Achtundzwanzigster Brief nach Triest. (Briefe nach Triest, 35).
(/ - / -) ... E per te scendere in un gorgo
di fedeltà, immortale.
Montale
di fedeltà, immortale.
Montale
„Unauslöschlich“, Sìdhe,
in der Tat möchte ich meinen, dem nimmt auch manches in diesen Briefen fallende Wort nichts, das Dich hart dünken wird. Andere Worte, Dir zärtlich verfallene oft, stehen entgegen.
Arbeitswohnung, den 11. Januar 2015,
6.45 Uhr bei heulendem Wind.
6.45 Uhr bei heulendem Wind.
Ich schwanke also, anders als Lenz. Vergiß nicht, daß er außer der Lydierin gar nichts hat und wohl auch nie hatte, um sich daran zu halten (vielleicht als Kind noch, auch als Jugendlicher; das mag sein). Doch in dieser Leere unterscheiden wir uns, er und ich, der ich, wie es um mich sonst auch stehen möge, der Kunst verpflichtet bin. Denn außerhalb von ihr gibt es ein Etwas nicht, das ich mein Ich nennen könnte. Ich steige und falle mit ihr; so auch mein Lieben.
„Um meiner selbst geliebt werden“: Immer habe ich mich gefragt, was damit denn gemeint sein solle. Was ist dies meiner selbst über das Amalgam physiologischer Determinanten hinaus? Hier wählt man das Wort „Seele“ (auch ich tu‘s immer wieder). Denn die Achselhöhle, in die ich mich sehne, ist eben Kapelle und nicht die anatomisch-fleischliche Konstruktion für biologische Abläufe, die freilich dennoch ihre, der Kapelle, Voraussetzung sind. Deshalb setzt mein Hohelied bei der Chemie an, nicht beim Geist, der eines ihrer, sagen wir, Ergebnisse ist; gemeint ist die Chemie aber n i c h t.
Ich allegorisiere insofern die Körper, Dich deshalb auch. Darin war unser beider Bewegung identisch, war wirklich miteinander, nur daß ich solche Gebilde in die Weltlichkeit ziehe, von der wiederum Du zu fürchten scheinst, daß sie‘s zerstört. Ich hingegen, weil zwischen meiner Kunst und mir kaum ein Unterschied besteht, bin sogar angewiesen darauf, sie und das Leben engzuführen und ineinanderzuknoten, andernfalls ich eben gar nichts wäre außer einem hilf- wie ziellosen Strudeln. An eine sonstige Basis läßt mich nichts glauben. Letztlich sind wir, was wir schaffen.
Genau deshalb hat Lenz mit den Briefinstallationen und mit der Mauer begonnen. Dort, auf seinem Karst, verlangte die ihm durch Deinen, nein, der Lydierin Verlust gewordene Leere danach, daß er sie füllte. Es mag sein, daß so etwas am Beginn einer jeden Kunst steht, die sich nicht als Hobby begreift; aber selbst einem solchen geht es darum, über die Leeren Brücken zu legen. Erinnere Dich, Geliebte, der kindlichen Langeweilen, die wir wohl alle kannten, manche öfter, manche seltener; wie wir uns quälten, wurden die Weilen zu lang. Wir kamen dann keinen Schritt weiter, weil es, fühlten wir, nichts gab, daß wir ihn daraufsetzen konnten, geschweige so, um einen nächsten ihm folgen zu lassen. Es waren leere, in beiderlei Sinn grundlose Weilen: „Leerweile“ träfe als Wort darum eher. Und wir schwebten erkühlend im Raum.
Dies wiederholte sich nun, kam aus der Kindheit zurück, doch m i t Grund diesmal, nur eben einem, dem er, Lenz, beim Verschwinden zusehen mußte, beim Davonsacken, sichAuflösen, >>>> Chandos‘ modrige Pilze – nur daß ihm, Lenz, nicht die Sprache zerfällt, sondern sein Lieben, des zu-liebens Möglicheit-an-sich. Da es außerhalb seiner Möglichkeiten ist, das als Sprache zu erfassen und damit sich bewußt zu machen, kann er, anders als ich, so quasi einfach B a u e r werden. Die Stumpfheit, die man an ihm empfindet, rührt daher. Mich hingegen, Liebste, hast Du in einen Prozeß der Selbstunterzweiflung zurückgesperrt, dem ich alleine mit Kunst antworten kann. Zerfiele auch sie mir, zerfiele ich mit.
Gestern war mein Putzmann hier, ein junger Spanier, der schon zum zweiten Mal kam und seine Arbeit sehr umsichtig tut; ich habe ihn jetzt fest für alle zwei Wochen >>>> gebucht. Das wird Dich nicht interessieren, aber ich erzähle es Dir, weil mich dieser Umstand zu einer Entscheidung gebracht hat.
