Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop

e   Marlboro. Prosastücke, Postskriptum Hannover 1981   Die Verwirrung des Gemüts. Roman, List München 1983    Die blutige Trauer des Buchhalters Michael Dolfinger. Lamento/Roman, Herodot Göttingen 1986; Ausgabe Zweiter Hand: Dielmann 2000   Die Orgelpfeifen von Flandern, Novelle, Dielmann Frankfurtmain 1993, dtv München 2001   Wolpertinger oder Das Blau. Roman, Dielmann Frankfurtmain 1993, dtv München 2000   Eine Sizilische Reise, Fantastischer Bericht, Diemann Frankfurtmain 1995, dtv München 1997   Der Arndt-Komplex. Novellen, Rowohlt Reinbek b. Hamburg 1997   Thetis. Anderswelt. Fantastischer Roman, Rowohlt Reinbek b. Hamburg 1998 (Erster Band der Anderswelt-Trilogie)   In New York. Manhattan Roman, Schöffling Frankfurtmain 2000   Buenos Aires. Anderswelt. Kybernetischer Roman, Berlin Verlag Berlin 2001 (Zweiter Band der Anderswelt-Trilogie)   Inzest oder Die Entstehung der Welt. Der Anfang eines Romanes in Briefen, zus. mit Barbara Bongartz, Schreibheft Essen 2002   Meere. Roman, Marebuch Hamburg 2003 (Verbotene Fassung)   Die Illusion ist das Fleisch auf den Dingen. Poetische Features, Elfenbein Berlin 2004   Die Niedertracht der Musik. Dreizehn Erzählungen, tisch7 Köln 2005   Dem Nahsten Orient/Très Proche Orient. Liebesgedichte, deutsch und französisch, Dielmann Frankfurtmain 2007    Meere. Roman, Letzte Fassung. Gesamtabdruck bei Volltext, Wien 2007.

Meere. Roman, „Persische Fassung“, Dielmann Frankfurtmain 2007    Aeolia.Gesang. Gedichtzyklus, mit den Stromboli-Bildern von Harald R. Gratz. Limitierte Auflage ohne ISBN, Galerie Jesse Bielefeld 2008   Kybernetischer Realismus. Heidelberger Vorlesungen, Manutius Heidelberg 2008   Der Engel Ordnungen. Gedichte. Dielmann Frankfurtmain 2009   Selzers Singen. Phantastische Geschichten, Kulturmaschinen Berlin 2010   Azreds Buch. Geschichten und Fiktionen, Kulturmaschinen Berlin 2010   Das bleibende Thier. Bamberger Elegien, Elfenbein Verlag Berlin 2011   Die Fenster von Sainte Chapelle. Reiseerzählung, Kulturmaschinen Berlin 2011   Kleine Theorie des Literarischen Bloggens. ETKBooks Bern 2011   Schöne Literatur muß grausam sein. Aufsätze und Reden I, Kulturmaschinen Berlin 2012   Isabella Maria Vergana. Erzählung. Verlag Die Dschungel in der Kindle-Edition Berlin 2013   Der Gräfenberg-Club. Sonderausgabe. Literaturquickie Hamburg 2013   Argo.Anderswelt. Epischer Roman, Elfenbein Berlin 2013 (Dritter Band der Anderswelt-Trilogie)   James Joyce: Giacomo Joyce. Mit den Übertragungen von Helmut Schulze und Alban Nikolai Herbst, etkBooks Bern 2013    Alban Nikolai Herbst: Traumschiff. Roman. mare 2015.
________________________________


 

Arbeitsnotat. Die Fenster von Sainte Chapelle. Aus der Überarbeitung fürs Buch (4). Les secrets de Paris (15).


ACHTUNG! Daran denken: >>>> Hier laufen zwei Stränge zeitlich simultan: 1) Er ist mit Jenny auf dem Pariser Musikfest unterwegs. Von da aus geht es ins >>>> Paradies von Pantin, von da in den Morgen vor dem Pfingstwunder. 2) Er landet auf dem Kahn inmitten der trottenden Tiertrecks. Von da aus geht es ebenfalls in den Morgen vor dem Pfingstwunder.
Überlegen, ob man das nicht auch räumlich erzählt, so daß die beiden Stränge rißlos ineinander übergehen.

Le-mort-du-CanardLes secrets de Paris 14 <<<<

Nichts ist so wichtig für die Dichtung, wie daß man unmoralisch sei.

