Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop

e   Marlboro. Prosastücke, Postskriptum Hannover 1981   Die Verwirrung des Gemüts. Roman, List München 1983    Die blutige Trauer des Buchhalters Michael Dolfinger. Lamento/Roman, Herodot Göttingen 1986; Ausgabe Zweiter Hand: Dielmann 2000   Die Orgelpfeifen von Flandern, Novelle, Dielmann Frankfurtmain 1993, dtv München 2001   Wolpertinger oder Das Blau. Roman, Dielmann Frankfurtmain 1993, dtv München 2000   Eine Sizilische Reise, Fantastischer Bericht, Diemann Frankfurtmain 1995, dtv München 1997   Der Arndt-Komplex. Novellen, Rowohlt Reinbek b. Hamburg 1997   Thetis. Anderswelt. Fantastischer Roman, Rowohlt Reinbek b. Hamburg 1998 (Erster Band der Anderswelt-Trilogie)   In New York. Manhattan Roman, Schöffling Frankfurtmain 2000   Buenos Aires. Anderswelt. Kybernetischer Roman, Berlin Verlag Berlin 2001 (Zweiter Band der Anderswelt-Trilogie)   Inzest oder Die Entstehung der Welt. Der Anfang eines Romanes in Briefen, zus. mit Barbara Bongartz, Schreibheft Essen 2002   Meere. Roman, Marebuch Hamburg 2003 (Verbotene Fassung)   Die Illusion ist das Fleisch auf den Dingen. Poetische Features, Elfenbein Berlin 2004   Die Niedertracht der Musik. Dreizehn Erzählungen, tisch7 Köln 2005   Dem Nahsten Orient/Très Proche Orient. Liebesgedichte, deutsch und französisch, Dielmann Frankfurtmain 2007    Meere. Roman, Letzte Fassung. Gesamtabdruck bei Volltext, Wien 2007.

Meere. Roman, „Persische Fassung“, Dielmann Frankfurtmain 2007    Aeolia.Gesang. Gedichtzyklus, mit den Stromboli-Bildern von Harald R. Gratz. Limitierte Auflage ohne ISBN, Galerie Jesse Bielefeld 2008   Kybernetischer Realismus. Heidelberger Vorlesungen, Manutius Heidelberg 2008   Der Engel Ordnungen. Gedichte. Dielmann Frankfurtmain 2009   Selzers Singen. Phantastische Geschichten, Kulturmaschinen Berlin 2010   Azreds Buch. Geschichten und Fiktionen, Kulturmaschinen Berlin 2010   Das bleibende Thier. Bamberger Elegien, Elfenbein Verlag Berlin 2011   Die Fenster von Sainte Chapelle. Reiseerzählung, Kulturmaschinen Berlin 2011   Kleine Theorie des Literarischen Bloggens. ETKBooks Bern 2011   Schöne Literatur muß grausam sein. Aufsätze und Reden I, Kulturmaschinen Berlin 2012   Isabella Maria Vergana. Erzählung. Verlag Die Dschungel in der Kindle-Edition Berlin 2013   Der Gräfenberg-Club. Sonderausgabe. Literaturquickie Hamburg 2013   Argo.Anderswelt. Epischer Roman, Elfenbein Berlin 2013 (Dritter Band der Anderswelt-Trilogie)   James Joyce: Giacomo Joyce. Mit den Übertragungen von Helmut Schulze und Alban Nikolai Herbst, etkBooks Bern 2013    Alban Nikolai Herbst: Traumschiff. Roman. mare 2015.
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Das Blei und der Wind: den Kapverden entgegen. PP161: Der dreißigste auf den einunddreißigsten Tag der Großen Fahrt zur See. Donnerstag, der 1. Mai 2014. Vierter Seetag nach Ascension.

(17.37 Uhr, i.e. 19.37 Uhr Ihrer Zeit.
MS Astor, oberes Achterdeck.
13º48‘ N/23º32‘ W.
Kurs 304º NW.
Schwere Wolken, manchmal Sonne.)
In der Tat schickt uns Britannien offenbar unentwegte Wettergrüße. Sie werden‘s nicht glauben, aber bereits jetzt muß ich einen Pullover überziehen, wenigstens die Schals umbinden, sie aber mit einem Knoten am Körper festmachen, sonst trägt auch diese der Wind mir davon. Nur wenn die Sonne durchkommt, ist die Äquatornähe noch zu spüren. Imgrunde absurd, daß ich hier friere. Ich trinke aus Trotz den Campari Soda dagegen an, habe im übrigen, deshalb erscheint dieser Text erst so spät, den Tag mit dem Abbau des Alkohols von gestern verbracht, war erst gegen Mittag fähig, wenigstens den Gogolin weiter- und nun auch, Seelenlähmung, ganz zuende zu lesen. Als nächstes stehen Friedrich Rückerts Makamen das Hariri auf dem Programm meines Kindles.
Schwer gesoffen hab ich gestern nacht, nicht wegen der Kälte, nein, sondern als mich die Jungs in der Bar dazu brachten, mit ihnen zu würfeln, weil nämlich unser Officer H. hatte sicher verkündet, er sei nicht zu schlagen. Das forderte mich heraus. Wer verlor, mußte die jeweils kommende Runde bezahlen; die Zechen insgesamt warn hoch. Ich kenne die Psychologien der Spieler; imgrunde gebe ich an Bord längst gar kein Geld mehr aus, abgesehen von der prima teuren Fußpflege, die ich mir, Reflexzonenmassage inklusive, vor drei Tagen angedeihen ließ, um mich fürs verpaßte Ascension schadlos zu halten. Die junge Thai operierte ganz ohne Klingen, nahm eine Art rauhen Spatel für die zu enthärtenden Ballen und Fersen und, anders läßt sich das nicht nennen, arbeitete, nämlich körperlich hart. Ich konnte die Kraft nur bewundern, die sie in ihren zarten Unterarmen hat. Zart war der Strich ihrer Hand, mit der sie Glätte überprüfte. So schloß ich die Augen und genoß.

Blei das Meer im Moment, über fast den ganzen Tag, flüssiges Blei ohne nennenswerte Dünung, wiewohl der Wind, der Wind, der Wind. Nachdem ich noch morgens gewankt war zum Kaffee, goß ich mich hinzu, lag auf der Liege und war von der inneren Unzucht durchströmt, eine Art „reines“ physiologisches Fühlen. Die kurze aber feste Jeans behielt ich besser an. Noch um elf, als ich für einen weitren Kaffee aufstand, hob sich der Kreislauf und ging in die Knie, hob sich wieder, so surfte ich zur Kaffeestation und surfte sogleich wieder zurück auf die Liege, an Schreiben war da nicht zu denken. Es war dann ein Akt der Vernunft, ein bißchen was zu essen und das zu mir Genommene, ohne daß ich selbst etwas dazutat, sich in mir aufspalten zu lassen, auf daß es den Organen klug zugutekomme.
Hat funktioniert, ich wollte sogar – jetzt aber! dachte ich, da war es etwa fünf – im Sportraum trainieren, vorher kurz mit der Löwin skypen, die aber nicht da war, doch eine Nachricht geschickt hatte, da sei ja gar kein neuer Text. So daß mich mich entschloß, ihn nun doch noch zu schreiben. Was ich hiermit tue, auch wenn es nicht eigentlich Neues gibt. Andererseits, ich spreche wenig zwar an Bord, schon wegen der anderen Sprache, aber unausgesetzt spricht ES in mir, eine Art fremdes Selbstgespräch, das gedacht wird, kaum je einhält, und sich immer wieder in mein schwarzen Notizbuch schreibt. Gestern war ein, so gesehen, produktiver Tag. Dazu Gogolins deutscher, sehr sehr deutscher Roman, der zugleich Zeitspiegel ist, der siebziger Jahre und ihrer intellektuellen Verfaßtheit, die zwar begreift, doch hilflos fühlt und diese stumpfe, aus dem Schock rührende Fühllosigkeit weiterreicht, wobei sich geschichtliches böses Erbe mit dumpfer Kindheit auf das fatalste amalgamiert hat. Ich erinnere mich, daß ich mit etwa zwanzig schrieb: „Wir sind die Generation der Verschwindenden“ - was damals bei mir, dem Jüngeren, ein empfundener Reflex war, ist bei Gogolins Protagonist ein tatsächliches Versinken. Damals auch, nicht in Literatur allein, gab es die ersten sogenannten Aussteiger, es war geradezu eine Welle, aber eine der, anders als in Gogolins Roman, Kraft. Achternbusch formulierte „Du hast keine Chance, aber nutze sie“; bei Gogolin streicht sich die zweite Satzhälfte durch. Und man erfaßt, daß keine der Romanpersonen, auch nicht der Chronist, eine Chance hatte.
Es ist ein, auch in seiner hochsensiblen Formung, nicht dunkles, sondern graues Buch, eines, das eine Schuld auf sich nimmt, die man nicht trägt noch jemals tragen könnte. Allenfalls am Ende schimmert etwas wie Hoffnung durch, eine seltsam hölderlinsche, die ihr Macht aus der Unmöglichkeit bezieht. Da, auf der letzten Seite des Buches, knüpft es an Achternbusch an.
***

Der Auftrag von Volltext kam, für Lars Steffens Popps >>>> Haus der Halluzinationen. Abzugeben am 31. Mai. So winkt die Arbeitswohnung schon.

(Meine bei Volltext erschienene Fahlmann-Rezensionen werde ich nach meiner Rückkehr in Die Dschungel stellen, damit der Text leicht greifbar bleibt.)
***

