abgespeichert hatte, denn auch sie bezieht sich direkt auf die originalen Tondateien.
Echter Anfängerfehler, ich darf nicht klagen.
Alles, somit, von vorne bis hinten durchgecheckt und noch den kleinsten Tonschnipsel korrigiert - das sind Hunderte unterdessen. Stunden zusätzlicher Arbeit. Doch aber, nun zum Geschick, kam mir genau während und wegen dieser Arbeit die Idee, wie ich Galouyes Roman „Simulacron 3“ für die Akustik sinnlich machen könne: ich ließ nämlich ein paar der Fehler nicht nur stehen, sondern baute jetzt bewußt nach vorne hin weitere solche und auch ganz anders geartete Fehler ein, unterlegte sie jeweils mit einem elektronischen Alarmsignal und mischte insgesamt auf die O-Töbe ab. Schließlich, da war es 22.30 Uhr, seit morgens um neun hatte ich drangesessen mit der Unterbrechung, siehe Arbeitsjournal, durch einen Zahnarzt und einen Kieferchirugen - schließlich also, als ich das Stück zur Nacht parallelsichern ließ, hatte ich insgesamt fünf der neun noch fehlenden Minuten „eingespielt“.

Freitag, der 4. Mai:
Jetzt werde ich das Ergebnis erst einmal in Gänze abhören, vielleicht aber auch vorher noch in die Straßen hinab, um mir die letzten Zufallsstimmen zu holen, die ich nun unbedingt brauche. Die Zeit, befriedigend noch mit Platzhaltern arbeiten zu können, ist bei erreichtem Stand des Hörstücks definitiv vorbei; ich muß allerdings auch noch auf die eingesprochenen An- und Absagen der Redakteurin warten. Erst wenn all das eingefügt worden ist, läßt es sich exakt auf die Sendezeit hin arbeiten.
Zudem will ich heute schon einmal erste Versuche mit Cello und Akkordeon machen, auch wenn ich mir mittlerweile nicht mehr ganz sicher bin, ob das Stück überhaupt Musik, bzw. Außenklänge noch braucht.

20.25 Uhr:
Die Montage ist prinzipiell fertig, auch die noch fehlenden Stimmen sind drin... was dauerte, weil ich heute sehr viele Freiwillige nicht fand, vor allem nicht schnell, und weil dort, wo ich aufnahm, einiger Verkehrslärm herrschte. Also waren die kleinen Tondateien hier noch zu bearbeitet, zu schneiden ja sowieso. Dennoch blieb ich noch runde sieben Minuten unter Soll; ob ich die auffüllen könne, also organisch, etwa mit Cello und Akkordeon, kann ich bis jetzt nicht sagen. Aber ich hatte aus dem Höreindruck heraus eine völlig neue Idee, die eines Epilogs, wie er bei Galouye in seinem letzten Roman auch wirklich steht. An sich brauchte ich, um ihn einzusprechen, noch einmal einen Termin im ARD HS, aber erinnerte mich einer Idee Freund M.‘s: „Probier das mal aus: stell einen Stuhl auf den Tisch und verhänge ihn mit Decken. Innen positionierst du das Mikro und sprichst dann deinen Text in den Stuhl und die Decken hinein. Du wirst staunen.“
In der Tat. Für diesen Epilog ging das prima, woraus ich jetzt schließe, daß ich, wenn ich in Zukunft Rezensionen für den Funk sprechen werde, das genau so tu. Spätestens, wenn man die Sprachaufnahme auf mp3 runterzieht, ist eine Differenz nicht mehr zu hören. (Ja, es fehlt an natürlichem Baß und natürlicher Fülle, vorausgesetzt, man hat sowas in der Stimme auch drin. Für Zweckhörer ist das aber wurscht. Nicht so, selbstverständlich, in Hörspiel und Hörstück, also in künstlerischen Bereichen. Nur daß in diesem Fall jetzt der etwas flachere Ton exakt zu dem paßt, was Galouye in seinem „Regenesis“ genannten Epilog entwickelt.)
Gut, einzweimal hör ich mir das Resultat heute noch an. Morgen früh experimentiere ich dann mal mit den Instrumenten; wie das ausgehen wird, kann ich allerdings nicht sagen. Außerdem fehlt eines eben doch noch: die An- und Absage meiner Redakteurin; beide sollen ins Stück montiert sein. Da muß ich auf die morgige Post oder auf die von Montag warten. Hier, zu Ihrer Erbauung, die Tonschnipselei:
Ich liebe es zu schneiden; perfekte Schnitte - es gibt auch hochinspirierte - können sogar Abfall zu lupenreinen Diamanten schleifen.