Und daß man das auch zeigt.


(DXX).


Das fehlende Mysterium. Die Fenster von Sainte Chapelle. Aus der Überarbeitung fürs Buch (5). Les secrets de Paris (16).

[>>>> „Original”text , im Link 8.51 Uhr.]

Saint-ChapelleEine mit verschmutzten Baumaschinen und Werkzeug vollgestopfte Kammer, eine weitere Tür, so niedrig, daß wir beide uns ducken mußten. Dahinter führte eine sehr enge, aber steinerne Wendeltreppe enorm hinauf. Ich hätte die Stufen zählen sollen, so beklemmend war das. Vor allem, weil es so dämmerig war. Nur von oben streute sich Licht auf uns herab – einem Versprechen gleich, dem ich zustreben mußte. So sehr gut schien es mir zu sein.
Dann wurde es hell. Ein Fenster, das offen in den Tag stand, die Flügel drehten sich nach außen. Der Raum aber fast ebenso nüchtern wie die Kammer unten. Ein rohes Regalbrett lehnte schulterhoch an der Wand. Besen standen herum.
„Bitte hier entlang.”
Auch diese Tür stand auf, wenn auch nur halb. Auch sie war aus Holz, aber in Dunkelbraun gepflegtem. Ein doppelt handbreites Innenkreuz stand im ebenso breiten Rahmen.
„Bitte nicht berühren.”
Wie eigenwillig! Der lahme Mann zwängte sich zwischen der Tür und, wie man dann von dem Kirchenschiff aus sah, ihrem marmornen Rahmen hindurch, ohne das Holz auch nur zu streifen. „Ich darf nicht”, erklärte er so sehr nebenbei, daß es beinahe feierlich klang. „Und Sie dürfen auch nicht. Bitte sehen Sie sich jetzt um. Ich bleibe hier.”
Ein dunkles Messingschild war, von etwas über der Klinke nach rechts versetzt, an ihr angebracht: hellgold die Schrift, hellgold der Rahmen.defense-d-entrerAls ich das las, erschrak ich. Ich meinte nämlich, Enfer herausgelesen zu haben. Beim zweiten Blick erkannte ich meinen Irrtum und lachte leise. Défense d’enfer. Der Zuhälter nickte, als hätte er „Jaja” gesagt. War mein Eindruck aber falsch, daß er sich nicht traute, nur einen Schritt mehr in das Kirchenschiff zu tun? Nur stand ich selbst ganz hilflos da. Überwältigt ist ein besseres Wort. So daß der Zuhälter sagte, als wollte er mich beruhigen: „Es wäre jetzt eben die Zeit. Tut mir leid, daß das Wetter nicht mitspielt.”
„Insch’allah”, erwiderte ich, was ihn mich giftig anblitzen ließ.
„Ich weiß schon”, sagte er, „mit wem ich es zu tun habe. Sie müssen mir das nicht zeigen. Also rühren Sie bitte nichts an.”
Es wurde zunehmend deutlich, daß er meine Gegenwart mißbilligte, zumindest verstand er ihren Grund nicht. Doch nicht nur in nahezu denselben Worten, nein, auch in Ediths Tonfall, sagte er: „Lassen Sie sich Zeit, wir haben keine Eile.” Und setzte hinzu: „Verzeihen Sie meine Respektlosigkeit. Wir haben nicht oft so hohen Besuch.”
Seine rechte Hand schweifte langsam ins Rund. „Bitte sehr” hieß das und war nun endgültig als Einladung gemeint. Dann beugte er sich etwas vor und hangelte nach der Lehne eines der zahllosen hellgrauen Plastikstühle, die am Fuß der hohen Fensterwände rings aufgestellt waren; er zog ihn heran. Zwei der Stuhlbeine quietschten auf den marmornen Mosaiken des Bodens.