Aus dem schwarzen Notizbuch, gestern:16.43 Uhr. Permanent wird gespielt an Bord, da lag ich mit M. Bayoon bereits richtig; nur ist es nicht, wie meine Wahl war, Domino, nirgends, sondern es sind Kartenspiele und Scrabble und auf dem Oberdeck Schach; ich sah das erste Reisebackgammon im Überseeclub, leider mit häßlichen Kunststoffplättchen als Steinen, und es wird „geschummelt“; ich kenn das Spiel noch gut aus meiner Wiepersdorfer Zeit, da war‘s mit Marcel Beyer die ganzen Nächte durchgegangen.(: Als ich dieses notierte, wußte ich noch nicht, wie mich das kaum fünf Stunden später einholen würde.)Ich werde dennoch beim Domino bleiben. Denn das Traumschiff ist eines schon von daher, daß sie alle an Bord einander verstehen, vom Filippino im Maschinenraum über den britischsten Passagier bis hinauf zur Brücke. Das muß ich im Roman einführen, „daß wir uns alle verstehen“. Sie verstehen einander, aber erkennen sich nicht. „Ich habe immer gedacht, daß wir einander erkennten. Aber wir verstehen uns nur.“ : So geht das Buch dann los. Und Lanmeister weiter: „Ich kann mich, wie seltsam, nicht erinnern, daß es je anders war.“Mit diesem so leise einsetzen, daß es die Leser:innen gar nicht recht bemerken, aber fortan für so gegeben halten wie Cherubinos Unsichtbarkeit hinter dem Stuhl. Sie müssen es organisch hinnehmen, ganz wie Lanmeister selbst.
*
Immer schon um vier sind alle Kekse weg. Ab halb vier ist der afternoon‘s tea eröffnet. Seit ich keine Schokolade mehr habe, nehm ich mir immer Kekse mit auf die Kabine, für spät abends, aber darf auf keinen Fall zu spät im Essenssaal erscheinen. Hab ich die Kekse dann, schleich ich mit dem kleinen schlechten Gewissen eines davon, der in der Speisekammer heimlich aus dem Honigeimer nascht.
*
Wie plötzlich der Impuls, nämlich immer wieder, aufpocht, mit dem Roman nun endlich zu beginnen. Vier Wochen hat das gebraucht!
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Gogolins Seelenlähmung, dieses deutsche Buch, am Äquator.
*
Tatsächlich! Ich komme aufs Zimmer, und da ist mir das „Zertifikat“ der Äquator-Überquerung korrigiert unter der Tür durchgeschoben worden. Jetzt kann ich das Ding auch aufhängen. So nebensächlich ich tat, daß mir das sei, so erstaunlich hüpfte mein Herz da! Und wie ausgerechnet ich ganz begeistet vom Kisch sein kann und immer wieder auf dieser Reise bin. Es ist zum den Kopf Schütteln. Kitsch als Abschied vielleicht, als stoßgedämpfte Abschied? Normalerweise schätze ich Sportwagen, in denen man spürt, wenn die Räder über ein Eurostück fahren.
*
Daß die weißen Uniformen der Offiziere aus einem Kunst-Stoff sind, Perlon, sowas, weshalb sie keiner gerne trägt, denn sie kratzen und man schwitzt furchtbar drin. Alle sind froh, wenn sie das Zeug wieder ablegen können.
Kitsch: Plötzlich André Hellers Begeisterung nicht nur verstehen, sondern selbst in sich fühlen. Und daß ich in diesem Moment an den jungen Zöllner von Perth/Airport denken muß, diesen australischen Don Juan de Marco. Wie nahe! So nahe nahe nahe. Und schon ein Moment der Metaphysik: K., im Captain‘s Club nun, spielt den ersten Satz der Mondscheinsonate. Da verstummen die zuvor noch leise plaudernden Gäste, und jede sieht zu ihr hin, als wäre man zurückgesunken und getragen. Man atmet atemlos. Selbst die Kellner stehen und schauen. Fünf der tiefsten Minuten, die ich hier an Bord bisher erlebt habe.
*
23.15 Uhr.
Die, verzeihn Sie mir, es ist liebevoll-symapthisierend, nicht machistisch gemeint, nun ja: „;Mädels“ treffen sich in der Crewbar, wohin ich nun nicht mehr darf. Was mich an meinem Beruf nervt, ist die ständige Distanz, die aber doch tatsächlich die meine permanent ist, wie ich immer wieder zugleich versuche, gegen sie anzurennen.
23.27 Uhr.
Der Wind, wie er tobt! Und hatte (unleserlich) längst oben, erzählt mir dann von den … (ah! so war‘s:) Katheryna läuft längst oben immer um das Sonnendeck herum, ihr tägliches Nachtjogging... erzählt mir dann von den Zikadengeräuschen, die auch ich schon vernommen und auch aufgenommen habe. Und die schöne Parfumière, die heute zum ersten Mal während dieser Reise draußen, im Rauchereck neben der Hansebar, sitzt, sei mit einem der Sicherheitsoffiziere verheiratet, prompt sitzt er neben ihr, man heiratet, so läßt sich das betrachten, im Dorf. Viele warten auf den Prinzen. Aber so geht die Liebe nicht. Nein, und C. nickt, so geht sie nicht. Diese ständigen sich-an-etwas-Heransehnensakte.
Jede und jeder will heim. Aber niemand hält es lange, man fluche, wie man will, ohne die See dann dort aus.
*
Gedanke vorhin:
Für was/wen hältst du dich so in Form? Antwort: Um noch im Tod ein schöner Leib zu sein. (Nur ein Aufblicken, und die schöne Parfumière ist verschwunden.)
*
Keine Ahnung, wie ich das Buch eines Sterbenden schreiben soll, wenn alles in mir zum Leben will, a m Leben sein will. Ich bin das völlige Gegenteil eines Buddhisten, das pesongewordene Gegenteil eines Meditierenden. Bin Akt. Weite! Weiter! Bis es mich, mit einem einzigen Schlag, erschlägt. Ich bin nicht ein einziges Mal seekrank gewesen, war niemals außer mir, sondern alles ist Wille selbst dann, wenn distanziert. Anders als Gogolins Klett renne ich gegen die Bastille meiner Kindheit weiter und weiter an und erstürme sie, schleife die Mauern. Nie nachlassen, nie eine innere Ruhe als Ziel, sie nicht einmal wünschen. Kinder in die Welt setzen und sie gehen lassen dann. Ihnen es nicht antun, daß man müde wird, damit auch sie nie müde werden. Vielmehr selber, ohne daß sie uns noch brauchen, gehen.
Und alles selber erleben wollen, darin sein wollen, eben n i c h t nur Chronist. Fräße mich ein Hai, es wäre ein angemessener Tod. Nicht angemessen ist das Hospital, nicht angemessen ist das Heim, nicht angemessen ist die Vergreisung. Darum schreibe ich ja dieses Buch: eines für angemessenes Sterben. Darum, vergiß das nicht, fährst du hier auf See!
*****
Und dann begann das Würfelspiel – eigentlich hatte ich, es war fast schon Mitternacht, zu Bett gehen wollen.
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AUF WDR 3: FAHLMANNS WELTEN. Von Alban Nikolai Herbst.


F A H L M A N N S  W E L T E N

Ein poetisches Hörstück
über
Christopher Eckers unheimlichen Roman
Fahlmann.
Von
Alban Nikolai Herbst.



Kavita Janice-Chohan               Sascha Broßmann

Adrian v. Ribbentrop


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Sonntag, 1. Mai 2014
23.05 Uhr
WDR 3


Montage und Regie
Alban Nikolai Herbst
Alban Nikolai Herbst: Fahlmanns Welten, >>>> PODCAST des WDRs.
Fahlmanns Welten 7 <<<<

Sonne über Cabo Verde. Am Freitag, dem 2. Mai 2014, 6.15 Uhr Ortszeit.

Sonne-ueber-Cabo-Verde

Das Wrack vor Porto Grande. PP162: Der zweiunddreißigste auf den dreiunddreißigsten Tag der Großen Fahrt zur See. Notiert am Sonnabend, dem 3. Mai 2014. Erster Seetag nach Cabo Verdes Porto Grande.

(9.12 Uhr, i.e. 11.12 Uhr Ihrer Zeit.
MS Astor, oberes Achterdeck.
19º51‘ N/22º45‘ W.
Kurs 330º NW.
Gleißend bedeckt.)
Eine solche Fahrt kreuzt nicht nur durch den Raum, sondern auch durch die Zeit. Das führt dazu, daß uns Reisenden nicht nur durch die scheinbar immergleiche und scheinbar uendliche Fläche des Meeres das Gefühl für die Uhr abhanden kommt, sondern nicht zuletzt deshalb, weil wir an unseren Uhren ständig herumoperieren müsse. Erinnern Sie sich, daß ich Ihnen, als ich in Australien ankam, sieben Stunden voraus war; nachdem ich dann vorgestern zwei Stunden hinter Ihnen zurücklag, tat ich‘s gestern sogar um dreie, und heute sind es wieder nur vier. Grad in den letzten Tagen war an quasi jedem Tag eine Zeitumstellung nötig, wobei diese „Not“ imgrunde nur von den Abläufen an Bord diktiert wird sowie von den gebuchten Teminen in den Häfen; ein seelisch macht einem, jedenfalls mir, das nichts aus. Allerdings merkt man an Bord, wenn du morgens für den ersten Kaffee aufs Achterdeck kommst, daß wie unversehens Leute bereits um sechs da sind, die sonst nie vor acht erscheinen, und umgekehrt kommen manche plötzlich erst um acht, die immer schon um sechs die Unruhe des Fahrenden trieb. Dies wird mir von der Reise ebenso im erinnernden Gefühl erhalten bleiben, wie daß die See vor allem aus bedeckten Firmamenten und ziemlich frischem Wind besteht und daß es gar keine Rolle zu spielen scheint, ob es sich um ein subtropisches Meer, um ein tropisches oder „gemäßigtes“ handelt. Indessen, kommt man an Land, die volle Macht der Klimazonen zuschlägt – so gestern ein, für mich, grandioser Tag rein praller Sonne und ihrer Hitze. In der Karibik, vor Jahren, mit Do, hatte ich eine gänzlich andere Erfahrung gemacht: dort regnete es, auf St. Lucia und Dominica, quasi auf Land permanent, aber kam man an den Stand, waren da Licht nur und Wärme, ja wir konnten uns vom Regen halbieren lassen, standen mit einer Körperhälfte darin, während sich die andere vor dem Sonnenbrand zu hüten hatte. Wiederum darf man auf See die Sonnenkraft nicht unterschätzen, die noch durch den dichtesten Himmel dringt. Witziger- vielleicht auch typischerweise habe ich mir solch einen Sonnenbrand überhaupt erst vorgestern geholt, am Rücken, als ich unter den wirklich dicken Wolken eingeschlafen war. Nun juckt‘s mich hinten, wo es heilt. Ich bin und bleibe auch auf See ein, um es mit Karl May zu sagen, Greenhorn.
***