>>>> Galouye 10
Galouye 8 <<<<

SERKALO

alles was uns angeht ist uns physisch attachiert.
unsere augen sind ein spiegel der welt.
nicht wir sehen mit ihnen - sondern die welt sieht sich in ihnen.
deswegen kommt es darauf an, wohin wir unseren blick wenden.

deswegen sind wir focussiert auf und erregt von der schönheit, der rebellion und dem tod.

Poetiken zur Musik. An actmusic.com.

Lieber >>>> Herr G.,
(…) ... zumal, wie Sie wissen werden, ich mich nur selten an journalistische Regeln halte, wenn ich über etwas schreibe. Ich bin de facto auch kein Journalist, sondern Schriftsteller; vieles von dem, was ich zur Musik schreibe, sind deshalb eher poetische Miniaturen zu nennen als wirkliche Kritiken. Das führt immer wieder zu Problemen, aber ich rücke davon nicht ab, da ich jede Kritik zugleich immer auch als eigene literarische Arbeit verstehe, nämlich als künstlerische Positionierung innerhalb der - soweit es sie denn noch gibt - ästhetischen Diskussion. Es ist ganz gut, das zu wissen.
Das erklärt Ihnen sicher auch, weshalb ich Interviews nicht mache. Es gab zweimal Ausnahmen, aber da war ich mit den anderen Künstlern so vertraut, daß wir tatsächlich ein Gespräch führen konnten, bei dem nicht einer den anderen fragte und nicht nur der andere Auskunft gab, etwa seinerzeit mit >>>> Lothar Zagrosek.
Herzlich
ANH

Aura. Die zweite Fassung der Montage. Die Vorhänge der Wirklichkeit (10).