Eigentlich hatte ich den Vormittag, an dem sich denn nicht arbeiten ließe, weil gesaugt und gewischt, auch der Schreibtisch gereinigt und poliert wird, für meine Wäsche nutzen wollen, auch die des Bettes. Noch wie vor, seit dem 11. November, schlafe ich in denselben, den für u n s aufgezogenen Bezügen. Hygienisch ist das bedenklich. Also hatte ich mir ein Herz gefaßt, ebenso, wie ich mir vornahm, den Sport wieder aufzunehmen. Unterdessen, seit diesem 11. November, bringe ich vier Kilogramm mehr auf die Waage; ich habe wirklich wie eine Entscheidung erwogen, den Körper so auseinanderfließen zu lassen, wie meine, siehe Chandos, „Seele“ in meiner von Dir entgrundeten Leereweile zerfloß. Aber, was soll ich sagen?, der Gürtel kneift, es wird unangenehm, die Hosenbünde schneiden sich an der Taille ein. Ich habe nie dazu tendiert, mich selbst, mit Messerchen, zu schneiden; so etwas ändert man nicht mehr. Außerdem ist es so, daß der unmittelbare, der sich wölbende Verlustschmerz gleichsam ruhig geworden ist, hinabsaugendes Meer zwar noch immer, indes nicht mehr aufgewühlt vom Sturm. Da sind die zu eng gewordenen Hosen wie eine Entäußerung dieses Schmerzes, ein Hinübergehen ins Objektivierte; und das, in der Tat, läßt sich behandeln.
Also mit dem Sport hab ich nun wieder begonnen: ein erster Schritt, vielleicht, ins Gesunden. Der Muskelkater heute fühlt sich gut an. Wobei „gesunden“ selbstverständlich ein ganz falsches Wort ist, denn ich war – bin – ja nicht krank, sondern trauere um eine, als die, die Du mir warst, nun Tote. Lenzens Mauer begrenzt das poundsche Gefängnis, von dem ich Dir in meinem >>>> sechsten Brief geschrieben habe; dieser Meeresgrund der Dichtung bleibt wahr. Doch sänke ich auf ihn zur Gänze hinunter und löste mich selbst auf, wem wär geholfen? Nicht einmal diesem Roman.
So b l e i b t das Bettzeug - und es bleibt eine Vornahme: Ich werde so lange darin weiterschlafen, bis das Buch zuende ist, in erster Fassung fertiggeschrieben. Also statt in den Waschsalon begab ich mich zum Sport. Und habe heute nacht erneut an Dir geschlafen.
Betrunken.
Oh, ich war betrunken! Meine liebe Amélie, erneut, lud mich zum Essen ein. Wir sprachen lange, auch über Dich. Auch für sie ist das nicht ohne Schmerz, wie allgegenwärtig Du bleibst. So harren alle des Momentes, in dem ich den letzten Punkt hinter diese Briefe setze und die Phase des Michtrennens, daß eben i c h mich trenne, beginnen wird – schlagartig, übrigens, nämlich mit derselben Radikalität wahrscheinlich, die mich dies Trauern gestalten läßt, das sich an der Nähe festhält und s i e festhält, Getrenntsein nicht akzeptiert, sondern gegen es nach wie vor anrennt, ja jetzt selbst wieder das Stürmen sein muß, von dem das zwischenzeitlich – der anderen Arbeit halber, also wegen des >>>> Hörstücks - beruhigte Trauermeer neu aufgepeitscht werden wird. Seit je geht‘s meiner Kunst um Intensität. Das heißt auch: um Psychologie.
Ich weiß, daß das verpönt ist, nicht nur in der Literatur, auch auf dem modernen Theater. Amélie, gestern, beklagte das sehr. „Die Leute haben Angst vor den Gründen.“ Dichtung, die‘s sein will, hat sie dagegen ins Auge zu nehmen, darf ihre Auflösung ins Abstrakte nicht zulassen wollen, in entsubjektivierte, sagen wir es zeitgenössisch, „Module“. Jede Objektiverung auch als „Strukturen“ ist eine verdrängende Abwehrbewegung, die einem personengeschichtlich frühen, nämlich magischen Bannversuch gleichkommt: Schaffe ich noch die nächste Ampel bei Grün, wird mich Wiebke nicht verlassen (wird die Unterschrift unter der verhauenen Lateinarbeit als Fälschung nicht erkannt werden; werde ich diesmal in Mathe wenigstens eine Drei geschrieben haben: So sind wir als Kinder über die Pflasterquadrate des Schulwegs gehüpft). Eine umfassende und deshalb bestimmende Richtung der gegenwärtigen Kunst betreibt genau das, verschiebt ins Uneigentliche. Auch deswegen meine Brotbackerei, Lenzens Gartenbau. Was wiederum Gerald finden wird, weiß ich noch nicht, während sich Wiebke, nachdem ihr Mann sie verlassen hatte, an ihrer Mutterschaft festhält. Nun kann Gerald so flehende Entschuldigungsbriefe schreiben, wie ihm nur möglich, sie wird ihn nicht mehr an sich heranlassen. Du mußt Dir das vorstellen, Sìdhe! Denn tatsächlich hat sie, ihn zu lieben, niemals aufgehört. Sie liebt ihn immer weiter. Doch eine neue Realisierung? Nein.