Es war dann völlig still. Von Paris hörte man überhaupt nichts mehr. Nur das schwere Atmen des Mannes pfiff leise durch den Raum, in den ich ganz hineintrat, hoch über mir einen tiefblauen, sternübersäten Himmel, den goldene Tangenten gliederten, als wärn Meridiane zur Zierde erschaffen. Schon das wär Grund genug gewesen, mich ebenfalls zu setzen, um hinaufzumeditieren. Doch nahm ein schleichender Schrecken von mir Besitz. Denn als ich die Fenster sah, wirklich sah, begriff ich, daß es einen Zusammenhang gab, dessen Ursache ich in mir selbst finden mußte: einen Zusammenhang nämlich mit jener anderen, dieser fensterlosen Kapelle, die mir Edith schon am ersten Tag meines Aufenthaltes gezeigt hatte. Beide Kapellen, verstand ich, waren identisch, aber identisch aus einer anderen Zeit... nein, das ist falsch. Sondern identisch aus einem anderen Raum. Man bekommt ein Schwindeln, wenn man das denkt., - wenn man Gleichzeitigkeit als einen Raum denkt. Und ebenso gab es einen Zusammenhang mit dem Prada-Boot.
Nein, die Farben schwammen nicht und glühten nicht annähernd so, wie mir Melusine das geschrieben hatte. Sondern die riesigen Fenster waren pastellen gedeckt. Nicht nur wegen des weiteren Aufbaus, der die Stirnseite der Kapelle eingerüstet hatte, denn auch drinnen wurde restauriert, wirkte die größte Pracht, wirkten die byzantinischen Säulen, die arabesken Fresken, die wie Tapeten aussahn, wirkte alles Gold, selbst die Rosette ernüchtert. Woran lag das? Das Schiff wies mich ab. Meinen Kopf im Nacken, ging ich umher. Welche Herrlichkeiten! Doch sie waren nicht meine. Ich setzte mich, versuchte nachzudenken. Der Atem des Zuhälters pfiff unentwegt. Er schien furchtbar unter Asthma zu leiden. Da war Le Duchesse, da war Edith. Jenny heißt sie, Jenny Michel. Auch Raffaela gab es, gar keine Frage. Aber gab es, zum Beispiel, Berlin? Gab es meine Frankfurtmainer Freunde noch, Leukerts, Do, Böhmers? Und die Löwin? Sie hielt das Seil, an dem ich mich tief herunterließ.
Dachte ich.
Dann verstand ich wieder. Verstand nun, was fehlte. Es gab kein Mysterium, die Kirche war nicht mehr geweiht. Daran lag es. Ganz Paris, für mich, war nicht mehr geweiht. Ich möge mich, hatte der Gräfin gesagt, über meine Vergangenheit in meine Jugend zurückbiegen. Daran mußte ich denken. Wie kläglich ich geworden war seit damals, da ich dieser Stadt eine Novelle geschrieben. Jahrelang lag sie unbearbeitet herum, bis ich sie wieder vornahm. Das schmale Buch erschien vor siebzehn Jahren, fünfundzwanzig Jahre nach dem ersten Entwurf. Die Orgelpfeifen von Flandern. Besorgen Sie es sich. Es ist für meine Lästerer geschrieben – nicht nur, aber auch: für solche wie Betty B. und >>>> Edith88. Damit sie zu verstehen lernen und ich sie nicht immer mit Jenny durcheinanderbringen muß. Da ist mir Paris noch heilig gewesen. Aber dann fiel ich