Das war nicht vorherzusehen gewesen und so auch nicht beabsichtigt, daß dieses Hörstück möglicherweise eines meiner bisher wichtigsten geworden ist. Seit heute nachmittag sitzt alles.
Das liegt nicht nur an den Stimmen der teils sehr alten Leute, die jetzt hineinkommentieren, oft surreal, wie aus einem Off von Jenseits, auch gar nicht eng mit der Spielhandlung verbunden, und an ihren Seufzern, bisweilen einem „ach“; manchmal ist der Satz nicht wirklich zu verstehen, weil zwei dieser Menschen gar nicht mehr prononzieren konnten; sondern das Hauptproblem war bislang der zu grobe Schnitt, der nicht an der Schnittechnik, sondern an sich vordrängenden Hintergrundgeräuschen lag. Wenn man „im Freien“ aufnehmend arbeitet, bleiben störende Frequenzen nicht aus. Broßmann war der erste, der das während eines Probeabhörens monierte, und ich wußte da sofort, daß ich um Legierungen nicht herumkäme, also doch wieder: Musik. Aber ich wollte nicht sampeln, wie Sie wissen, wollte nicht ein weiteres Mal auf schon vorhandene Musik zurückgreifen, weil dies immer einen anderen semantischen Aspekt in ein Stück gibt - so, wie ich das bislang auch immer im Sinn hatte, nur eben diesmal nicht.
Also doch realisieren, was ursprünglich meine Idee gewesen war: alle Musik selbst einspielen, an Cello und Akkordeon. Letzteres eignet sich besser, da die Stimmung des Instrumentes sowohl temperiert ist als auch etwas Ungefähres über die vielen Register hat. Das Cello ist problematischer, denn jede Spielschwäche wird laut. Also galt es da einerseits, solche Schwächen zum Konstruktionsprinzip zu machen und vor allem: erst einmal eine halbe/dreiviertel Stunde des Improvisierens einfach mitzuschneiden, dann das File abzuhören und aus ihm extrahieren, was paßt. Ich unterteilte folgendermaßen:
Dann, nachdem die Stimmen der alten Menschen in die Montage eingearbeitet waren, ging ich Sekunde für Sekunde durch das ganze Stück, wählte aus den Rubriken fünf Tonfiles aus, die ich zurechtschnitt und jeweils unter die Übergänge legte, dabei auch neue Übergänge schaffend. Ein Fehler widerfuhr mir, weil ich einmal vergaß, etwas über alle Spuren zu verschieben. Das lag daran, daß ich mich auf elf Spuren beschränkt habe, wie nach Plan eigentlich; aber ich hätte jetzt zwei zusätzliche Spuren gebraucht, die ich indessen, selbst auf dem großen Bildschirm, nicht alle zugleich im Blick gehabt hätte. Das war mir indes wichtig. Also mußte geschummelt werden, d.h. die an sich >>>> fest definierten Spuren wurden an Leerstellen „fremd“verwendet. Wenn einem aber dann ein Versehen passiert, geht bei den Hunderten Schnitzeln, die verarbeitet werden, die furchtbare Fisselei eines je einzelnen Korrigierens los. War so heute. Eine klitzekleine Unaufmerksamkeit genügt. Der Vorteil solcher Fitzelei, die im gemieteten oder festgebuchten Studio eine Katastrophe wäre, weil man nicht mehr rechtzeitig fertig wird, besteht schlichtweg darin, daß alles abermals aufs genaueste abgehört werden muß. Ich habe drei fugierte Sprachstellen in dem Stück, die über fünf Spuren gehen (eigentlich über alle elf); da war am meisten zu fummeln.
Den Anfang habe ich noch leicht verändert, damit ich eine Formklammer hatte; man arbeitet bei Motiven mit Wiedererkennungseffekten, oft nur einsekündigen, manchmal ist schon das zu lange.

Enorm dicht ist das Stück jetzt jedenfalls, und die Stimmen der alten Menschen geben etwas Unheimliches hinein, das dem, was Galouye gemeint hat, auch völlig entspricht: was er gemeint, nicht was er de facto formuliert hat; ich bin mir durchaus bewußt, daß ich seine an sich simplen Stories deutlich erhöhe; nichts anderes hat auch Faßbinder in „Welt am Draht“ getan. So etwas ist das Kennzeichen vieler großer, wenn sie also gelungen sind, Be- und Verarbeitungen. Selbstverständlich geht das, aber sehr zugunsten der Poesie, auf das Dokumentarische; besonders dort, wo ich - meine Redakteurin wird wahrscheinlich schlucken - den >>>> Absagebrief der Faßbinder-Foundation einmontiert habe - eine entsetzlich beklemmende Szene des Stücks. So ist mir das jedenfalls heute mehrmals vorgekommen.

Dann waren wenige Szenen noch einmal zu konturieren, Zwischeneinwürfe der Sprecher teils an andere Stellen zu kopieren, was natürlich Folgen für schon legierte Übergänge haben kann und hatte. So daß ich morgen noch einmal aufs lauschendste abhören muß und abermals hier und da werde modifizieren müssen. Immerhin bin ich jetzt exakt in der Zeit: 54‘40‘‘. Unter dem Epilog, der nach der Absage gesprochen wird - auch dies eine kleine Unmöglichkeit für den Rundfunk - liegt nun eine Montage der wichtigsten Cello- und Akkordeon-Motive; das verleiht Galouyes Text sowohl etwas Schwebendes wie Dunkles.

Jedenfalls, ingesamt: Ich bin zufrieden und werde morgen abend diese Arbeit so weit abgeschlossen haben, daß meine Redakteurin sich das Ergebnis für etwaige Kritik anhören kann. Da wird es dann abermals heißen: Dank an die >>>> Dropbox.

Galouye 10 <<<<
>>>> Annoncement der Sendung mit Trailer.

Parkbank Mitte (Skizze).

