die elfte Stunde. (Der fünfte September I...
So geht's, wenn ein junger Veranstalter, der selber gerne schreibt, mit viel Energie und Idealismus einen Lesungstag aus dem Boden stampft, aber, weil er auf Financiers und Mitträger Rücksicht nehmen muß, sich lieber die Texte nicht anschaut: Es wird eine Familienveranstaltung, eine Art Nachmittag für die jüngere empfängliche Hausfrau (zu denen auch das eine und/oder andere Männlein gehört), die sich am leidhübschen Poetchen delektiert.
Man sitzt kaffeekränzchend beisammen und lauscht lauen Texten, durch die alle naselang ein Autobus braust, da wegen des Sommerwetters die Tür zur Straße nicht geschlossen wird. Und springt jemand auf, um den Mißstand zu beheben, läßt sie der nächste, der eintritt, gleich wieder auf. Dabei Getuschel und eine Talentshow, welcher meist der erste Teil des Wortes f e h l t. Nur ganz bisweilen glitzt eine Sprachfindung auf, bei der sehr sehr jungen Sonja Petner etwa, deren lyrische Gebilde nach einer Eisenhand rufen, die das Gutgemeinte aus dem Wohlklang verbannt. Unerträglich schließlich - aber man darf das nicht sagen - die ältere Mutter, die ihren Sohn verlor und darüber ein Buch schrieb, aus dem sie nun liest, als wäre ein Sohn im Text tatsächlich d e r Sohn und als wäre schließlich sie als Figur auch sie selbst. 
"Weshalb haben die Menschen kein Gespür für Peinlichkeit", fragte ich flüsternd die Tomiak, die neben mir saß. "Ich habe keine Ahnung", flüsterte sie. Nicht Trauerarbeit, was legitim, aber immer noch keine Literatur wäre, war hier geleistet worden, sondern das genaue Gegenteil: die Trauer feiern und damit sprachklebrig sich selbst zelebrieren. So daß man aufstehen und der verlorenen Mutter sagen möchte: Seien Sie nicht so sentimental. Was persönlich Unrecht, künstlerisch aber in aller Grausamkeit geboten wäre. Doch selbst i c h hielt die Schnauze.
Und dann d o ch ein Erlebnis.
Nämlich lasen im Anschluß an all die Jungen und jungen Alten einige ehemalige Analphabeten, die sich nun, nach Abschluß ihres neuen Lebensaufbruchs, Schreibgruppen angeschlossen hatten. Und der erste dieser fast durchweg leicht behinderten Menschen stand stockend vor Pult und Text und kommentierte die Erzählung seines Illustrators mit großem, irgendwie schiefem, ja zuckendem Lachen, wunderbar innig waren in ihm Hilflosigkeit und Anstrengung, Wille und eine schöne Form von Eitelkeit gemischt. Wie diagonal geneigt sein Körper dabei war und fuhr mit dem linken Zeigefinger gegenläufig jedes einzelne Wort nach.
Er auch war der einzige, der in Hemd und Krawatte zu dem für die Leute durchaus feierlichen Nachmittag erschienen war. Und fing dann stotternd und langsam den eigenen Text vorzutragen an und trug ihn in einem Rhythmus vor, der gänzlich neben den Worten lag, aber gerade dadurch Kraft in sie hineinbrachte... Kraft und Kunst.
Etwas Ähnliches habe ich zuletzt bei einem Vortrag John Cages erlebt, vor Jahren im alten Frankfurtmainer Theater am Turm. Nach einer Stunde begann dort der konzentrierte Hörer zu schweben. Hier nun war es nahezu beängstigend, wie schnell sich nach all dem Halbgesabbel Aura in den Raum breitete... nicht beabsichtigt, gewiß, sondern so wie große Werke o f t entstehen: aus Anstrengung und Notwehr.
Als sich entgegen unserer Hoffnung kein zweites solches Erlebnis einstellen wollte, sondern der Spätnachmittag nun eine deutlich sozialpädagogische Wendung nahm, flutschten die Tomiak und ich durch die Tür in den sonnigen Tag davon und radelten zum CORSO DER LICHTGESTALTEN auf den Schloßplatz hinüber.


"Weshalb haben die Menschen kein Gespür für Peinlichkeit", fragte ich flüsternd die Tomiak, die neben mir saß. "Ich habe keine Ahnung", flüsterte sie. Nicht Trauerarbeit, was legitim, aber immer noch keine Literatur wäre, war hier geleistet worden, sondern das genaue Gegenteil: die Trauer feiern und damit sprachklebrig sich selbst zelebrieren. So daß man aufstehen und der verlorenen Mutter sagen möchte: Seien Sie nicht so sentimental. Was persönlich Unrecht, künstlerisch aber in aller Grausamkeit geboten wäre. Doch selbst i c h hielt die Schnauze.
Und dann d o ch ein Erlebnis.
Nämlich lasen im Anschluß an all die Jungen und jungen Alten einige ehemalige Analphabeten, die sich nun, nach Abschluß ihres neuen Lebensaufbruchs, Schreibgruppen angeschlossen hatten. Und der erste dieser fast durchweg leicht behinderten Menschen stand stockend vor Pult und Text und kommentierte die Erzählung seines Illustrators mit großem, irgendwie schiefem, ja zuckendem Lachen, wunderbar innig waren in ihm Hilflosigkeit und Anstrengung, Wille und eine schöne Form von Eitelkeit gemischt. Wie diagonal geneigt sein Körper dabei war und fuhr mit dem linken Zeigefinger gegenläufig jedes einzelne Wort nach.


Als sich entgegen unserer Hoffnung kein zweites solches Erlebnis einstellen wollte, sondern der Spätnachmittag nun eine deutlich sozialpädagogische Wendung nahm, flutschten die Tomiak und ich durch die Tür in den sonnigen Tag davon und radelten zum CORSO DER LICHTGESTALTEN auf den Schloßplatz hinüber.
albannikolaiherbst - Montag, 6. September 2004, 15:08- Rubrik: Tagebuch
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