ab


Le-mort-du-Canard Les secrets de Paris 15 <<<<

Wege

Himmelsverwoben
ist dein Zwischengesicht.

Entäußert sind deine Worte
rückwärtssterbende Namen im Wind.

Du innerst, Mensch.

Waagerecht flimmert der Tod.

Schließ die Augen,
das Licht blüht auf in Farben.

Früh am Morgen trägt ein Vogel
die verschütteten Klagen Anheim:

-Aufgehoben-

liegt dein blutig Wesen
in den Dingen, die du einst benannt.

Auf deinen ewigen Wegen zu dir,
birgt ein Engel dein Gesicht in seinen Händen,
dich selbst, noch vor der Zeit,

die sich wieder löst: im werdenden Vergessen.

Im Schauerfeld (1). Arno Schmidt, zitiert nach Hans Sachs.


>>>> d o r t.

Zu Hettches Liebe eines Vaters. Im Arbeitsjournal des Mittwochs, dem 13. Oktober 2010. Frankfurt am Main, Heidelberg, Mannheim. Kein Roman über Väter. Nur ein wirklich großes Buch: ein Abtestat für das Versagen. Am dritten Tag vor Sizilien und dem zweiten vor Neapel. Zur solidarischen Denkeungsart.

5.39 Uhr:
[Mona ’ti Golan. Pergolesi, Stabat Mater.]
Hettche-Die-Liebe-der-VaeterDer Einwand kam von M., da war es schon nachts: „Wieso im Plural? - Erzähle! Du siehst ganz mitgenommen aus.” Ich hatte seit kurz nach sieben Uhr abends nur gelesen; bis S. 154 von den 224 Seiten bin ich gekommen; knapp hundert Seiten also waren das. Ja, sie hatten mich mitgenommen.
Es ist >>>> kein umfangreiches Buch, aber intensiv. Was, für mich, sicher nicht nur an dieser sehr genauen, vor allem sehr bildkräftigen Sprache liegt, an der Kunst dieser Sprache: sie hat sie nicht, sondern ist sie. Wenn ich anfange, mir Formulierungen anzustreichen, wenn ich immer wieder Wörter oben auf den Buchrand abschreibe, wenn ich Ausrufezeichen an den Rand setze und fast nie etwas ankringele und gleichzeitig weiß, daß ich dieses Buch nicht mehr vergessen werde, dann ist es eines, das ich nicht nur mehr „gelungen” nennen kann, sondern dann habe ich angefangen zu bewundern. Wo las ich solche Beschreibungen von Wellen schon einmal, je? von Sturm? von Häusern? wo solche Details von Pflanzen und – Sand? Wer fällt mir ein? Daß Hettche für den Sturm die Wilde Jagd hernimmt, ist mir aus meiner Welt vertraut, >>>> WOLPERTINGER„geschichtlich”, kann man sagen, aber etwas anderes, ganz anderes wurde hier daraus und gehört ja zu Sylt auch hinzu, wo das Buch spielt. Ebenfalls vertraut ist mir, von >>>>MEERE, wie an entscheidenden dramatischen Stellen, ja vor ihnen warnend, Zeilen eines Gedichtes zum Träger der Handlung werden; aber da stehen wir beide, Hettche und ich, unter den Dichtern von Romanen gleichfalls nicht allein. Meine Mitgenommenheit hat auch damit nichts zu tun, daß es zwischen „Die Liebe der Väter” und „Meere” einige grundlegende Beziehung gibt, ein höchst Persönliches, Nahes, das zugleich zu jedem von uns Distanz hält; ein zumal Gerechtes im erzählenden Umgang mit den Personen, wenn man denn unbedingt will, daß da Realität vorangegangen sei und sei. Das schließt den Dichter ganz ein und ist doch völlig vage. Aber der Schmerz! Auch hier, auch bei Hettche, gibt es, wie in MEERE, einen Schlag mitten ins Gesicht eines geliebten Menschen. Auch hier ist der Schlag so heftig, daß der geliebte Mensch blutet. - „Du siehst ganz mitgenommen aus.”
Ich sah auf. Keine Musik lief. Ich schenkte ihr Wein ein.
„Solche Sätze”, sagte ich und blätterte. Zitierte:Dieser blaue Leinenband aber hat noch das richtige Gewicht, er öffnet sich von selbst, und die Finger gleiten widerstandslos über das feine Papier, gerade dünn genug, damit man, gegen das Licht, den Umriß des umseitigen Textes durchscheinen sieht. So muß es sein, das gibt dem Blick Halt. Meine vergehende Welt.„Das ist”, sage ich, „der Roman eines Mannes kurz vorm Altern. Er nimmt Abschied. Ich verstehe das nicht, es macht mich fruchtbar betroffen, ja beklemmt mich.”
„Warum?”