Wir >>>> kamen also an. Schroff hoben sich die Berge der Kapverden uns in den Blick, in die Blicke, wir konnten erst nicht unterscheiden, welche Massen zusammengehörten, welche vom Meer getrennt sind. Seit ihrer Unabhängigkeit, 1975 erreicht, zählt die Inselgruppe zu den afrikanischen Staaten; sie liegt auf der Höhe des Senegals, teilt mit ihm den Breitengrad also; geologisch aber ist sie von Afrika gänzlich getrennt: entstanden – und immer weiter entstehend – aus unterseeischen Vulkaneruptionen, deren Magma als sich über das Wasser erquillende Lava in bizarren, fast mythischen Formen erstarrt ist. Mythisch war abends denn auch die Wieder-Ausfahrt, wenn in Ost und West die Massen Landes mit denen der Wolken verschmilzen und die Passage wie durch vorzeitliche Traumstätten der fremdartigsten Ungeheuer geht, an die zudem eine unausgesetzte Gischt schäumt. Schon haben wir Kurs aufs Hohe Meer erneut, das weithin, so weit unsere Augen nur sehen können, alles, was noch Erde, bezieht.
Da zwischen den Kapverden und Afrika nie eine Brücke bestand, kein Land, nichts ist da „nur“ gerissen und auseinandergedriftet, und weil es des weiteren eigentlich kein Süßwasser auf den Inseln gibt, sind sie lange Zeit leblos gewesen, erreichbar nur von dem, was schwimmt. Berühmt sind die Schildkröten, die dort ihre Eier legen, und Vögel nisten dort zwischen; es gibt eine einzige endemische Lebensart auf den Inseln, eine Fledermaus. Alles andere kam mit den Siedlern, den Portugiesen zuerst, deren Sprache noch heute gesprochen wird. Aus schwarzen Sklaven schließlich und aus dem Weißen mischte sich eine „kreolisch“ genannte Menschengruppe, die auch von anderen Inseln mit kolonialem Hintergrund bekannt ist, sei es im Indischen Ozean, sei es in der Karibik oder eben hier im tropischen Zentralatlantik. Schöne Menschen sind es oft, verglichen mit uns fahlen Weißen, schön nicht „nur“ als Gesicht, sondern in der Bewegung, dieser Elastizität ihrer Glieder, durch die immer nur, und immer wieder, die Armut schnell einen Strich macht: wenn kein Geld für den Zahnarzt da ist, etwa. Wenn Krankheiten nicht behandelt werden können, wenn es an guter Nahrung fehlt. Manchmal kommt mir der Kolonialismus wie ein Rachefeldzug des Häßlichen gegen das Schöne vor, als hielte jenes dieses nicht aus und müßte es auf jeden Fall zerstören.
Die Unfruchtbarkeit des Landes bringt es allerdings auch ohne das mit sich, daß nahezu 90 % aller Lebensmittel importiert werden müssen; es wachsen ein paar Bananen hier, es gibt Eukalyptus; im übrigen leben die Inseln vom Fischfang und vom Fischexport, was indessen den „einfachen“ Einheimischen ihre Lebensgrundlage entzieht, weil sie gegen die industrielle Massenfischung nicht ankommen können. So gab es denn in Porto Grande zum ersten Mal auf dieser Reise nicht aggressive, aber doch zähe Bettler, insistierende – von einer andererseits ganz weichen Art, fast wie in ländlichen Gebieten Indiens. Die Leute nähern sich einem und sagen immer nur „Hunger“, sagen es sanft, aber sie folgen dir. Diebe, wahrscheinlich, sind es nur bei wirklicher Gelegenheit, keiner rast auf dem Moped aus einer Seitengasse und schnappt sich Ohrring und Tasche. Keiner auch faßt dich an. Aber sie sind eben leise immer zugegen, erfinden auch schon mal Geschichten, ich studiere Englisch hier an der Universität, und ich weiß, man spricht Sie oft um Geld an, das tue ich nicht, aber ich brauche Unterlagen für mein Seminar, die ich nicht bezahlen kann. Wieder andere möchten nur ein Gespräch, am Strand, und weisen auf die Schönheit des Landes hin und daß man aber zu essen gar nichts habe. Vor der Balustrade eines alten quasi-portugiesischen Cafés stehen eine Frau und ein Mann und halten die Hand nur auf, sagen nichts. Sehen einen an. Sehen einen weiter an. Hören gar nicht damit auf, einen anzusehen.
So ist das.
Und wer ein Herz hat, macht sich schuldig. Unter dieser gnadenreichen Sonne, die Gnade gar nicht kennt.
Cabo Verde, grünes Kapp: nein, auch der Name täuscht. Die Färbung rührt von einer Art Flechte, die den Fels wegen der Feuchtigkeit der Wolken bedeckt, in denen er, als ich, oft eingehüllt sei. Für richtige Vegetation reicht sie nicht aus. Wie anders ist das auf Mauritius gewesen, dessen Port Louis ich gestern, als ich zurückdachte, ein „kleines Mumbai“ zu nennen gewillt war, es auch immer noch bin, falls es zu dem anderen Hörstück kommen sollte, das ich über Mauritius schreiben möchte. Cabo Verde ist Armut. Die portugiesischen Häuser, viele noch mit Holz, das ehemals bunt gestrichen, täuschen in ihrem Pittoresken darüber hinweg. Auch ist Porto Grande ja quasi nur Vorzeigeort für den neuen Tourismus, der zu entstehen eben dabei ist. Die Inselgruppe ist „in“ geworden, ein Paradies nicht nur für Taucher und nicht nur für Surfer, sondern auch Freeclimber werden hier ständig gelockt.
***

Ja, wir Taucher. Es war nun endlich gelungen; Glenn, der Manager der Astor-Exkursionen, hatte für mich bei dem zuständigen Reiseagenten angerufen und nach der in Porto Grande nächsten Tauchstation gefragt. Morgens, gestern, bekam ich um halb neun, da stand ich bereits auf dem Kai, war sogar schon durch den ganzen Hafen hoch zur Porta spaziert, wo Beschäftigung und Arbeitslosigkeit zusammen an der Schranke standen, bzw. herumhockten und gegenüber ein farbiges Plakat teils höhnte, teils versprach:
PREPARATE PARA UM NOVO MUNDO
Oben auf dem Fels, ein Greifvogelhorst aus Beton, das aufgelassene Gefängnis, leer an die langen Zeiten der Diktatur gemahnend, die Fenster sind wie die Augen, die man dort, spürte ich, ausstach. Andererseits gleich zwei Universitäten in dem nicht wirklich großen Ort, sagen wir: Universitätchens, deren eine in einem zerbröckelnden portugiesischen Palazzo untergebracht ist, der zwei Altrien ähnelnden Innenhöfe hat, altrömisch inspiriert, da auch die Mensa: eine Art integrierter Kiosk, die typische schmucklose Affichierung des Lehrplans sowie kleiner kultureller Veranstaltungen, oft Diskussionen über soziale Zustände, namentlich von Emigranten; weniger malerisch die Universidad Jean Piaget, dafür deutlich modern in der Architektur und, was mich freute, die Triskele als Logo, eine deren Arme keltische. (Gelegentlich nachrecherchieren). Immer wieder zerfallene Hauswohnungen, zersplitterte Türen, ja weggebrochene Treppenaufgänge; niemand ist da, die oder der das Geld hat oder den Willen, hier zu restaurieren. Doch oben, wie überall auf der Welt, dann wieder Villen. Kommt man vom Hafen her in den alten Ort, geht man an zwei Benzinsilos vorbei, die geradezu liebevoll eingemauert sind: die Mauern eine pure Kalligraphie aus formgestaltetem Stein. Darüber wohl der, dem dies gehört, weniger Villa als ein, wenn auch kleiner, Herrschaftssitz.
Aber wir Taucher.
Bevor ich den Ort tatsächlich sah, war ich nämlich zur Tauchstation schon unterwegs und dort erwartet. 55 Euro für den Gang, wir waren zu acht, internationale Gruppe, Franzosen, Spanier, ein Marokkaner, ich als Deutscher, die Tauchguides. Man wollte auf jeden Fall meine Lizenz sehen, außerdem mußte ich eine enorme Liste ausfüllen, Anamnese sozusagen, daß ich auch nie an Asthma und Fußpilz erkrankt gewesen usw., Risikobelehrung; die Leute mußten selbst drüber lachen. Nun ja, Versicherungsrechtlichkeit.Dann die übliche Einweisung, Handzeichen usw., auf eine Tafel wird der Tauchort skizziert, der Gang festgelegt, jeder hat seinen Buddy.
Die Bai ist so gefährlich wie die übrigen Passagen zwischen den Inseln. Durch die hohe vulkanische Aktivität sind Tausende Riffe entstanden und entstehen teils immer noch. Wenn ein Schiff da nicht aufpaßt. Also liegen dort Schiffe, nicht wenige, am Grund – andere dümpeln noch nach Jahrzehnten kaputt auf der See; die aber sind nicht gefährlich, weil man sie sieht. Die gesunkenen indes werden sofort besiedelt; sei es, daß Schwärme Schutz in ihnen vor den Jägern suchen, teils daß es Hinterhalte von Muränen. Auch kleine Haie ziehen da hindurch.
Es wurde mein erstes Wracktauchen. Mit dem schweren Schlauchboot hinaus, dann in Rückwärtsrolle rein und sofort auf zwei Meter Tiefe gegangen, weil oben eine starke Strömung herrscht, doch unterhalb zweier Meter ist das Wasser still. Wir sammelten uns unterhalb dieser zwei Meter am, quasi, Vordersteven des Wracks und stiegen von dort aus dann hinab bis auf fünfzehn Meter. Dummerweise hatte ich mal wieder Druckausgleichsprobleme mit den Ohren, brauchte also lange, um hinunterzukommen, Meter für Meter, langsam, fast unmerklich sinkend. Unterhalb von zehn Metern ist es mit den Problemen vorbei, da beginnt für mich der Rausch des Schwebens.
Und was ich sah! Es war ungeheuer. Als schwömme ich, als flöge ich durch ein Gemälde von Max Ernst: genau so sah es dort aus, dies waren die bizarren, farblich übersinnlich Figuren seiner malerischen Architekturen, seine Gottesanbeterin, die Stadt seines Mondes über der Stadt... Unterhalb des scharfen, unterdessen von Millionen roter, violetter, grüne Algen besiedelten Gefälles stieg ein riesiger Kalmar auf, einen Meter lang vielleicht, blieb stehen in der Luft, seine Flossensäume wellten.
Diese Tiere sind zugleich vorsichtig wie doch schrecklich neugierig. Also kam er, ich stand alleine, näher, und betrachtete mich; man kann sagen, daß er mich begutachtet hat. Unter Wasser, in dieser anderen Welt, ist nie ganz heraus, wer eigentlich das Schauobjekt ist. Er kam noch näher. Ich auch. War ihm dann z u nah, also wieder auf Abstand. Doch diese Neugier! Deshalb abermals näher. So spielten wir miteinander, vielleicht fünf volle Minuten. Dann meinte er, gesehen zu haben, was sich lohnte, und schoß, ein Torpedo, in die Ferne davon, dahin, wo sie unsichtbar wird. Er würde den Seinen berichten.
Ich drehte mich auf den Rücken und ließ mich steigen. Dann durch eine Öffnung in das Schiff hinein, immer, selbstverständlich, mit Blick auf den Buddy. Immer wieder Frage und Zeichen, ob und das alles Okay sei, Versicherung der Luft, die noch vorhanden, nächste Zeichen auf das, was es zu sehen gab, und nach fünfundfünfzig Minuten langsam hinauf. Da wir ohnedies gestiegen waren, war ein Sicherheitsstop an sich nicht nötig; ich halte ihn aber prinzipiell ein: drei Minuten bei fünf Metern, die ich allerdings abschätzen mußte, weil ich ohne Tauchcomputer unterwegs war. „Der ganze Tauchgang ist ein Sicherheitsstop“, hatte auf meine vorherige Frage mein Buddy gescherzt.
Dennoch. Um halb elf war ich dann wieder an Land, mußte erst mal los, um Geld zu tauschen, damit ich den Gang bezahlen konnte. Unter Leuten, die prinzipiell füreinander Lebensretter sind, ist das kein Problem, da hat man Vertrauen. Ich bekam meinen Eintrag ins Taucher-Logbuch, man reicht sich die Hände, nimmt sich vielleicht sogar in den Arm, die Franzosen saßen schon hinten auf einem Pickup und winkten, als ich mit dem Geld zurückkam.
Den ganzen Tag über dann die unvermittelten Glücksregungen, wenn ich an die Tiefe zurückdachte, ans Schweben, Sinken, Steigen, die Farben, die fremden Lebewesen und Max Ernst.
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Im Ort schließlich erst Patrick getroffen, der in Altportugal Bier trank, dann den Gemüsemarkt entdeckt, einen der schönsten, die ich je sag: mit filigraner, geradezu schwebender Holzüberdachung, Gewürze gekauft, Knoblauch gekauft, in Öl eingelegte Chili, dann Sam getroffen, mich mit ihm für eine Stunde später verabredet. Aber er blieb aus. Nach einer halben Stunde dachte ich, sei‘s drum, und machte mich erst alleine auf den Weg, dann mit C., die ein bißchen verirrt an einer Straßenecke stand. Sie wolle unbedingt zum Strand, um zu schwimmen. Überredete mich mitzukommen.
Das war dann das türkiseste Meer, in dem ich jemals schwamm. Direkt am Hafen. Überhaupt nicht zu glauben. Aber kühl das Wasser, wirklich erfrischend. C., die man nun wirklich nicht schlank nennen kann, lief in voller Bekleidung hinein, saß dann wie ein vom Glück praller Klumpen und ließ sich bewellen und lachte und lachte. Konnte es nicht fassen. Andere von der Crew erschienen, Jungs, die tollten gleich jungen Hunde, die endlich ohne Leine sind. - Gegen halb vier brachen wir dann auf. Zurück aufs Schiff. Ich aß etwas und ging recht frühe schlafen. Sah aber, bis es dunkel war, der mythischen Passage zu, die wir befuhren. Und sind nun wieder auf See.

