stabigabi5 meinte am 2008/09/08 14:30:
vielleicht sollte ich darauf als vordruck zurückgreifen? allerdings müsste ich "das sehr umfangreiche Werk" und die "radikale Produktivität" streichen. und ich teile auch nicht ihren eindruck, dass diese sich an die bürgerliche stelle ökonomischer scham setzt, sondern denke, sie argumentieren genau mit den mitteln, die ein bürger zu goutieren weiß: fleiß.ich frage mich auch, ob die sachbearbeiter mittlerweile nicht einen ordner ähnlich heroisch beschwörender briefe prekärer existenzen versammelt haben, und sie einmal herausgeben sollten? es zeigt ja eigentlich etwas sehr sympathisches, die scham, die man empfindet bei gleichzeitig trotziger selbstbehauptung ("arrogante Daseinsrecht"), es zeigt aber auch, wie wenig man sich so von einem wertesystem gelöst hat, dem man sich eigentlich entschreiben wollte, oder?
vielleicht sollte man doch einfach die leere lohnsteuerkarte verschicken und die einnahmen und ausgaben auflisten. so hätte kafka es vermutlich gemacht.
http://albannikolaiherbst.twoday.net/stories/5176635/#5176733
albannikolaiherbst antwortete am 2008/09/08 14:36:
@stabigabi5.
Ich denke, daß Sie, was den Fleiß anbelangt, irren. Der spielt überhaupt keine Rolle im bürgerlichen Wertesystem des Hochkapitalismus; eine Rolle spielt in Einkunft meßbarer Erfolg; es ist ganz wurscht, ob der "erarbeitet" wurde; es reicht, wenn er da ist. Dieses ist das Eine. Man kann das übrigens auch ästhetisch betrachten im Vergleich von Kunsthandwerk einerseits, zu dem der Pop gehört, und Kunst andererseits.Zum zweiten, Kafka. Der lebte - geldbezüglich - in einer besseren Situation als ich (in anderen Bezügen geht es m i r deutlich besser); immerhin hätte er Einnahmen auflisten können, und da er kinderlos war, wären seine Ausgaben auch deutlich geringer gewesen als die meinen. Zudem habe ich seit bestimmt anderthalb Jahrzehnten keine Lohnsteuerkarte mehr gesehen, geschweige selber gehabt.
Und schließlich zu einem Dritten: Ich denke, daß Briefe wie der meine tatsächlich nur aufgrund von Leistung legitimiert sind; die Vorstellung eines leistungslosen Daseins ist mir grundfremd und auch unangenehm. Ich halte nicht viel vom Geist über den Wassern, sofern nicht ich selbst ihn tätig schweben lehrte.
http://albannikolaiherbst.twoday.net/stories/5176635/#5176737
stabigabi5 antwortete am 2008/09/08 15:19:
waren das nicht sie, der andere wertesysteme gerne bemüht? wie machen sie dann das einem buddhisten klar: "die Vorstellung eines leistungslosen Daseins ist mir grundfremd und auch unangenehm." und was macht ein erwerbsloser mathematiker? soll der auf eine handvoll formeln verweisen? glauben sie, die leistung eines schriftstellers bemisst sich allein in regalmetern? ich habe begriffen, es gehört zu ihrem selbstverständnis unbedingt dazu.und, mit verlaub, aber mit dem bundesverwaltungsamt haben sie es wohl kaum mit dem hochkapitalismus zu tun. ansonsten haben sie recht. nur finde ich ihre mittel, wie so oft, einfach unverhältnismäßig. aber das ist scheinbar ein wesen ihrer kunst, die auch einen rückstellungsbrief mit einbeziehen kann. ihren seitenhieb auf den pop verstehe ich in diesem zusammenhang nicht.
http://albannikolaiherbst.twoday.net/stories/5176635/#5176852
albannikolaiherbst antwortete am 2008/09/08 15:31:
@stabigabi5
Mir ist der Buddhismus fremd; deshalb würde ich keinem Buddhisten je meine Vorstellung von leistungsorientiertem Leben nahebringen wollen; mir ist auch Lebensverneinung oder der Versuch fremd, sich seiner Bedürfnisse zu begeben; im Gegenteil will ich ja so viel Lust wie nur möglich von diesem Leben haben; für den Verzicht ist nach dem Tod, da bin ich mir sehr sicher, noch Jahrtausende Zeit.Was ein erwerbsloser Mathematiker macht, weiß ich nicht; immerhin hätte er doch Zeit zu forschen oder seine Kunst - ich halte die Mathematik für eine und habe viel Achtung vor ihr - auf etwas anzuwenden, das sich lohnt. Das gleiche gilt selbstverständlich für erwerbslose Handwerker; die könnten Wundervolles bauen in ihrer erwerbslosen Zeit. Finden Sie nicht?