„Weil Hettche so viel jünger ist als ich. Weil ich mich erinnere, wie jung er war, als wir, in den Achtzigern, er und einige andere, sich fast ein Jahr lang jeden Mittwoch bei mir trafen, als ich in der Endphase des Wolpertingers steckte und, um mich zur Arbei zu zwingen, an jedem dieser Mittwoche das in der verstrichenen Woche jeweils neu entstandene Kapitel aus dem Roman vorlas. Weil es nicht richtig ist, daß ein junger Mann schneller altert als der ältere, der ihm eine zeitlang Mentor war. Aber hör bitte weiter:”Es geht darum, daß wir uns Dinge vorstellen können, die es nicht gibt, und uns ans Dinge erinnern, die waren, und daß wir im Gegensatz zu allen anderen Wesen einsam sind. Keinen Menschen gibt es zu wenig, nicht einen Gedanken, ein Blick, ein Gefühl gibt es zu viel für die Liebe, die uns fehlt. Wie man diese Leere nur aushalten soll, wenn man stirbt? Wie macht man das?„Oder die Kunst, Menschen zu typisieren:”Kathrin sieht sich überrascht nach mir um, und zum ersten Mal bemerke ich die maushafte Witterung, die m ihre Nase steht. Und wie sie beim Sprechen den Mund spitzt.„Und gleich hier, auf der Vorseite:”Kurz geht mein Blick hinaus aufs Meer. Die Schweißsäume der Gischt gleiten ohne Pause auf dem nackten Wasser heran, dessen schwarze ölige Haut sich hin und her wirft, als erwartete es noch viel von der Nacht.„Die Schweißsäume der Gischt: Mona, das ist groß! Oder wie Hettche ein Klischee kunstvollst benutzen kann, weil er es im Nachsatz sogleich durch Sinnlichkeit aufhebt:”Ihre langen Glieder waren die eines Fohlens, ihre Nase unter meinem linken Ohr.„Da kann niemand mehr zweifeln. Das ist einer der großen Schriftsteller, die wir in Deutschland derzeit haben. Oder daran zu denken, wie er eine Geistererzählung in seinen Roman hineinbaut, sich hineinerzählen läßt von einem Alten, so ungefähr und doch so fieberhaft geschärft, daß nicht nur der Erzähler des Romans ins unheimliche Beben kommt, gerade w e i l er abwehrt, abwehren muß. Dabei ist es die Tochter, die in sein Bewußtsein diese Luke erst geöffnet hat, die versperrte, wegrationalisierte.Wie oft hier, nebenbei, von vernünftigen Entscheidungen gesprochen wird, die Handlungen bestimmten, obwohl jeder Satz Hettches klarmacht, daß die g a r nichts bestimmen, und wenn, dann leiten sich Katastrophen ein.”
„Aber was hat dich so mitgenommen? Es gibt viele Romane, die groß sind.”
„Nicht viele, gemessen an der Zeit. Aber einige, ja.”
Meine Mitgenommenheit hat damit zu tun, daß auch ich ein Vater bin. Und daß ich deshalb nicht verstehe. Ich verstehe nicht, wie ein Vater zulassen kann, was der Vater in Hettches Roman zuließ. Ich verstehe nicht, wie man von seinem Kind weggehen kann. Ich verstehe nicht, wie man zulassen kann, daß man es nur an Wochenenden sieht, allen zweien oder noch seltener. Ich verstehe nicht, wie ein Vater, der ein Kind hat, in eine andere Stadt ziehen kann, anstatt bei seinem Kind zu bleiben – egal, welche berufliche Situation ihn angeblich zwingt. Ich verstehe schon nicht, wie man nach einer solchen Nacht zu dem Entschluß finden kann abzutreiben:Eines Morgens haben wir uns nicht geküßt, sondern nur angesehen, während wir uns liebten. Eigentlich haben wir uns immer angesehen dabei, doch an diesem Morgen war etwas anders als sonst. Wir wußten, wir machen ein Kind (…). Wir flüsterten die ganze Zeit miteinander. Ich komme, komm in mir, ja, ich auch.„Und es sagt bedrückend viel über den Erzähler, wenn er da gleich hintendransetzt:”In der Art.„In der Art, Mona!” Ich lese noch etwas vor:”Wir hatten uns schnell darauf geeinigt, doch lieber kein Kind zu wollen.