(11.11 Uhr.)
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Ein Schiff ist ein, wie unser Körper, lebendiger Organismus, der ständig gewartet werden muß. Wie wir trainieren. Heute wird der Steuerbord-Aufgang achtern neu gemalert, der zum ersten Sonnendeck. Gestern waren die Zimmerleute wieder mit den Planken, neuen, beschäftigt.

Wolfskrank: Zweiter Seetag nach Cabo Verde. PP163: Dreiunddreißigster auf den vierunddreißigsten Tag der Großen Fahrt zur See. Sonnabend, den 4. Mai 2014.

(9.15 Uhr, i.e. 10.15 Uhr Ihrer Zeit.
MS Astor, oberes Achterdeck.
24º29‘ N/19º05‘ W.
Kurs 7º N.
Quellbewölkung und Schlieren.)
„Gestern um diese Zeit war es schon zehn“: solche Absurditäten zu sagen, bin ich bei unseren ständigen Zeitumstellungen geneigt; jedenfalls dachte ich diesen Satz grade und meinte ihn tatsächlich ernst. Dann fiel mir ein, daß heute mein Bruder 57 Jahre alt geworden wäre, hätte ihn das Wildwasser nicht schon mit vierzig weggeholt. Im Arabischen, las ich bei Rückert, Makamen des Hariri, sei Hunger die Wolfskrankheit genannt. Unter der leidet an Bord gewiß keiner. Doch gestern abend saß die alte schwere Dichterin ganz stumm vor dem Fenster und sah lange Zeit hinaus. Das begab sich, bevor C* ihren ersten Auftritt hatte, rauchig und mit Soul; der Captain‘s Club war knallevoll. Ich ließ meinen Sport dafür sausen. Und nach dem Dinner, das ich, wenn ich da esse, immer für mich alleine nehme, nämlich alleine draußen noch, abgesehen von dem schweigsamen Clochard in seiner Raucherecke, nach dem Dinner also sang A* Frank Sinatra. „Zu sauber, da fehlt Schmutz“, sagte ich später, und so empfand ich‘s. Gute Musik braucht die Sünde. Zum Beispiel doch wenigstens dies: daß man raucht, auch wenn es verboten ist. Sinatra hat geraucht, gehurt und gesoffen. Von der Mafia schweig ich mal besser. Aber darüber ging dann auch nachts das Gespräch, seitlich der Hansebar. Ich hatte den in Cabo Verdes Gemüsemarkt gekauften Ziegenricotta, den ich an Bord schmuggeln mußte, aus der Kabine geholt und mit dem ebenfalls hereingeschmuggelten frischen Knoblauch auf den Tisch gestellt. Man darf keine verderblichen Lebensmittel mit aufs Schiff bringen, erfuhr ich noch vor meinem Marktgang. Das fügte sich in unser Gespräch. Und alle griffen zu. Wie aus der Reinheit niemals etwas entsteht, keine Kunst, kein nächstes Leben, eben so wenig aus Vorsicht. Als Lanmeister sich nach der Reinheit sehnt, begreift er im selben Moment, daß er nun stirbt. Und derjenigen, der seine verzichtsvolle Neigung gilt, wünscht er, sie möge quer übern Kabinenboden wundgevögelt werden, und wundgescheuert. Er wünscht es ihrem Klavierspiel. Geschrieen haben, zerrissen worden sein, was sich dann in der Musik, doch nun transzendiert, wieder zusammenfügt. Es spielt keine Rolle, welche Art von Musik es ist. Wenn mir auf dieser Reise etwas klar geworden ist, dann, daß mein Sterbebuch zugleich ein Gesang für das Leben sein muß; die Utopie des menschlichen „Davongehens“, die mir von Anfang an im Sinn lag, ist aus der Bereitschaft zum Abschied allein nicht zu gewinnen, nicht aus dem Einverständnis mit dem Tod, sondern nur aus dem mit dem Leben. Die Wolfskrankheit gibt es auch in übertragenem Sinn. Wenn ich, notierte ich gestern, als Schriftsteller nichts anderes wäre als ein Zeuge von Leben, nur dieses, und hätte nicht ein einziges Buch zuwege gebracht, aber dieses eben d o c h: erzählt, wie man lebt, während ich lebte - es wäre, ob und wie geformt oder nicht, gelungene Literatur. Dies ist das, dachte ich, künstlerische Recht Der Dschungel. Dafür braucht es nicht mal eine Geschichte. Ich notierte dies zu Zarah Leander. Zu leben bedeutet nun eben nicht, sich „aufzubewahren“, „aufzusparen“ und insgesamt vorsichtig zu sein, sondern sich zu verausgaben. Dazu gehört die Übertretung von Regeln und bisweilen sogar der Gesetzbruch, in jedem Fall Schuld. Aber auch Reue, manchmal Scham. Doch schon der nächste Wolfskrankheitsanfall. Ah ja!: - erzählte ich schon, daß ich nach über dreißig Jahren wieder gekifft hab? Ich sag nicht, wo, bei welcher Gelegenheit, es waren ja Inseln genug, und ich schlug sie nicht aus. Die alte Technik: tief durch die gehöhlte Hand inhalieren; ich legte es aufs „stoned“Sein regelrecht an. Daß ich dennoch vom Gras gar nichts merkte außer dem unangenehm trockenen Mund, spielt keine Rolle; auch, als ich wieder an Bord war, merkte ich noch nichts, und ebenso wenig, wie früher, am Tag nachher. Sondern es ging darum, nicht neinzusagen, ging um den Bruch meiner eigenen Regeln. Nicht in sich selbst gefangen sein, das ist das allerschwerste. Wenn man in Freiheit lebt.
*******

Die Schöne ODER In Teneriffas Santa Cruz. PP164: Fünfunddreißigster auf den sechsunddreißigsten Tag der Großen Fahrt zur See. Geschrieben auf dem Atlantik, jenseits fast von Afrika, nämlich Europa entgegen. Am 6. Mai 2014.

(8.55 Uhr, i.e. 9.55 Uhr Ihrer Zeit.
MS Astor, oberes Achterdeck.
32º11‘ N/13º29‘ W.
Kurs 26º NO.
Tief verhangen, böig, sehr einsam und dünn ein westliches Blau:
wie eine Ahnung.)
So war‘s denn, als ich herauskam, ganz wie es aussah: kühl. Und ist‘s noch. Also nach dem ersten Kaffee wieder hinein und hinunter, die Lederjacke zu holen, zwei Schals, den Pullover sowieso, und den Laptop geschnappt: nein, das laß ich mir nicht nehmen,. draußen zu schreiben, auch wenn meine kurze Jeans wirklich nur Trotz ist. Immerhin trag ich Sneakers an den Füßen, nicht nur die Sandalen. Im Nu, der nächste heiße Kaffee, ist kalt. Egal, einen nächsten holen. Eine Zigarette rauchen. Dann Ihnen weiterschreiben. (Drinnen, im Überseeclub, wird gefrühstückt, es riecht nach frischen Spiegeleiern und Omelettes, ich laß das mal wieder ausfallen heute).
*