Sprachen wir von
Depressionen mein Kind
Sprachen wir illusionär
Wann nannte ich je
Kind eine Frau

Die Fernen blauten licht
Da stand der müde Mann
Das Messer in der Hand
war trauriger als er
Sie nahm es und begrub‘s

Dann legten sie ihn schlafen

JJR2012 ODER ANHs Rousseau. Auf SRF online.

Und von Hacke, Lewinsky, Nowotny, Krausser, Reemtsma, Lydlow, Halter, Schneider, von Matt, Dutli, Schrott, Stämpfli, Müller, Zala, Schwarz, Künzi, Boyle, Allemann und Frevert.

Wählen Sie >>>> d o r t.

Annoncement der Redaktion:
Jean Jacques Rousseau heute
Vor 222 Jahren wurde JJR auf einen Schlag berühmt. Er gewann den Wettbewerb der Akademie von Dijon mit seiner Antwort auf die Frage, ob uns Wissenschaft und Kunst weiterbringen.
1750 stellte sich JJR mit seiner Antwort gegen den Trend und kritisierte Fortschrittsglauben, Politik und Gesellschaft.
2012 ist es Zeit für eine Bestandsaufnahme -
Wie wirken Wissenschaft und Kunst in unserer Gegenwart?
15 Fragen, generiert aus Rousseaus Antwort auf die Akademiefrage von 1750, haben wir ins Heute übertragen. Spezialisten aus Kultur, Politik und Wissenschaft haben den Anfang gemacht. - Jetzt sind Sie dran: Antworten Sie und laden Sie Ihr Bild hoch.
Gewinnspiel: Werde der "neue Rousseau"
Wir suchen den neuen Kopf für JJR2012. Antworten Sie auf die Fragen, kommentieren Sie die Texte der anderen und liken Sie die Person, die Sie wach rüttelt, aufregt, irritiert, inspiriert oder gar erleuchtet. Mit Qualität, Chuzpe, Verve und Humor haben die Köpfe mit den meisten Likes, die Chance JJR auf der Frontseite zu ersetzen und gewinnen eine Reise nach Dijon für 2 Personen..

Zur Ästhetik der Hörstücke, darinnen auch das Internet.

Selbstverständlich kann man sagen: Komplexe Gebilde wie >>>> dieses, zumal allein fürs Ohr, verfehlten ihre Hörer, weil sich den Verästelungen bei einmaligem Hören, wie der Rundfunk das vorsieht, unmöglich folgen läßt, zumal zu >>>> solch nachtschlafener Zeit. Damit verfehlten die Stücke das Genre - Feature - zugleich, das deutlich stärker einen Bildungsauftrag hat als etwa ein Hörspiel, sei es eines der puren Unterhaltung, sei es eines mit Botschaft und von Form.

Dagegen ist zweierlei einzuwenden:

1. Kein Genre entzieht sich dem Zugriff der Künste, wenn es sie lockt. Die Kunst n i m m t sich, schärft, konturiert, verfremdet zum je Eigenen: dem, was alleine dem speziellen Genre eigen, also nicht auch beliebiger Teil eines anderen ist. Sie isoliert und läßt aus dem isolierten Kern neu wachsen: Einvernahme des Interviews, Einvernahmen des O-Tons als Geräusch & Musik, Einvernahme der didaktischen Elemente als ihrerseits Erscheinungen von Form. Die Dinge, Phänomene und auch die Absichten werden zu künstlerischem Material und als solches je neu kombiniert - und/oder ‚bekannt‘ kombiniert, um den Wiedererkennungswillen zu locken; Erkenntnis wird aus der Distanz des fremden, hier nun Kunstblicks.
Das unterläuft, immer, die pädagogische Absicht und dreht sie herum. Denn indem Absicht ist und bekannt ist, verfehlt sie selbst schon ihr Ziel, entschärft sich nämlich: wir wissen immer schon, warum. Dann hört der zu, der sowieso interessiert ist, oft auch nur der, der eh dieser Meinung längst war. Ein solches Verständnis von Feature ist pur affirmativ und, jedenfalls selten, wirklich erkenntnisfördernd über bestehende Vorlieben hinaus. Dagegen steht im poetischen Hörstück, zu dem das Feature mir wurde, die Absicht-selbst auf dem Prüfstand.
Hier ist künstlerisch mit der Erweiterung des Genres über die definierten Grenzen, nämlich über sein Deskriptives hinaus, ja ihm feindlich, zu erwidern: mit der Aura etwa eines O-Tons, die unscharf ist, insofern seine Informationen nicht nur sind: aha, so klingt Bombay, oder aha, so ist das bei den >>>> Hyänen (ein absolut grandioses Stück von Peter Leonhard Braun); und diese Aura - sie besteht aus semantischen Ober- und Untertönen, die alleine für sich gar nicht wahrnehmbar wären, aber maßgeblich die Temperierung bestimmen - wird ihrerseits mit anderer Auren musikartig verschränkt; die Auren spielen miteinander, kopulieren, dann trennen sie sich, sind aber schwanger. Ein Rätsel bleibt immer: Wie wird diese Frucht, und was ist sie? Freilich, das muß ein Wesentliches des inszenierten Gegenstandes miterfassen und transportieren, aber auch etwas Drittes, Viertes über ihn hinaus: etwas von seiner Wirkung.