„Was ist das für eine Gemütlosigkeit, für eine Funktionalität im Umgang mit einem ganz zweifellos mystischen Erleben während der Liebesvereinigung, was für eine Abwehr! Hettches Romankunst besteht unter anderem darin, daß dieses abgewehrte Mystische logischerweise wiederkehrt und sich wider den richtet, der abgewehrt hat. Das ist eine grandiose Konstruktion, aber eben auch furchtbar tragisch, weil es als Tochter wiederkehrt, a u s dem Mund der Tochter und in der Gestalt einer unversöhnlichen Entfremdung. Solche Gewalt wurde dem derart mystisch gezeugten Kind angetan. Was mich betroffen macht, ist die Kraft, mit der sich die Lebensschwäche einen wahren Roman schreibt. Und wie stumm dieser Vater immer ist, wie völlig versteift in sein zerrüttetes Verhältnis zur Mutter des Kindes und daß er nicht die Fingerspitze einer Grandezza besitzt, überhaupt keine innere Großzügigkeit, beide nicht, die Mutter u n d der Vater, für Belange ihres Kindes die eigenen Nöte und Begehren kleinsein zu lassen. Das ist aber ja kein dummer Mann, sondern ein hochgebildeter Mann, ein feinsinniger Mann, ein Mann, der Empathie haben müßte. Aber er ist ein Schwächling.”
„Du bist gegenüber der Schwäche ungerecht. Immer bist du ungerecht gegen Schwäche.”
Ich schüttelte den Kopf. „Ich bin gegen die Schwäche gerecht. Es geht um ein Kind.”
„Es ist ein Roman.”
„Ja. Selbstverständlich. Es ist ein Roman. Aber er hat die Kraft, daß die Fiktion in mir so wirklich wird, daß ich erschüttert bin und voller Verachtung.”
„Aber wieso kam das Kind dann dennoch zur Welt?”
„Für die Abtreibung, habe der Arzt gesagt, sei es noch zu früh, und die Pille danach habe er nicht verschrieben. So sei die Abtreibung, lese ich bisher, sozusagen verschleppt worden. Wie das gehen soll, weiß ich auch nicht. Aber ich bin eben auch erst auf Seite 154, mir fehlen noch etwa siebzig Seiten. Dennoch erzählt dieser Vater, die Mutter habe das Kind gegen seinen Willen auf die Welt gebracht. Mona! Er hat es nicht, wie die Vereinigungsszene erzählt, gegen seinen Willen gezeugt. Er hat es zeugen wollen. Wenn etwas so ist, dann gibt es kein GegenMeinenWillen mehr, sondern man hat dann dazusein – egal, was sonst noch wird, egal, ob man sich vom Partner entfernt. Wenn man ein Vater i s t.” Ich spürte, wie ich mich immer mehr erregte. M. versuchte zu schlichten, ich wurde wütend, goß Calvados nach, goß Wein nach, rauchte. Es war schon bald halb zwei Uhr nachts.
„Wieso im Plural?” fragte sie plötzlich.
„Bitte?”
„Du siehst ganz mitgenommen aus. Erzähle!”
„Es ist kein Buch über die Liebe der Väter. Es gibt andere Väter, viele, die auch dasind.”
„Dann ist es anmaßend”, sagte sie, „das Buch ‚Die Liebe d e r Väter’ zu nennen.”
„Es ist verlogen”, sagte ich, „das zu tun. Es entschuldigt sich damit, daß alle Väter so seien wie dieser Schwächling.”
„Das glaube ich nicht. Sondern dieser Titel... er guckt auf den Markt.”
„Um so widerlicher.”
„Du bist schon wieder ungerecht.”
„Da b i n ich ungerecht, ja! Und ich bin gerecht. Denn um die Väter geht es nicht, sondern um das Kind.”
Sie winkte ab. „Auch ich bin ungerecht, da ich das Buch nicht kenne, sondern nur dem zuhöre, was du darstellst. Ich hab’s ja nicht gelesen. Aber ich w e r d e es lesen.”
„Jeder sollte es lesen, der die Literatur liebt, die Romandichtung liebt. Es ist der bewundernswerte Roman einer Liebe von Vätern, die das nicht sein wollten und auch niemals wurden und deshalb zu schwach waren, dazusein für ihr Kind. Die eigentliche Größe dieses Buches aber, jenseits seiner enormen Kunst, besteht darin, daß es uns zeigt, wie solche Väter trotzdem lieben, ihre Kinder lieben, und zwar tief – aber je tiefer sie sie lieben, desto hilfloser sind sie. Ich wüßte keinen vor diesem Dichter Hettche, der so etwas schon einmal darzustellen gewagt hätte bis in die furchtbaste Selbstentblößung. Die großen Sätze, die sein Roman auf jeder Seite hat, entgelten das Versagen. Das ist, als kaufte dieses Buch sich mit Schönheit von der Schuld ab. Es ist geradezu ein Abtestat fürs Liebesversagen.”