Nein, ich mochte gestern nicht mehr erzählen, als wir alle zurück an Bord waren, vielleicht, weil ich die Einfrischung ahnte und von der Sonne noch haben wollte, obwohl es, so heiß der Tag bis da gewesen, sofort wieder frisch, ja kühl ward auf See, kaum daß wir die Insel verließen, um nun Europa zuzusteuern. Einmal packte sogar eine Bö mein ganzes Zeug vom Liegestuhl, inklusive dem Kindle, und warf es über die Planken. - Ich mochte nicht mehr erzählen, weil ich noch voll von dieser Stadt war.
Santa Cruz de Tenerife war, wie seinerzeit Valencia gewesen, eine Überraschung. Noch hatte ich, als wir Punkt acht Uhr morgens anlegten, mein Vorurteil parat: Touristeninsel usw., wollte also gar nichts sehen, sondern mich sofort zum nächsten Taucherstandort aufmachen, war tatsächlich als erster von Bord, grad mal fünf nach acht, und schritt beeilt die Hafenlinie südlich entlang, merkte aber schnell, daß die Stadt zu groß war, vor allem der Hafen zu langgestreckt, um fündig zu werden. Anstelle indes umzukehren, schritt ich weiter auf ein architektonisches Gebilde zu, das mit einem Schweifpfeil lockte und unterhalb eines Hügels liegt, über den sich, wie ich dann erfuhr, der Botanische Garten hinzieht. Das Gebilde ist, futuristisch leicht, die – Konzerthalle. Führt mich mein Weg als erstes zu einer solchen, hat eine Stadt imgrunde gewonnen. Und diese mußte sich nicht anstrengen, ihren kleinen Erstsieg zu halten.
Dennoch schritt ich um den Botanischen Garten noch herum, fand dahinter, ausgedehnt, eine nächste Hafenanlage, ein Frachter lag am Kai, den oben, wo ich ging,ein Drahtzaun versperrte, der aber einen Durchschlupf hatte. Auch Durchschlupfe, immer, sind mir sympathisch. Unten, auf der hier hellblauen See, schaukelten zwei Fischerboote, und ein älteres Paar schlupfte durch den Durchschlupf durch, nahm sich an den Händen und stieg den Weg zu den Booten hinab. Zum Land hin eine befahrene Zubringertrasse, gleich dahinter, utopisch verwinkelt, Silos und runde Tanks wie Perry Rhodans Kugelraumer, zu denen eine hohe Mauer zugleich hochführte, wie sie sie doch sicherte. Hier erst kehrte ich um, nahm aber nicht den Weg zurück in die, so war uns gesagt worden, von unserem Kai aus nahe Innen-, bzw. Altstadt, sondern stieg in die Besiedlung der Santa Cruz umhegenden Lavahügel auf und folgte erst oben den Schildern auf den Centro Ciudad. Blieb immer wieder stehen, war immer wieder erstaunt über die freizügige, gebunden-losgelassene Fantasie der zwischen die älteren Häuser gesetzten modernen Architekturen, Kongreßhalle, auch Uni, das war alles überhaupt nicht museal. Immer wieder wirklich Plätze, Augenraum und Weiten, obwohl Santa Cruz nicht wirklich groß ist. Die in den Straßen liegende Stimmung war, sagen wir, grad erst aufgewacht, jetzt um fast schon neun Uhr dreißig. Und als ich um zehn - zwei Stunden etwa nach meinem Aufbruch - in der Innenstadt tatsächlich ankam, machten grade die ersten Geschäfte auf. Da hatte ich den in einem ausgesprochen geschmackvoll renovierten Art-Deco-Komplex offenen, nur nach Art eines Kreuzgangs an seinen Rändern überdachten Markt entdeckt; auch hier baute man grade erst auf. Allerdings Gemüse wurden bereits eifrig gereicht und bezahlt. In die Kreuzgangswände sind kleine Geschäfte eingelassen, Käsereien, Bäcker, Schlachter, die toten Hühner baumelten dösend.
P. kam mir, im roten Kostüm, auf einer der Ramblas entgegen, etwas traurig schauend, weil die Crew doch „shoppen“ wollte, aber bereits um elf zurücksein mußte. „Spanien“, sagte ich, „wir sind in Spanien, auch wenn das Afrika ist. Vor zehn/halb elf Uhr morgens geht hier gar nichts.“ Um uns ratterten immer wieder die Gitter hoch, mit denen die Geschäfte sich nachtüber sichern. „Na bitte.“ Ich meinerseits aber auch war auf der Suche; eine Facebook-Nachricht der Familie hatte mich um eine Besorgung gebeten. Doch die obwaltende Gelassenheit ging völlig auf mich über.
Santa Cruz de Tenrife ist gewiß nicht die spannendste Stadt meiner Reise, aber ebenso gewiß ist sie die allerschönste. Das schließt Kapstadt ein, ja Kapstadt wird hiergegen fahl. Wir alle, sämtliche Passagiere, waren uns später darüber einig, wenn auch vielleicht aus verschiedenen Gründen. Ob die Straßen sauber seien – für die meisten tatsächlich ein Kriterium –, hat mich selbst noch nie interessiert; eher bringt sogenannte Sauberkeit eine Sterilität mit sich, die mich nicht nur deshalb abstößt, weil in ihr Correctness zum Ort wird, sondern ich sehe immer David Lynchs abgeschnittenes Ohr im zu gepflegten Rasen. Reinheit ist ein Begriff des Faschismus. Doch hier, in der Tat, waren die Straßen sauber, zugleich aber sorgen die beieinander lebenden architektonischen Entwürfe, ja, sie leben ineinander, für die nötige Phantastik und eine Freiheit, in denen unsere Blicke spazierengehen können; sie verlieren sich nicht in der Gradlinigkeit. Dies wird hier anders erreicht als in Italien, wo das Provisorium ein gewichtiger Teil der Ästhetik ist, sei es von geflickten Mauern, sei es von nicht wirklich alleine aufs Rechteck bemessenen Türen, sondern Santa Cruz ist beherrscht von spanischer Kantigkeit, aber eben einer, die sich nicht neben- sondern ineinander verschachtelt und mit enormem Feingefühl den Barock um den Zweckbau ergänzt. Das ist tatsächlich das Gegenteil von Musealem. Das Alte wird weiterbelebt, anstelle es zum Ausstellungsraum zu vernichten. Nirgends auch nur entfernt das Gefühl von Disneyland oder Veranstaltung, und auch nicht von „gereinigtem“ Bewahren. Das war es, daß man den Atem spürt und nicht die Desinfektions- und Aufhübschmittel, was mich sofort gefangennahm, ja, ich setzte mich abseits der Einkaufsmeilchen in eine Seitenstraße vor ein Café, saß da nur und saß und bedachte die ganze Stadt im Anblick einer Hausecke, um die mal zwei Frauen schlenderten, mal ein Hund strich, dann kam ein Auto. So ging das fort. In aller Ruhe brachte mir der Inhaber meinen Caffè, dann ein Pan con Jamón, ich rauchte, wir wechselten paar Blicke, gegenseitig aneinander auf eine Weise interessiert, die ich sonnenmüde nennen möchte, nicht ihrer müde, sondern so, wie man in einer Hängematte hängt, um sich teils bräunen zu lassen, teils will man einfach nur dösen. Das war es vielleicht sogar eigentlich, was mich so, ja, berückt hat und was mir s o bisher nur auf Sizilien widerfahren ist und davor in der Savanne des äquatorialen Afrikas und zuweilen in Neapel, daß mir diese Stadt die mir eigene Nervosität nahm, meine ständige innere Eile, so daß ich spürte: hier möchte ich bleiben. Ich ward ganz ohne Vorbehalt, wie belohnt. Überdies fand ich Cigarillos, I was running out of my cigars bereits drei Tage zuvor, und man kann sie – bezahlen. Tabakwaren sind unfaßbar billig auf Teneriffa, und nicht nur sie. Auch für Elektronik ist es ein Paradies – und für das Essen. Vor allem aber, eben, für die Augen.
Vieles ist aus Lavastein errichtet, der Vulkan, der Teide, ist nah. Auch das, ganz sicher, faßte mich. Und - die Spache. Ich mag die Härte des Spanischen, seine Entschiedenheit, mag die Kehl- und die gezischten s-Laute, die einem gestoßenen Lispeln ähneln, mag das arabische, besser zu sagen: maurische Element und die Messer der Konsonanten; die Vokale, bisweilen, gleichen Geschossen; aber sie sind locker gespielt, wie aus dem Handgelenk unaufgeregt. Und die Frauen wandeln stolz und grade: Geschlechtsspiel, ernstes, das sich weiß. Zugleich ist Santa Cruz aber, wie sehr ein Afrika auch immer, gesättigt mit Europa, spanisch ganz. Und war, als wir mittags, zu früh! zu früh!, wieder fuhren, umspielt von Delphinen, Hunderten, aber keiner hatte mehr als Männerarmlänge. - Die aber dann, wie nach jedem Hafen, angehende Goodbye-Party, achterdecks, ging meiner Melancholie nun wirklich auf die Nerven. Eine jede tiefere Regung wird mit Rapten der allgemeinen Bespaßung niedergeplättet. So daß ich abends, zum ersten Mal auf diese Reise, einen körperlichen Ekel empfand, vor der, so kam es mir vor, verordneten Banalität, einem unbedingten Willen zur Schlichtheit. Und mich früh zurückzog, weil abermals Disko über das Meer ging. Anstelle, daß man hörte. An schlechter Musik habe ich für meine nächsten zehn Jahre genug; ich werde Monate brauchen, um diesen Brei aus mir wieder rauszukriegen, möchte eigentlich gar nichts mehr hören. Das Problem an schlechter Musik ist, daß man nach ihrem Übermaß auch gute flieht wie stockigen Geruch: Man will nur noch aus dem Raum raus!

(Nicht mal jetzt ist Ruhe davor, da doch der Wind so pfeift; gegen ihn plärren seit soeben die Boxen. Als könnten Menschen mit sich und ihren Gedanken nicht einfach mal alleingelassen werden und jedes Empfinden müßte auf eine Norm gestrichen werden, die keine Besonderung zuläßt. Vielleicht ist aber einfach nur mein soziales Vermögen erschöpft, permanent mit so vielen Menschen zusammenzusein, zumal solchen, die ganz andere Sehnsüchte treiben als mich. In der Berliner Arbeitswohnung bin ich oft über Stunden, manchmal auch tagelang für mich. Zwar, das könnte ich hier ebenso halten, einfach in meiner privilegierten Kabinensuite bleiben; aber seh ich das Meer, treibt‘s mich hinaus, doch dieses nicht empfängt mich, sondern die bespaßende Beschallung, und das bis spät in die Nacht. Heute früh hatte ich zum ersten Mal ein Problem damiut, jemandem „Guten Morgen“ zu sagen. Ich hätte am liebsten überhaupt nicht gesprochen, niemandem auch nur zugenickt.)
***

Noch etwas kommt mir zunehmend ungenügend vor, und das liegt an der Konzeption solch einer Kreuzfahrt-selbst, ist nicht vermeidbar, - nämlich, daß nie genügend Zeit bleibt, etwas kennenzulernen. Wir legen an, steigen aus, gucken, steigen wieder ein auch da, wo man bleiben möchte. Und das, dem wir wirklich nahe sind beinahe alle Zeit, nämlich das Meer, wird durch Beschallung vertrieben. Als Fluchtort bleiben die beiden seitlichen Bootsdecks und bleibt vorne der Bug, wo man stehen kann im Wind. Frischt der nur ein bißchen auf, wird es allerdings mit der Kontemplation auch dort auf Dauer problematisch.
*

Nun kannte aber auch Santa Cruz einen bitteren Tropfen. Ich schlenderte noch wohlgelaunt über die Rambla, als mir drei der Sängerinnen entgegenkamen, unter ihnen C. wie erblaßt. „Jawasist denn los mit dir?“ Noch liefen die Tränen. Sie hatte in Cabo Verde ihre Bankkarte benutzt, um zwanzig Euro abzuheben, 600 waren auf dem Konto gewesen. Hier nun, in Teneriffa, hatte sie ein Tablet kaufen wollen und war abermals zum Automaten. „Bitte kontaktieren Sie Ihre Bank.“ Nächster Automat, selbes Ergebnis. Sie fand eine Deutsche Bank, wo man ihr half und sie nach Hause telefonieren ließ, um mit ihrem Betreuer, einer ganz anderen Bank, zu sprechen. Die Benutzung der Karte hatte genügt, sie war quasi gescannt worden, die Geheimnummer gespeichert, dann war das Konto leergeräumt worden. Ein ganzes Monatsgehalt quasi weg. Nicht nachverfolgbar in Afrika und in Afrika sowieso nichts versichert. „Jetzt habe ich gar nichts mehr, nur noch meine Klamotten.“
Der Summe nach schlimmer, hörte ich nun, habe es einen Passagier in Durban getroffen; dieselbe Technik am Automaten und zwischen Ausflug und Schiff zwanzigtausend verloren. Gleichfalls unversichert. Wiederum Sam, auf Mauritius, war das Portomonnaie abhanden gekommen. Einmal umdrehn und schon weg. Aber auch ich selbst, wenngleich harmlos, ja geradezu witzig, habe mein Denkzettelchen bekommen; nur daß mir das, weil der Schaden so lächerlich ist, beinah gefällt. Ich war ja auch dumm gewesen, da in Durban, wo ich bei einem fliegenden Straßenhändler einen 32er USB-Stick erstand, für umgerechnet zwei Euro. Ich hätte ja mal nachdenken können. Aber das Ding sah so echt aus, eingeschweißt, ScanDisc-Aufdruck, täuschend original. Nun, gestern abend wollte ich das Dingel bespielen, für Katheryna ein bißchen Klaviermusik, die mir nah. Ich reiß also die Verpackung auf, merke noch nichts, stecke den Stick in den Laptop. Keine Reaktion. Seltsam. Ich versuch es noch einmal, dann erst seh ich den Stick mir an. Nichts als Plastik, eine pure Atrappe. Da habe ich laut auflachen müssen. Schon allein die Vorstellung ist irre, wie es da offensichtlich eine ganze Industrie gibt, die sich auf sowas spezialisiert, von Verpackung über Aufdruck bis zur Produktion der Fakes. Ich werde das Dingerl, wieder daheim, in meine Souvenir-Boards legen. Das, mit aller Pfiffigkeit, hat es sich verdient.

Und nun: Europa entgegen. Morgen mittag werden wir in Lissabon einfahren, unter der großen Brücke hindurch.
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Wieder in Europa, in Richtung auf Lisboa. PP165: Sechsunddreißigster auf den siebenunddreißigsten Tag der Großen Fahrt zur See. Notiert am Morgen des 7. Mais 2014: Mittwoch.