Und was Sie an meinem Brief unverhältnismäßig finden, müßten Sie mir schon erklären. Unverhältnismäßig ist die ökonomische Sorge, in der ich trotz meines Werkes existieren muß, während Leute mit minderer Begabung und minderer Kraft mit Geld und Anerkennung vollgespuckt werden. Unverhältnismäßig ist die rigorise Form von Ablehnung, mit der ich seit meiner Schulzeit unentwegt zu tun gehabt habe und weiter zu tun habe.
Was meinen Seitenhieb auf den Pop anbelangt, so setze ich Einkunft zu kompositorischem Vermögen in Beziehung.
http://albannikolaiherbst.twoday.net/stories/5176635/#5176888
stabigabi5 antwortete am 2008/09/08 16:35:
was lohnt das leben? die lust? wo die einen verzicht sehen, sehen die anderen gewinn. gehen sie nicht doch insgeheim davon aus, das wir, alle menschen, doch auf diese und jene weise funktionieren, und lustgewinn nur auf sehr wenigen wegen möglich sei, und, ergo, alles andere selbstverleugnung wäre?mir ist der buddhismus auch fremd, aber er kommt mir in den momenten meines lebens entgegen, wo mir mein eigenes wollen nicht minder fad und fremd vorkommt, da hat er eine antwort, scheint mir. ich finde es manchmal erstaunlich, wie eins sie mit sich sein müssen. kein bisschen zerrissenheit trotz so vieler avatare?
so viel wie möglich von diesem leben haben. hm. ist das nicht auch eine form von individuellem hochkapitalismus?
sehen sie, berufe sind dazu da, dass sie über sich selbst hinaus weisen, ein handwerker ist unter umständen mit seinem handwerk nicht besonders identisch, er übt es aus, weil er es gelernt hat, weil er es kann, weil es ihn und vielleicht seine familie ernährt, vielleicht sollte er lieber mit dem surfen beginnen, in seiner erwerbslosen zeit.
ja, diese ablehnung, die sie zu spüren vermeinen, liest man hindurch. es ist die art vorauseilenden erklärungsnotstands, die ich, verzeihung, in ihrer unverhältnismäßigkeit so komisch wie bezeichnend finde. ich glaube, ich verstehe das ganz gut, frage mich nur, ob man so nicht letztlich die angriffsfläche vergrößert?
begabung und kraft, darauf zählen sie, nun, ich würde sagen, analyse und stil, wenn ich auf etwas setzen sollte, was ich besonders schätze.
auch ihren groll verstehe ich ganz gut, allein, es gibt nur einen weg der würde dabei, scheint mir: kill them with kindness.
(viele asiatische kampfsportarten kreieren ihre abwehr nicht aus dem widerstand, sondern aus dem, was man als ein hindurchgleiten lassen des aggressors bezeichnen könnte. es ins leere laufen lassen.)
http://albannikolaiherbst.twoday.net/stories/5176635/#5177051
albannikolaiherbst antwortete am 2008/09/08 16:59:
@stabigabi5. Japanische Kampfkunst.
Das ist richtig, aber ich bin kein Asiate, sondern durch und durch, und mit Leidenschaft, Europäer. So fasziniert ich bisweilen von Asien auch bin - mehr allerdings von Indien, das eigentlich nach Asien gar nicht gehört, sondern sehr viel mehr vom mir ebenfalls nahen Orient hat. Wobei to kill them with kindness hübsch gesagt, aber realitätsfremd und, zumindest auf meine Belange, kenntnislos ist. Dagegen hielte ich Kohlhaas - man mag sagen, was man will, das Wort "würdelos" trifft ihn sicher ebenso wenig wie Penthesilea; ich halte ihn bis heute für im Recht.Im übrigen handelt es sich nicht um einen Erklärungsnotstand, sondern schlicht um eine Erklärung, die ihre Berechtigung deshalb so polemisch vorweist, weil die Situation an sich eine unangemessene ist.
http://albannikolaiherbst.twoday.net/stories/5176635/#5177106
femme100tetes antwortete am 2008/09/08 20:21:
stabigabi,
irgendwie schwingt in Ihrem hier zur Schau gestellten Amüsement ein wenig Hochmut mit, nein? – Analyse und Stil sind Ihre "Steckenpferde". nun: Herbst scheint mir seine finanzielle Lage gänzlich analysiert zu haben, und daß sein Schreiben oben keinen Stil besäße, können Sie nicht wirklich behaupten.Wohlgemerkt: Nicht jedem muß eine Rhetorik der Selbstvergewisserung, die es ja ist, gefallen. Andererseits, da hat >>> sumuze etwas getroffen, gibt es in der Gesellschaft insgesamt immer mehr Menschen – nicht unbedingt Künstler – die sich eben der Unverhältnismäßigkeit zwischen Selbstanspruch und Arbeits"markt"situation ausgesetzt sehen, welche Herbst hier formuliert.
Mutig, finde ich, daß er das öffentlich macht.
http://albannikolaiherbst.twoday.net/stories/5176635/#5177634