[Pergolesi, Salve Regina.]

7.09 Uhr:
Da war es nun schon nach zwei Uhr nachts, und immer noch saßen wir beisammen, M. und ich. Und sprachen. Obwohl wir eigentlich hatten spielen wollen. Hettche hatte mich dafür zu weich gemacht. Ich war sein Erzähler und wollte nur noch meinen Kopf in eine Schulterbeuge legen. Eigentlich wollte ich weinen. Ich bin ein hartgesottener Leser. Wenn dem noch sowas passiert! Und es hält an. Noch um fünf, als ich aufstand, lag die Trauer schwer in mir. So daß ich mich, ohne schon, wie’s sich gehört, mein >>>> DTs zu formulieren, gleich an den Wohnzimmertisch setzte, um damit umzugehen, wie Hettches Buch in mir wühlt.

[Eine erste Diskussion zu dem Roman >>>> d o r t.
(Nachgetragen, 28.10.: ANH.)


Das steht jetzt hier. Wenn Sie wollen, mögen Sie es eine Vorkritik nennen. Das ist mir wurscht, wie Sie’s nennen und ob Sie meinen, ich hätte siebzig Seiten vor Schluß noch gar keine Berechtigung. Statt dessen beschäftigt mich >>>> Alfred 23 Harth, der heute nacht viele, vielleicht auch alle seiner Kommentare gelöscht hat, weil er sich irrerweise mit „Private Tierheim James” angesprochen und davon erniedrigt fühlte, obwohl diese Erfindung nüscht mit ihm zu tun hatte. Er schreibt mir nun in einer privaten Post:Ich glaube, ich habe Sie nur als Splitterwesen, diffus, kennengelernt. Splitter aus sich selbst, ihren löschenden Damen - von denen ich erst zuletzt erfuhr - aus Ihren Avataren und den Spielen damit. Hat viel Spaß gemacht und ich folgte auch brav Ihrer Einladung, Privates aufzudecken in die Dsch, was ich auch tat in Massen, soweit ich dies überschauen kann. Ihre Bemerkung „Privates Tierheim James“ machte mich zuletzt wieder stutzig und stieß mich dann ab.Da haben Sie was missverstanden, insofern dies auf mich bezogen sein sollte & wenn Sie das jetzt verneinen, haben Sie halt doch mal gelogen und ausserdem: Einmal hü einmal hot – was meinen Sie?Ich meine, ganz deutlich, daß mich Divenhaftigkeit nicht interessiert. Mir hat Harths Arbeit an und mit Der Dschungel gut gefallen, sehr gut sogar, aber ich bin nicht dazu da, ständig „Toll toll!” auszurufen. Sie merken, ich bin verärgert, denn mit den gelöschten Kommentaren sind andere Kommentare a u c h weggelöscht, notwendigerweise, so, wie die Kommentarbäume halt wachsen in Der Dschungel. Da kam nun die Motorsäge und krisch etwas vom Walde nieder... Genug davon. Ich bin nicht dazu da, Kommentatoren zu streicheln. Daß ich Harth nach wie vor für einen großen Sexophonisten halte, hat hiermit überhaupt nichts zu tun und wird davon in keiner Weise abgemildert, anders als er mir schreibt:Ich fühle mich jedenfalls während des Aufenthalts von einem „gigantischen Saxofonisten“ (Ihre Rede, >>>> so etwa im August in FB) zum Däumling upjegradet, Sir. Deswegen geh ich raus.Genug. Die Leute müssen allein zu gehen lernen: besonders die, die sich in Die Dschungel wagen. Denn das ist kein Betreutes Wohnen. >>>> Sir.

Ich will M. den Kaffee bereiten und ihn ihr ans Bett bringen. Morgens wird noch etwas gearbeitet, um 15.18 Uhr fährt mein IC nach Heidelberg zum Seminar. Nachts dann der Traditionsplausch mit Kühlmann. Und morgen früh zurück nach Berlin.

Guten Morgen, Leserin und Leser.

9.22 Uhr:
„Ich habe nicht gesagt, du seiest ungerecht gegen Schwäche. Ich habe gesagt: Du bist unduldsam gegen Schwäche. Das ist etwas anderes. Du hast für Schwäche kein Mitgefühl.”
Dies M.’s Protest, als ich ihr eben meinen Dialog zu Hettches Buch vorlas.
„Mein Mitgefühl”, sagte ich, „gehört dem Kind. Und auch das Kind ist schwach. Ich würde es niemals ‚Schwächling’ nennen. Ja, das Kind ist eigentlich schwach, weil es gar keine Chance hat, sich irgendwie stolz, geschweige frei zu verhalten. Wenn es diese Chance bekommt, ist es schon erwachsen, und dann sind die Wunden unheilbar Narben.Wir alle, ich auch, fügen unseren Kindern Wunden zu, aber Wunden aus Schwäche zuzufügen, einem Kind, ist nicht entschuldbar... es sei denn durch einen solchen Roman.”