(6.55 Uhr.
MS Astor, Kabine 227.
36º56‘ N/8º41‘ W.
Kurs 67º NO.)
Ich trete, für den ersten Kaffee, aufs Achterdeck, und ein steter kalter West weht; tief liegen die Wolken. In ihrer Ecke die Abenteurergruppe, anders als ich gestern noch locker gewandet, sitzt in Ölzeug und dicke Pullover gehüllt, Strickmützen auf den Köpfen, und Meg, die hagere alte Dame, die sich, weil ebenfalls Raucherein, schon seit drei Wochen hinzugefunden hat, hat sogar Handschuhe an. John sieht mich und lächelt ironisch gequält. Ich, seit gestern bereits fest in der Büffellederjacke, mit Blick zu Himmel, West und Ost, sag nur: wart es ab, in Lisbon wird es wieder warm sein. Auch, wenn ich so völlig sicher mir nicht bin. Aber es gibt sich türkis hinziehende Sichtschlitze zwischen den schweren Wolken.
Gestern über den Tag habe ich ständig gefröstelt, kam auch mittags aus der Lederjacke nicht raus, obwohl die Sonne, gelang ihr ein Durchbruch, heiß war. Aber es mußte ihr gelingen dazu. Abends war ich erschöpft, fröstelte erst recht und zog mich bereits gegen elf zurück.
Wir fahren bereits auf knappspanischer Höhe, Portugal ist nah. Schon erstaunlich, wie kalt quasi immer das Meer war, auch auf dem Indischen Ozean schon, und wie schnell es warm wird, gelangt man nur erst an Land. Jedenfalls davon, am südlichsten Europa zu sein, quasi noch Nordafrika, keinerlei Empfinden. Der Westwind sieht auch auf der Wetterkarte nicht nett aus. Es kann also, wenn wir erst die Biskaya durchfahren, nett werden.
Erst einmal aber Lissabon. Und in der Tat, bereits als ich mich wieder hinabbegab, weil es draußen wirklich zu kalt zum Schreiben ist, Lederjacke hin und her, und ich das Bootsdeck starboards entlangspazierte, riß am Horizont landwärts die Wolkendecke mächtig auf, und der Sonnenball stieg. Sogleich wurd‘s auch wärmer, weil Steuerbord heute im Osten.
Mittags werden wir ankommen. Ich will im Leinenanzug heute hinaus, europäisch-pessoa‘sch, Leinenweste und Krawatte, dazu den weiten Strohhut. Ein Klischee, gewiß, aber eines, das man kaum mehr sieht, außer in Filmen. Unser Aufenthalt liegt allerdings nicht günstig, von 13 bis 19 Uhr, späteste aboard-Zeit 18.30, da fällt die meiste Zeit in die Siesta. Aber ganz gut für einen Spaziergang.
Es gab auf der gesamten Reise, abgesehen direkt von den Häfen, sehr wenige Schiffe mit uns, also in Sichtweite. Seit gestern nachmittag hat sich das geändert, und im Dunklen begleitete uns allezeit ein langer Frachter; wir beobachteten gegenseitig unser Schaukeln: das Schaukeln unserer Bordlichter, mal der Frachter über uns, mal wir über ihm. Kevin kam kurz heraus, fröstelte, schüttelte sich, er gehe jetzt schlafen, da war es noch nicht zehn. „I got a man‘s cold“, sagte er. Muß ich nachschlagen, was er genau damit meint. Was das ist, eine „Männer-Erkältung“. Scheint mir mehr etwas Seelisches als etwas Körperliches zu sein. Eine unglückliche Verliebtheit vielleicht? Indessen ich mich ein wenig - glücklich, aber unkörperlich - in eine alte Dame verliebt habe, mit der ich morgens immer mal etwas plaudre - eine sehr gepflegte, in ihrer dezenten, aber hochbewußten Kleidung überaus stilvolle Australierin, die oft abseits sitzt und lächelnd beobachtet, voll gelebten Lebens, spüre ich in jedem ihrer Sätze, die Augen gehen ruhig über die Dinge. Lanmeister wiederum, nach dem vielen musikalischen Remmidemmi, hat mir, dem davon Genervten, nahegelegt, ein Schweigegebot auszusprechen: „Sie sind doch der A u t o r des Romans. Sie können das doch tun!“ Wobei das Ausrufezeichen nicht stimmt. Es gehört da nicht hin; Lanmeister ruft nicht mehr aus, er sagt einfach nur.
„Aber“, entgegne ich ihm, „das wäre unrealistisch, wäre nicht unglaubwürdig.“
„Ihr ganzer Roman ist unglaubwürdig“, entgegnete er. „Aber seit wann sind Sie ein realistischer Autor? Sie wollen ein Märchen schreiben. Dann tun Sie‘s bitte auch.“
Und als ich darauf nichts mehr sage, er noch einmal: „Sie spielen nicht zufällig Domino?“
So kommen wir jetzt, fast am Ende der Reise, doch noch in Kontakt. Auf jeden Fall sollte ich ihn der alten charmanten Australierin vorstellen, die, des bin ich mir gewiß, eine sehr sehr schöne Frau einmal gewesen ist. Und die schöne Südinderin, mit der ich bisweilen flirte, wenn sie mir ein Getränk bringt, sagt, ohne aber den Mund zu öffnen: „Wenn du aber doch andere Fersen meinst, andere Waden, andere Armbeugemuskeln..?“ Darauf keine Antwort wissen, die nicht gelogen wäre. Beschämt breche ich ihn ab, unsern Flirt. Nehm ihn beim nächsten Treffen wieder auf, beinahe trotzig und als wäre diese Frage nicht gestellt worden, die eine Feststellung war.
***

(8.05 Uhr.)
Es sind lange, sehr lange Wellen heute morgen. Ich bin noch einmal hinauf, weil mich die Sonne zog und schon die Wärme versprach, die aber noch nicht da ist. Doch das Licht ist es.
Nächsten Kaffee, hinauf aufs obere Achterdeck, einen Zigarillo geraucht, dabei gedacht: So lange ich nicht meinen Frieden mit der Banalität mache, werde ich den Menschen niemals nahekommen. Ich dachte, daß ich die Banalität verstünde, wo das Elend ist, die Armut ist, wo die Menschen, wie in den Ländern oft auf dieser Reise, arbeitslos am Straßenrand sitzen und auf etwas hoffen, das sie gar nicht im Wort haben, daß ich das verstehe, wenn sie wegdenken, wegfühlen wollen und vielleicht auch müssen, nicht aber dort, wo sie im Wohlstand leben. Was soll das ständige Bespaßen d o r t?
Aber vielleicht ist alles ganz anders. Patrick, mein Heiratsschwindler, trat zu mir, um mitzurauchen. Er verläßt heute das Schiff, früher als gebucht, hat einen Billigflug nach Dublin bekommen, der um 15 Uhr von Lisboa abhebt. „Ich bin es so müde“, sagte er, „ständig die Shows, ständig Musik, ich brauche Raum für mich selbst.“ Es geht ihm ganz wie mir, so daß ich dachte, vielleicht geht es ja nicht nur uns wenigen so, sondern vielleicht sogar vielen, daß a l l e sie auf Ruhe hoffen, Stille, Fürsichsein. „Für zwei Wochen“, sagte Patrick, „ist das schon ganz nett, so Dauerunterhaltung. Aber danach?“ So daß das ständige GutAufgelegtSeinMüssen, das hypomane Rumgetanze und Gesinge den Menschen vielleicht gar nicht entspricht, sondern über sie hinweg vom, sagen wir mal, Apparat der Veranstaltungsindustrien vorgegeben und über alles einfach gebügelt wird? weil dies der Wille des, hätte man in den Siebzigern gesagt, „Systems“ ist, und die Menschen wissen nur nicht, wie sich dagegen wehren? „Sehen Sie“, sagt Lanmeister, der unversehens bei uns steht, aber nur ich nehme ihn wahr, „jetzt fangen Sie an zu schauen.“ Aber anders als Patrick, der, erzählt er, in den letzten zwei Wochen abends bei keiner Show mehr war, sind die Entertainmens-Events ständig voll; die Leute könnten ja wegbleiben. Oder mögen sie sich nur nicht absondern, mögen nicht auffallen? Tatsächlich ist Lanmeisters Bootsdeck nachmittags bis in den Abend immer gut belegt, von leisen Leuten, die nur lesen oder aufs Meer schauen, während achtern der Tanzbär umgeht, sei es nun singend-gedudelt oder beat‘end gegrölt, sei es tatsächlich mit geschwungenem Bein. Es gibt die Stillen.
Mein Blick kreuzte sich mit eines anderen, der meine Alters, vielleicht etwas jünger; auch er stetig notierend, mit Innenblick, vielleicht ein Schriftsteller auch, und ich bin nun für ihn Figur wie er unter den andren eine für mich. Oft sitzt er mit „meiner“ australischen Lady zusammen. Dennoch, Banalität ist das Thema der Reise, sie deckt jeden Tisch, dringt aus den Fugen der Türen, liegt über den Teppichböden, auf den silberfarbenen Handläufen der Treppenaufgänge, auf den Planken der Decks; nur ganz vorn am Bug, weil da der Wind so weht, daß dort langen Bleibens nie ist, wenn wir auf See sind, fehlt sie. „Sprechen Sie ein Schweigegebot aus, glauben Sie mir.“ Lanmeister wieder. „Und dann, dann: Dann sehen Sie uns an, uns und sich selbst.“
Wir sollen abgelenkt werden. Sind für die Momente dafür dankbar. Und aber leer danach. Lange, lange, sehr lange Wellen.

(Ich sehe meiner Wiederbegegnung mit Lissabon entgegen, mochte die Stadt beim ersten Mal nicht. Meine Leser:innen werden sich erinnern. Sie ist mir zu depressiv gewesen. Jetzt, in meiner Melancholie, mag das ganz anders werden. Ich habe das Gefühl, daß wir einander heute entsprechen. Das macht mich auf sie auf eine andere Weise gespannt, als ich es vor drei Jahren war, ja ich habe das Gefühl, sie reicht mir schon über die See ihre Hand zu, die linke, die vom Herzen kommt, indessen der tägliche Programmzettel warnt:When in Lisbon today please make sure that you are vigilant and keep your belongings close to you all the time. Pickpockets are known to be working in this area so please take extra care.Immerhin, es wird von „working“ geschrieben, was dieser Art von Arbeit, wo es keine sonstige gibt, ein gewisses Recht zugesteht. Dennoch wird die Unvoreingenommenheit zerstört, die jeder haben muß, der in der Fremde sehen möchte. Wo es Armut gibt, gibt es Diebe; es wäre furchtbar um die Menschen bestellt, wäre dem anders. Dann nämlich gäbe es nicht einmal Hoffnung.)
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Life

is like a drifting leaf, a wave in the ocean, a strange allusion,
a sudden thunder on a summersday.
The taste of nothingness, a fiest of friends.

Liebsboa: Lissabon. PP166: Der siebenunddreißigste Tag der Großen Fahrt zur See. Nachgetragen am Morgen des achtundzwanzigsten, eines Donnerstags, nämlich dem 8. Mai 2014.