2. Die einmalige Rundfunksendung i s t nicht mehr einmalig. Die Zukunft des Rundfunks, ob öffentlich-rechtlich oder privat, wird im Internet liegen, ebenso wie des Fernsehens. Er wird sich, und ist schon dabei, im Wesentlichen über Smartphones übertragen, iPads, Note- und Netbooks, schließlich wahrscheinlich über Knöpfe, die wir im Mantelkragen tragen, jeder selbst bereits ein kleiner Computer. Damit, aber schon jetzt, ist jede Sendung mitschneidbar und kann und wird ebenso wiederholt gehört werden können wie irgend ein Musikstück, das sich auch erst bei mehrmaligem Anhören, und oft dann erst rauschhaft, entschlüsselt. Die Ästhetik meiner Hörstücke setzt genau hierauf. (‚Gute‘ Hörer, denen es auf Klang ankommt, werden den Mitschnitt auf ihre Anlage übertragen und dort noch einmal hören: die Unterschiede sind frappierend; man kann durchaus den Eindruck gewinnen, verschiedene Stücke zu hören; soviel, nebenbei, zum Frequenzgang).
Jemand, der nur zweien >>>> meiner Hörstücke begegnet ist, w e i ß bei dem dritten: hier muß gelauscht werden, zweidreimal hintereinander oder in Abständen wieder; sie sind wie Bücher, in denen man nachschlägt. Ihr Mitschnitt ist von der Ästhetik programmiert und gefordert, auch die „schwarze“ Weitergabe, egal, ob privat, ob p2p. Ob, selbstverständlich, solch mehrmaliges Hören geschieht, steht allein im Ermessen des Hörers, nicht aber des rechtetragenden (!) Rundfunks. Ob solch mehrmaliges Hören geschieht, hängt davon ab, ob der Reiz empfunden wird, es zu tun. Ihn zu erzeugen, ist die didaktische Seite der künstlerischen Arbeit, die Hand freilich in der des ästhetischen Kalküls. Ich gehe von vornherein von der Kopie aus, die bei Klangwerken per se Original ist. Es gibt diesen Unterschied längst schon nicht mehr.* Die „Ausstrahlung“ über das Internet ist ihre Wiederholung immer schon selbst.** Es wird in absehbarer Zeit überhaupt keine andere Technik des Ausstrahlung mehr geben; wann nicht mehr, ist nur noch eine Frage der Speicherkapazitäten, will sagen: Qualität der Kompromierungs-Technologien. Das Argument der hörenden Einmaligkeit ist damit obsolet. Und damit das des zu komplexen Gebildes.

*): Von diesem Gedanken aus wäre auch urheberrechtlich zu argumentieren,
urheberrechtlich im Sinne eines Urheberschutzes. Für das
künstlerische Kalkül indes hat es keine Bedeutung.
**): Finanziell entgolten durch Gebührenabgaben und Aufschläge auf den
Endgeräten. Das wiederum wäre durch die Verwertergesellschaften
an die Künstler weiterzuleiten - um ein weiteres Mal den Urheberschutz-
gedanken zu betonen, nicht aber den der abgetretenen Verwertertrechte.
[Urheberrecht.]
_____________
[Poetologie.]