12.08 Uhr:
Zu quasi nichts anderem gekommen, >>>> als mich mit Herrn Gröbel auseinanderzusetzen; man fragt sich in der Tat: was machen diese Leute dauernd hier? Niemand zwingt sie doch, meine Texte oder gar Die Dschungel zu lesen, da hat (über den Nick mußte ich immerhin lachen) >>>> „sense” schon recht. Oder stört mein sich dabei niemandem aufdrängender, sondern einfach nur vor sich hinschreibender Konservatismus, und daß ich mich keinem Mainstream einpassen mag, so s e h r? reicht allein d a s bereits hin, um die Leute fuchsig zu machen? Sind wir schon so weit, daß, wenn einer die Oper liebt und den Pop degoutant findet, das als ein Angriff auf die Gruppe empfunden wird? Ich habe in weißGöttin schon vielen Weblogs gelesen und nicht wenige gefielen mir; dennoch fand ich oft nicht die Zeit, sie mitzuverfolgen – wie also hätte ich, selbst wenn ich wollte, weiterlesen können dort, wo mir etwas n i c h t, ja so wenig gefiel, daß sich der Magen herumgedreht hat wie nun dem Herrn Gröbel. Für was dient Die Dschungel solchen Menschen, welch eine Projektionsfläche, offenbar, ist aufgespannt durch sie, daß sich die Herbst-Verächter ständig daran reiben, ja abarbeiten müssen? Oder halten sie mich für eine – Gefahr? gar eine öffentliche? so vielleicht, wie man Terroristen schon im Vorfeld bekämpft, oder Faschisten? Sind Mainstream-Gegner nun bereits Feinde des „Systems”, und die Milch der solidarischen Denkungsart schäumt, weil einer Kopftuch trägt anstatt Kappen von Nike? und sie schäumt über? und abermals über? aber muß doch, und muß immer weiter, in meinen Becher hinein - Leute! Wer den Pop liebt, darf das doch tun! Aber warum müssen das alle?

14.49 Uhr:
[Hauptbahnhof FFM, Gleis 13, Bank am Raucherbereich.]
Eine seltsam ruhige Stimmung ist das gerade im Haptbahnhof, vor allem hier, etwas außerhalb der Dachüberwölbung. Ich bin etwas mehr als eine halbe Stunde zu früh hergekommen, weil ich nicht einschätzen konnte, welch Andrang vor den Schaltern sei. Es war g a r kein Andrang, so bekam ich meine Fahrscheine schnell, auch den gleich für morgen zurück nach Berlin. Also etwas Ruhe jetzt. Ich rauche Eckstein ohne: lang nicht mehr in den Fingern gehabt, solch ein Päckchen. Was >>>> Alfred 23 Harth anbelangt, so tut mir die Entwicklung leid und auch weh; ich weiß aber wirklich nicht, inwieweit ich schuld daran trage. Schon, wieso er "Private Tierheim James" ausgerechnet auf sich bezog, ist mir schleierhaft. Vielleicht liegt hier eine derjenigen Dyamiken des Netzes vor, die immer wieder zu Mißverständnissen führen; ich kenne sowas auch aus Chats. Wenn man da dann nicht lacht und drüber weggeht, verhärtet sich alles, und die Beziehung ist futsch. Es hat auch gar keinen Sinn, da noch etwas retten zu wollen, will man nicht so dauernde wie unangemessene Gesten der Zerknirschung und Selbstbezichtigungen machen. Man kann sich dann nur stolz in den Verlust schicken.

Während der Fahrt werde ich lesen, so daß ich nicht weiß, wann ich heute wieder ins Netz kommen werde; kann sein, des Nachts, kann auch sein, erst morgen. Nach dem Seminar wird essen gegangen und vor dem Seminar mit dem Freund Kaffee getrunken, vielleicht ein Stück Kuchen gegessen und - erzählt. Wir sahen uns lange nicht mehr. Wie auch immer, Leser: Lesestoff gibt es für Sie hier genug. Schauen Sie einfach durch die Rubriken.



Dem Gott der Gestalter ein „Darf ich das?” Bei den Nacktputzerinnen. Im Schauerfeld (3).


>>>> D o r t.

Let it bleed

it may last longer than a life
in turn a mistress into a wife.

Der Multifunktionsautor ODER Jule D. Körber.


Was ich bin. Nämlich >>>> d o r t.

Soeben erschienen. Azreds Buch: Geschichten & Fiktionen. Kulturmaschinen Berlin. ANH, Gesammelte Erzählungen II.


258 Seiten, broschiert. 16,80 Euro

>>>> Bestellungen (Webshop).
 



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