Lisboas-erster-Kaffee-070514
(8.27 Uhr.
MS Astor, Oberes Achterdeck, wieder auf dem Atlantik.
41º33‘ N/9º36‘ W.
Kurs 345º N.)
Gestern hatte Die Dschungel mal wieder einen Idioten zu Gast, den es, daß er einer ist, auch zum Ausdruck drängte. Ich hab das Zeugs heute morgen gelöscht, mag mich nicht abgeben mit so etwas, bin grad ein bißchen zu weich, um kontern auch nur zu wollen. Ich habe tatsächlich geweint, als wir Lisboa wieder verließen, nicht sehr nein, nicht „richtig“, nur so ein bißchen lief mir was Nasses die rechte Wange hinunter; es hätte, Sie haben völlig recht, auch vom Seewind rühren können.
Daß meine zweite Begegnung mit dieser Stadt anders als die erste würde, hatte ich, Sie lasen es sicher, geahnt. Aber nicht, daß mir dort widerfahren würde, was ich so bislang nur mit Neapel erlebt habe. Auch diese Stadt, bei unsrer ersten Begegnung, stieß mich ab, „nur raus!“ haben wir beide, Do und ich, damals gedacht, „bloß schnell wieder weg hier!“ Und für Lisboa muß man „abstoßen“ aktiv lesen: die Stadt gab mir einen Tritt. Danach war ich so fertig, daß ich auf die Idee kam, diesen Sterberoman zu schreiben: Ich wollte mich versöhnen. Und nun nahm mich die Stadt ans Herz.
Vielleicht hab ich sie überhaupt jetzt erst gesehen. Vor drei Jahren war ich mit dem Freund hier, der sie schon kannte und mir zeigte, was er kannte. Da sind wir, anstatt durch die Gassen zu gehen, gleich auf die Burg hoch, die voller Touristen, dann auf die Praça Pedro IV, die ebenfalls voller Touristen, und weiter westlich den Chiado-Hügel hinauf, wo‘s, verglichen mit dem Gassengebiet des Burgbergs, übersichtlich ist. Ich mag keine Übersichtlichkeit und vor allem dann nicht, wenn sie mit Melancholie und Stille verbunden ist; das ist mir zu leb- und leidenschaftslos; da werd ich depressiv.
Gestern aber – ich war als allererster von Bord – zog mich die Stadt, s o g sie mich ein, und zwar sofort, nachdem ich aus dem Hafen raus war: sog mich in die Gassen; ich weiß nicht mehr, wie viele Treppen und Treppchen ich stieg und über wie viele der kleinen rutschglatt-getretenen Kopfsteine ich dahinschritt, mit denen die schmalen Gehsteige beschlagen sind. Lisboa ist ohnedies eine Stadt des Kopfsteinpflasters, Katzenköpfe der Fahr- und Kätzchenköpfe der Fußweg; dazu die alte kurze Tram, in der aber nur Touristen saßen. Es waren, insgesamt, zu viele Touristen in dieser kleinen Stadt; ich versteh einfach nicht, weshalb sie sich immer auch kleiden müssen wie Touristen; geradezu sofort sind sie zu erkennen, selbst wenn sie hundert Meter weg sind. Da muß es doch niemanden wundern, wenn sie zu Diebesopfern werden. Mir selbst ist es schon peinlich, mit einer Kamera herumzulaufen, offen baumelnd vorm Bauch. Die Einheimischen müssen sich doch fühlen, als wären sie Tiere im Zoo. Manche rächen sich dafür. Imgrunde ein angemessener Ausgleich.
Wenn man zum Castelo São Jorge aufsteigt und wieder hinabgeht durch die Gäßchen und von unten, sich umdrehend, noch einmal hinaufsieht, wird einem augenklar, woher der Begriff des „Bürger“s stammt: so sehr sind die kleinen Häuser und Hausgebilde in den Schutz des Burgbergs teils geschmiegt, teils darunter geduckt, wie unter die Flügel eines riesigen Vogels, der dort, aus Wehrmauersteinen, seinen Hort hat. An jeder Ecke gibt es neue Ein-, Hinab- und Hinaufblicke, Gärtchen zuweilen, vor die Wohnkammer, die wie in Süditalien direkt auf die Straße hinausführt, gestellte Stühle, mal eine Bank, dann wieder über den Dächern nicht das Meer, nein, die lagunenartige Mündung des Tejo, der vor Lissabon ein riesiges, einzigartig geschütztes Hafenbecken ist und erst nach einer Enge, über die der berühmte Ponte de 25 Abril gespannt ist, zur Meeresmündung wird. Von dort, nicht von Lissabons heutigen Kais, brachen die großen Seefahrer auf, nach Indien etwa Vasco da Gama. Insofern liegt die Stadt nicht wirklich am Meer und liegt da irgendwie d o c h.
Nach nur wenigen Treppchen nahm ich meinen ersten, einen ausgezeichneten, Caffè. Für sechzig Cents, kaum zu fassen. Und telefonierte erstmals wieder, mit daheim. Rauchte, sann. Es war warm, die Sonne schien allezeit. Wie ich es mir, in der empfindlichen Frische unserer Anfahrt, gedacht hatte. Und schritt weiter, immer wieder stehenbleibend, die Augen schließend, lauschend. Ließ den Recorder mitlaufen. Flanierte weiter, hinab zur Praça Pedro IV mit einem Abstecher ins hochgeschönte chicke Baixa, uninteressant, und wegen der wartenden Touristenschlange nicht mit dem berühmten Aufzugsturm, sondern zu Fuß nach Chiado hoch, aber weiter und immer weiter, bis sichg nur noch sehr vereinzelt und auch nur als Pärchen, die in ihren Stadtplänen lasen, Touristen sehen ließen, dann über Madragao bis Estrela hoch; je höher man kommt, desto reicher wird es. Doch nicht nur hierin gibt es Ähnlichkeiten mit Neapel. Das Temperament indessen, der Menschen, ist anders; sie sind, wie die Stadt selbst, meistens still. Innengekehrt. Auffällig unaggressiv.
Doch weiter. Weiter die Avenida Alvares Cabral entlang zum Largo do Rato und von dort einer der breitesten und prächtigsten Avenuen zugeschritten, die ich überhaupt kenne: einer mondänen Rutsche gleich führt sie bis fast zur, wieder, Praça Pedro IV hinab, palmenbestanden mit längsgezogenem Grün inmitten, dort blumengeschäumt, aber gesäumt von den Repräsentanzen der wahren Herrschaftsfamilien der Welt, Prada, Rolls Royce, Chanel – der registered trademarks Hoch-Aristokratie.
Vorm Musical-Theater saßen die drei Instrumentalisten des Astor-Ensembles, Baß, Klavier und Schlagzeug, und winkten mich zu sich auf einen „Vinho pressione“. Sie hatten schon einigen Gläsern herzlich zugesprochen, „immer“ erzählte Nicolae, „wenn ich in Lissabon bin, komme ich genau hierher, auf gradem Weg vom Hafen, setze mich hin und trinke diesen Wein, bis ich wieder an Bord muß“. Mich aber zieht es noch einmal den Burgberg hinauf, um dort in einem Gassenwinkel, wo zweidrei Stühle draußen stehen, einen letzten Caffè zu nehmen und einen Cigarillo zu rauchen. Um zu sinnen. Noch nie, wenn ich nach Europa zurückkam, verspürte ich solch ein Heimatgefühl. Ich bin kein Deutscher, dachte ich, sondern ein Europäer, der so ein Deutscher ist, wie in Deutschland ein Bayer ein Bayer, ein Sachse ein Sachse und einer aus Hessen ein Hesse.
*******

(10.30 Uhr.)
Ich habe das Achterdeck wieder verlassen. Es ist, um zu schreiben, wirklich zu kühl. Noch auf keiner Reise vorher hatte ich es derart täglich mit Temperaturwechseln zu tun. So warm und licht es in Lisboa auch war, kaum verließen wir den Tejo, begann ich zu frieren. Kevin hat sich tatsächlich eine handfeste Erkältung zugezogen, sitzt dick verpackt draußen und fiebert vor sich hin. Einen anderen aus der Abenteurergruppe hat‘s im Gesicht erwischt: Er schlug nachts hin auf einer der Treppen. John stapft unwillig brummend übers Achterdeck, von der unteren zur obren Raucherecke hoch und wieder zurück, die Pudelmütze bis zu den Augenbrauen runtergezogen. Und Meg kommt auf See aus ihren Wollhandschuhen so wenig mehr heraus wie ich aus meiner Lederjacke. So schaukeln wir spürbar der Biscaya entgegen, wo wir vielleicht nicht nur noch schaukeln werden. Wenn nicht der Wind dreht.

Die Sonne wirft indirekt ein Gleißen aufs Meer. Das tausendfach, wo es getroffen, aufblitzt. Und wir ahnen im Osten das Land.
***

Bleisee. Seemüd in der Biskaya. Der achtunddreißigste auf den neunundreißigsten Tag der Großen Fahrt zur See, nämlich PP167: Freitag, der 8. Mai 2014.

>(8.05 Uhr.
MS Astor, Kabine 227.)
Wir fahren auf den Kanal zu. Die Biscaya war ruhig, sehr ruhig, zu ruhig für meinen Geschmack. Daß sie auch kalt war, damit war zu rechnen. Schweres Gewässer, ganz selten gestern ein Sonnenstrahl, eigentlich gar keiner. Der frische West aber frischte nicht auf, ließ nur das Wasser lasten. Ich ging bis zu den Ohren eingehüllt, Pullover zweidrei Schals Lederjacke lange Jeans Sneakers, und spürte, wie ich Minute um Minute an Farbe verlor. Antriebsschwach, wieder den Sport ausfallen lassen, es ist diese Lichtlosigkeit gar nichts für mich. Wenn wenigstens Sturm gewesen wäre!
Das Schiff bereitet sich auf den Wechsel vor; in Lissabon kam bereits deutsche Crew an Bord, seit Santa Cruz reist jemand der deutschen Eignerfirma mit; in Harvich, übermorgen, wechselt quasi die gesamte Besatzung, insbesondere des Sevices, weil in Bremerhaven am Montag die deutschen Reisegäste kommen; da soll man eingearbeitet sein. Ist mir übrigens schleierhaft, wie man in der beginnenden Wärme des deutschen Frühjahrs eine Reise in die Kälte buchen kann: ans Nordkap und erstmal um Großbritannien herum, dann über Spitzbergen in die Behringsee bis Alaska und Canada. Ich steh draußen auf dem Achterdeck und fröstel. Gestern nacht kam es mir vor, als hätte ich Fieber, während ich gleichzeitig bibberte. Doch über Nacht hab ich das weggeschlafen. Es war, wie ich‘s auch dachte, seelisch.
Alles im Umbruch nun, wie geschrieben. Für die Wintersaison war das Schiff an ein englisches Unternehmen verchartert worden. Jetzt werden die englischsprachigen Bücher aus der Bibliothek genommen und die deutschen wieder einsortiert; einige auch vom Entertainment helfen dabei mit. Während an Deck mit besonderem Nachdruck renoviert, gemalert, bepinselt wird, Planken werden ausgebrochen und ersetzt, die Tische und Stühle kontrolliert. Wenn die australischen Passagiere von Bord sind am Sonntag, wird alles wie Edelweiß glänzen. Einige neue Passagiere werden die Überfahrt nach Bremerhaven mitmachen, aber insgesamt seien es nur, bis gestern, sechzig, hörte ich. Man hat Emails an die jetzigen Passagiere verschickt, Sonderangebot, für alle, die die Passage noch mitmachen möchten, 99 Britische Pfund. „Das kam leider etwas spät“, sagt meine Schweizer Freundin D. „Ist doch längst gebucht, mein Flug von Gatwick nach Zürich.“
***