Gek l a u t. (Und zwar: sofort).



Nonnens Erstaunis.


WAS ICH FORDERE. Die Nr. 139 der Kleinen Litblog-Theorie.

Bei >>>> Tainted Talents.
(Meine eigene lyrische Arbeit beachtet und akzeptieren >>>> Engeler und sein Kreis nicht, ja, sie lehnen, hab ich den Eindruck, sie ab. Das darf mich nicht daran hindern, seine Arbeit und viele seiner Autoren ausgesprochen hochzuschätzen. Es ist diese Freiheit, was ich von anderen Dichtern und von den Menschen überhaupt - erwarte. Ich v e r l a n g e sie.)


>>>> Litblog 140
Litblog 138 <<<<

Genuß und Pracht.

26. Mai 2012, mittags.

(Mehr davon >>>> dort um 13.45 Uhr.)

Die Zikaden und der Tod in Olivier Silligs Erzählung Skoda. Aus dem Französischen übertragen von Claudia Steinitz und verlegt von Ricco Bilger.

[Geschrieben für den Saarländischen Rundfunk.
Dort gesendet am 19. Mai 2012.]
Nach Sonnenuntergang deckt der Lärm der Zikaden alles zu. Die Hitze sinkt nicht mehr drückend herab, sie kehrt um und steigt erstickend vom Boden auf. Überall, so weit das Auge reicht, Garigue; Heidekraut, niedrig, aber dicht, durchsetzt von wilden, unverwüstlichen Gewürzkräutern; ein paar Bäume, klein und gedrungen, vor allem Erdbeerbäume oder verschiedene Arten von Eichen. Es gibt eine Straße. Eine unbefestigte Piste. In dieser pastösen, aber markant skizzierten Landschaft kommt der junge Soldat Stjepan zu Bewußtsein. Seine Kameraden sind tot, liegen neben ihm, blutend. Auf der Piste steht ein Auto.
Stjepan ist wie durch ein Wunder unverletzt geblieben. Was geschehen ist, erfahren wir nicht, weil wir es uns denken können.
Er erhebt sich langsam. Er denkt. Aber er denkt nüchtern, ruhig, ganz so, wie die Sprache ist. Nichts in diesem kleinen Buch geschieht aufgeregt, alles hat den Duft von Ergebenheit – oder den Geruch. Je nach Leserperspektive. Vor einem Geruch schlössen wir aber die Nase. Duft läßt uns weiterlesen. Und weil diese Sprache virtuos gar nicht sein will, sondern nur so nah wie möglich den Dingen, können wir zu lesen nicht mehr aufhören. Bis das Buch zuende ist.
Ein schmales Buch, freilich, gerade achtzig locker gesetzte Seiten hat der edle Zürcher Kleinverlag Ricco Bilgers da verlegt, Olivier Sillig hat es auf Französisch geschrieben und Claudia Steinitz voll einer leisen Liebe ins Deutsche übersetzt. Ganz selten gibt es Redundanzen, zum Beispiel das „so“ in dem Satz: „Sein Beruf, Schildermaler, wird in diesen Zeiten nicht so oft gebraucht“, „nicht oft gebraucht“ wäre bittrer, weil ohne Rethorik. Doch das sind Beckmessereien. Die hintere Tür, die zum Randstreifen, steht offen. Frauenbeine ragen heraus. Sie sind nackt. Diese nackten weißen Frauenbeine machen Stjepan plötzlich wütend; wegen Milivoj, Dragan, Ivan und Ljubo, die tot sind. Er möchte gern etwas Anstand verlangen. Aber er beugt sich vor und streckt den Kopf in Innere. Es ist eine junge Frau. Auch sie ist tot. Auch sie, wie Dragan, Milivoj, Ivan und Ljubo. Sie war dabei, ihr Kind zu stillen.
Damit ist das Thema der Erzählung angeschlagen – Erzählung ist das, nicht Roman, wie auf dem Titel steht. Stjepan, nach etwas Zögern, ja nachdem er schon weitergegangen war, nimmt den Säugling an sich, den er nach dem Auto „Skoda“ nennt; das könne, denkt er, Mädchen- wie Jungenname sein. Er möchte das Baby nicht ausziehn. Hat die Zivilkleidung des ebenfalls toten Fahrers angezogen, die Uniform versteckt. Die Liebe zu dem Kind wächst nicht, sie ist da, sowie er es trägt.