Abermals eine Stunde die Uhr vorgesellt, meine Kompaß-App im Ifönchen fängt zu protestieren an. Immerhin, jetzt sind wir, Sie und ich, wieder zeitidentisch. Das Irrste aber ist, daß mir schon heute Lisboa wie ein Traum vorkommt, doch wie ein mächtiger, übermächtiger, der sich fast völlig über Santa Cruz gelegt hat. Ich war doch so be-, im Wortsinn, geistert! Jetzt ist da nur noch Lissabon, im Geist. Und Port Louis, Mauritius, ist geblieben, mit ebensolcher Plastizität. Alles andere verrinnt, verblaßt, schon jetzt, als hätte ich eine Woche lang Reisesendungen im Fernsehn gesehen. Sogar Kapstadt. Ich werde die Fotos brauchen, wenn ich mich erinnern will. Von Cabo Verde bleibt das von Max Ernst gemalte Wrack unter See. Ich stand heute morgen in der fast schon Nordseefrische, nippte von meinem plörrigen Kaffee, rauchte einen Cigarillo und versuchte, Kilometer für Kilometer meiner Reise noch einmal nachzuvollziehen, in angemessener Chronologie. Chronos verweigert sich aber; statt dessen schimmern Zeitflächen auf, die keine Stetigkeit kennen. Eine Straßenecke in Hongkong, der Gemeinschaftsraum des Sundancer‘s in Freemantler sowie die Südmole da, ganz Port Louis, aber schon der Indische Ozean schmilzt auf kaum einen Tag zusammen, auf bisweilige Güsse schwerwarmen Regens, dann die Wale vorm Kap der Guten Hoffnung, von Kapstadt die gräßliche Waterfront und der Schwarze Markt, der zweidrittels vor sich hinschlief, sowie einige Gesichter von Händlern, mit denen ich feilschte. Da bin ich aber bereits in der Wüste: Heute morgen kommt mir mein Ritt auf dem Kamel länger vor als alle meine Seetage zusammen. Wie also wird das für Lanmeister sein, der das Schiff doch niemals verläßt? (Bekannte, von den Landgängen, bringen ihm bisweilen ein Souvenir mit an Bord, die stellt er in seiner Kajüte auf, um sie zu betrachten. Ich wiederum habe begonnen, Stefan Maus‘ nur als eBook erschienenen Roman „Die reinen Herzen“ zu lesen; elegant formuliert mit manchmal einem allzu stark gewollten Hang zur allerdings so virtuos gehandhabten Witzigkeit, daß man befürchten muß, es sei, was als Satire daherkommt, eine ziemlich finstere Realität. Aber dazu werde ich, nach Abschluß der Lektüre, noch gesondert schreiben. Ich habe mich auf den ersten hundert Seiten gefragt, wieso dieser Text offenbar keinen Verlag gefunden hat; daß Maus literarisch schreiben kann, ist auf ersten Blick klar; es hätte aber ein fremdes Auge mit darübergehen sollen; das ist ein bißchen schade, daß das, so spüre ich, nicht geschehen ist. Aber daran liegt es nicht. Sondern daran - nach weiteren hundert Seiten gab es für mich keinen Zweifel mehr -, daß der deutsche Literaturbetrieb solch eine geballte Ladung Sexualität nicht verträgt, vor allem, wenn sie derb und spöttisch zugleich daherkommt und nennt, was benutzt wird. und außerdem sich noch mit Politik, oder sagen wir: Abrechnung, nicht nur sozusagen dauerpaart, worinnen wiederum „die Kirche“ einige Rollen mitspielt. Der Betrieb ist bis in seine Grundfesten prüde, woraus notwendigerweise folgt, daß er bigott ist. Wenn dann noch jemand nicht ‚politisch korrekt‘ schreibt.... - Es ist eine entschiedene Stärke des übrigens sehr unterhaltsam zu lesenden Romans, daß Stefan Maus genau dies nicht tut: „korrekt“ schreiben. Correctness ist, und zwar immer, Tartuffe. So kriegen Sie von mir sogar noch ein Bonmot heut früh. Seien Sie dankbar! Correctness ist Tartuffe. Sie dürfen das weiterverwenden, auch wenn Sie die Quelle nicht nennen. Von Unholdsherzen: Ihr Herbst.

Bleisee. Ich bin seemüd seit gestern.
***
Ah nein, n o c h eins, ich notierte das aber vorgestern schon:

… daß sich alternde Frauen wie Püppis kleiden, ist nicht peinlich, weil sie aufs Alter zugehen, sondern weil sich die Püppis so kleiden. Das müßten sie, diese Frauen, in ihren Lebensjahren nämlich gelernt haben. Mode gewordene Dummheit ist im Alter nicht mehr entschuldbar. (Spitzenstülpchen über den Knöcheln und Dolores-Blume im schütteren Haar.)
*

(‘s wird Zeit für meinen Dreitagebart wieder, Bräune krieg ich eh nicht mehr.)
*

Rückwärts einparken ODER Die Ankunft in Le Havre. PP168, Vierzigster Tag der Großen Fahrt zur See. Am Sonnabend, den 10. Mai 2014.

Le-Havre-rueckwaerts-einparken-100514


(Das erste Mal, daß es mich, wenn wir anlegen, nicht sofort von Bord treibt.)

Starkfarben

Für dich schminkt
sie sich nicht,

sie tuscht nur ihre
Brustwarzen rot,

will erschöpft sein:
untenherum glitschbunt
von dir.

Le Havre, Harvich und das Ende einer Reise. PP169 (ANFANG): Vierzigster bis zweiundvierzigster Tag der Großen Fahrt zur See. Sodann heimgekommen und gleich eine erste Enttäuschung, die freilich zu erwarten war: Das Traumschiff und der Deutsche Literaturfonds. Geschrieben am Mittwoch, dem 14. Mai 2014.

[Arbeitswohnung.
7.49 Uhr.]
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So, ja so rannte das Meer hier gegen die Kais. Und als wir wieder hinausfuhren, in den Kanal einfuhren, war die See endlich See, nicht ruhiger Teich mehr, sondern voll eines eigenen Willens, der sich nehmen wollte und Widerstand entgegensetzt. Daß mir das sehr gefiel, muß ich Ihnen nicht eigens schreiben, Sie kennen es von mir.
Wiewohl, also, ich erst gar nicht von Bord wollte, als wir >>>> angekommen waren, zumal heftig der Regen vom Himmel stürzte, war ich dann doch der allererste, der das Schiff verließ. Und ich ging die zweieinhalb Kilometer allein der Kais und Anlagen und Hebebrücken, hoffend, denn es pladderte und pladderte Bernhardiner und Pumas, aber frierende, - hoffend, gleich ein Café zu finden für ein Croissant und endlich wieder einen vernünftigen Café au lait; aber es gab und gab keines, jedenfalls nicht in Hafennähe, keines, das geöffnet hatte. Dann endlich, vorm letzten Bassin vor der Stadt, schlief mir ein nasses Licht entgegen, daneben eine Bäckerei. Dort sollte ich mir das Croissant holen, der Barmann hatte keines, „hab ich nie, ich schick immer alle nach nebenan“. Köstlich, sag ich Ihnen. Auch die Gauloises sans filtre, die ich im Café gegen eine ziemlich horrende Summe erstand. Nebeneinander auf der kleinen Terrasse mit Beckenblick standen wir dann, er und ich, tranken beide Café und grummelten in uns hinein, er rauchend, ich rauchend. Von seltener Zeit zu seltener Zeit hielt ein Wägelchen vor der Tür, mal eine Frau, mal ein Mann stiegen mit hochgezogenen Schultern heraus und wutschten patschpatsch ins Café, so daß mich mein schweigender Compagnon dann immer für kurzes verließ, man hörte die Kaffeemaschine, das Klirren der Täßchen auf Untertäßchen, aber schon stand er wieder neben mir und blickte gleichzeitig bedeutungsvoll und leer hinaus.
Ich stand eine Dreiviertelstunde da, nahm noch einen zweiten Café, nun einen richtigen, also „kurzen“; schließlich machte ich mein Herz zum Taucher und brach zu einem ersten Rundgang auf. War eh patschnaß. Ich bin wirklich dankbar dafür, meine schwere Büffellederjacke auf die Reise mitgenommen zu haben und gab ihr am folgenden Morgen einiges Lederfett zu trinken, ein schweres, das sie geradezu einsog. An den hellen Anzug von Lissabon war nicht mehr zu denken, und überhaupt ist ein größerer Kontrast wie zwischen dort und Le Havre kaum vorstellbar. Aber auch dies, ich spürte es in jeder Faser, war mein Zuhause Europa.
Die Straßen blieben noch unbelebt, bis fast gegen zehn. Irgendwann kam mir meine alte schöne Dame von der Astor entgegen, wir plauderten, sie hatte einen Regenschirm. Mir fiel ein, daß ich unbedingt Käse kaufen müsse. Und Calvados. So hatte ich ein Ziel.
Calvados war überhaupt eine Idee. In eine nächste Bar, aber man verstand erst nicht, was ich wollte. „Ah!“ rief die Frau schließlich aus. „Un Calvà!“ Das war heiter, wie ich dann schon so früh ein bißchen beschickert das Straßennetz abschritt.

>>>> Le Havres Zentrum ist eine synthetische Stadt, die nach der Zerbombung neu in den Fünfzigern aufgebaut wurde, und zwar nach den Vorstellungen einer neusachlichen Architektur, die heute bereits historisch wirkt und ohne es zu wollen – sie wollte sogar das Gegenteil – die faschistoide Eckigkeit in die Nachkriegszeit weitergetragen hat, nicht großspurig, sondern kleinhalsig-quasiarithmetisch mit einigem, das an Stalinbauten erinnert, aber aufs „einfache“ Volk hinuntergedacht, schmucklos kantiger Stahlbeton, allein auf Nutzen aus und Nutzbarkeit, ohne Einschlüpfe, hinter die sich unsere Augen träumen könnten. Vielmehr, sie stoßen dauernd an oder verlieren sich in den völligen Geraden, von denen die Viertelchen beschnitten werden. Erst wenn man die vom Hafen ausgehende Strandfront entlangspaziert und von dort aus, etwa in ihrer Mitte, gegenüber dem Meer hin den Ort wieder hochtreppt, finden sich noch Vorkriegshäuschen und sehen in ihrer zumindest angedeuteten Buntheit wie Häuschen am Meer auch aus:

Von hieraus dann begreift man erst, was >>>> Auguste Perret, nach dessen Plänen der Wiederaufbau durchgeführt wurde, im Sinn gehabt haben mag. Und es war spannend, wie sich nun, von der rauhen Strandpromenade kommend, mein Blick änderte - und mein Gefühl. Ich würde hier nicht leben wollen, auf gar keinen Fall, aber verstand, und zwar zunehmend intensiv, daß und wie man diese Stadt lieben kann, verstand auch den ganz offenbaren Stolz der „Havrais“, der nicht nur vielen Veranstaltungsankündigungen abzulesen ist, die die Cafés und Kneipen affichieren. Und als ich dann meinen Käse erstanden hatte, drei oder vier Kilo, die irgendwie an Bord geschmuggelt werden mußten, war ich ohnedies versöhnt. Und machte mich mit einem frischen Baguette, bon cuit, zum Hafen wieder auf, um an Deck mein Mittagsmahl zu nehmen.
Tat ich. Der Küchenchef sah‘s und freute sich. „Das wollte ich auch noch tun: Käse kaufen.“ Aber er war on duty.
Und es klarte auf. Nicht, daß die Wolken sich völlig verzogen, nein nein, aber sie ließen Sonne durch, und der Regen hörte auf. So daß ich, als ich ein zweites Mal durch den Hafen spazierte, nicht weiter naß wurde. Ich spazierte nun die Wasserfront entlang, denn schon bei meinem ersten Gang war ich am „Muma“ vorbeigekommen, dem >>>> Musée des Beaux arts André Malraux, daß die zweitgrößte Sammlung impressionistischer Malerei nach Paris beherbergt. Die wollte ich sehen. Auch hatte mir die Außenarchitektur des Museums gut gefallen, sehr gut sogar, direkt am Meer zwischen Hafen und Seepromenade, luftig und einladend mit einer mir nahen Modernität, die dennoch und auf sehr reizvolle Weise mit den Bauten Perrets spielt:




(Wird fortgesetzt; ich habe Termine, denen ich den Vorrang geben muß. Es ist gerade insgesamt nicht leicht, mich auf die letzten Tage rückzukonzentrieren, nicht in mir und nicht außen. Und >>>> dieser Scheiß da, der sich in Kommentaren austrug, machte es mir nicht leichter.)(10.04 Uhr.)

DRAG

Es regnet in der Kaiserstadt
Ein Taxi hält dort
Wo kein Taxi halten sollte
Ein Blick zuviel
Mehr als ich haben wollte.

Der Mond liegt wie ein flacher Stein
Am Boden, das gelbe Licht der Nacht
Perlt über deine Haare
Stiebt auf wie Gischt
Rollt in den U-Bahnschacht.

Ein Hieb, zwei rote Lippen,
Die stumme Dragqueen trinkt Martinis
Der Ridgeback schläft, das Gift geht nieder
Der Regen rauscht
Wir sehen uns nicht wieder

Wenn's ihnen Spaß macht
Sollen sie sich amüsieren.
Man schafft Mysterien
Wenn man ehrlich ist
Und stirbt doch mit den Tieren.
 



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