Das ist eine der besonderen Schönheiten dieser Prosa: was sie behauptet, bleibt immer äußerlich. Der Krieg bleibt äußerlich. Er geht die Menschen nichts an. Ihre Seele schweigt und läßt sie handeln, wie es nötig ist. Selbst die Ermordung der einem Nächsten dringt gar nicht recht ins Herz vor. Sie wird allein konstatiert. Stjepan spürt, daß seine Geschichte hier enden wird. Sie werden ihn erschießen. Ganz banal. Für einen Moment sagt er sich, daß er nichts damit zu tun hat. Aber die Frauen (haben es) auch nicht und die Kinder noch weniger. Skoda wäre vielleicht besser bei seiner Mutter geblieben.
So wird auch die in einer Mischung aus Verachtung und Menschlichkeit erlebte Vergewaltigung Stjepans erzählt, fast auch sie ist pastös. Denn der Vergewaltiger, andererseits, hilft Stjepan und dem Baby weiter, er fälscht ihm sogar seinen Ausweis und gibt ihm Geld. Die daraus entstehende hochgradige Ambivalenz läßt Stjepan sich vornehmen, den Mann zu hassen. Auch das bleibt entfremdet. So reagieren, heißt es, Menschen mit tiefen Traumata. Solche wie die hier im Krieg. Jasna steht vor dem Mann. Sie nähert sich mit den Lippen. Er wird sie nicht abweisen, er ist im Begriff, sie zu küssen. Stattdessen fällt er nach hinten, weil ihm ein Dolch den Bauch aufgeschlitzt hat. Dabei hat sich Jasna kaum gerührt sie hat sehr schnell gemacht, ihre Hand war sehr sicher.
Das sehen wir quasi durch Stjepans Augen, der bei der Familie vorübergehend Unterschlupf fand, ja schon mit dem Gedanken spielte, dort zu bleiben. Als die anderen Soldaten erschienen. Da ist selbst das, sich ihrer zu erwehren, ein Vorgang ferner Fremde und die kaum später geschilderte Beerdigung schon ganz für sich allein ein meisterhaftes Stück der kleinen Prosakunst. Ich möchte es Ihnen nicht vorwegnehmen, ebenso wenig wie die große Liebesszene, die geradezu, ebenfalls in ihrem Pragmatismus, eine Erlösung ist durch das, was hier auf dem Balkan überall fehlt: schlichte Normalität.
Auf dem Balkan spielt die Erzählung, zur Zeit des Bürgerkrieges, in dem Jugoslawien zerfiel, weil sich die Nachbarn meuchelten, die über Jahrzehnte miteinander, oft auch freundschaftlich, gelebt. Wir erfahren nicht, wem wir da in Stjepan folgen, ob einem Serben, einem Bosnier, ob einem aus dem Kosovo. Das ist ganz egal.
Nicht egal ist die, bei aller Ergebenheit sämtlicher Personen, der aggressiven wie der milden, in Silligs leiser Sprache leuchtende Menschlichkeit: wie unerwartet Beziehungen aufblühen, wenn immer auch nur kurz, sehr bald von irgend einem Stiefel schon zertreten, und wie es stets, letztlich, darum geht, das Leben zu bewahren, dessentwegen am Ende des Buches eine Tankladung Milch fließt.
Die Milch fließt immer noch. Sie erreicht den jungen Mann, strömt über ihn hinweg. Der Körper ist zusammengekauert, die Beine nah am Brustkorb.In dem Raum dazwischen liegt ein Baby. Die Milch läuft um es herum, das Baby schlürft.

Olivier Sillig
Skoda
Bilgerverlag Zürich
80 Seiten in Dario Benassas‘ sehr kunstvoller Umschlaggestaltung.
17 Euro
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