Übrigens weiß Gerald, daß sie ihn weiterliebt. Sie macht auch keinen Hehl daraus, zum Beispiel, wenn sie sich an Elternabenden treffen. Die Dinge sind ungeheuer verbogen. - „Dinge“...
Was aber noch einmal mein Bettzeug anbelangt, so kann ich mit Gewißheit nicht mehr sagen, ob in Deinem Schlafhemdchen, das Du Dir allnachts über die Augen legtest, überhaupt noch eine Spur von Duft ist. Ich rieche ihn dennoch. Und ebenso wenig bin ich mir sicher, ob es sich, als ich vom Sport zurückkam, nicht nur abermals um eine Halluzination handelte, die der Schmerz bewirkt hat, als ich Dich gestern nunmehr in Höhe des alten Bötzowbetriebes sah, an der unteren Prenzlauer Allee, doch dummerweise auf der anderen Fahrbahnseite, wo man, der Tramschienen wegen, nicht einfach so hinüberkommt, schon gar nicht mit dem Rad. Aber Du gingst da, warst in Begleitung eines Freundes, einer Freundin. Ich hörte Euch lachen, hatte sofort gebremst, sah erstarrt in halber Schräge hinüber. Doch selbst, wenn ich gerufen hätte, wären die Flüsse Verkehrs zu laut gewesen, um Dich mich hören zu lassen. - Ja, Du hast recht, ich hätte wenden können und bis zur Ampel zurückfahren, hätte Euch doch im Auge behalten. Dann hinüber.
Ich hatte einfach Angst vor dem Irrtum einer Verwechslung. Aber selbst, wäre es keine gewesen, hätt ich die pochende Angst behalten; vielleicht wär sie sogar noch größer geworden. Was hätte ich denn sagen sollen, fragen können? „Du bist in Berlin und gibst nicht Bescheid“?
Ich nehme an, Du warst eines Lehrauftrags wegen auf dem Weg zur Humboldt-Uni. Was Du allerdings auf dem Prenzlauer Berg wolltest... Freilich habe ich Dich da schon einmal gesehen, sogar ganz nahe bei mir, Danziger Straße. Ich müßte nachschlagen, schrieb es in einem früheren Brief. Du warst bei einem Freund untergekommen. Die e r s t e meiner Visionen. Es ist ungeheuerlich, wie lebensecht sie sind.
Lenz hat sowas übrigens nicht, ich weiß nicht warum. Er ist wohl der Erde zu nah, schon selbst fast zu Erde geworden, selbst fast Lehm, oder ein Feldstein, den manchmal was rollt. Auch dies wohl eine Objektivierung: Lenz-selbst als die Mauer. Das ist sinnbildlich, Liebes. Er schottet sich nicht ab, nein, ist das Schott. Eben deshalb brennt er nicht mehr. Aber Gerald brennt, lodert geradezu, nachdem ihn seine Stone-Sìdhe hat wieder fallen gelassen. Lodernd steht er vor seiner ehemaligen Wohnung, der Ehewohnung, klingelt. Er klingelt sogar Sturm. „Wer ist da?“ „Bitte laß mich herein!“ - Er bekommt nicht einmal Antwort, kann über die Wechselsprechanlage aber vernehmen, wie Wiebke oder wer immer sonst einfach den Hörer auflegt. Das Knacksen geht ihm durch den ganzen Körper.
Nun fängt ein ziemlich ungutes Kapitel dieser Geschichte an. Täglich läßt Gerald Wiebke eine Rose schicken, auch an ihren Arbeitsplatz. Ihre Kollegen beginnen zu munkeln, egal, ob sie, was sie tut, jede dieser Rosen sofort in den Papierkorb wirft. Ein halbes Jahr lang geht das so.
Es kommt auch vor, daß Gerald seine Exfrau verfolgt, hinter ihr hergeht oder in Cafés platzt, in denen sie sich mit Freundinnen trifft und mit Freunden, auch mit fremden Männern. Parship.de. Wütend geht er auf die los...
Wohlgemerkt, sie liebt ihn weiter. Aber die Verletzung. Haben Frauen sich entschieden, stimmt sie nichts mehr um, auch nicht – oder erst recht nicht – ihr eigenes Gefühl. Sie wissen nicht nur, was das ist, sondern sind sie: Irreversibilität.
Schließlich geht die restlos entnervte Frau zum Anwalt. Es kommt zu einem Strafbeschluß, einem offiziellen Verbot, ihr auch nur ungefähr nahezukommen. Über dieses hinaus verliert Gerald das Sorgerecht für ihrer beider Tochter. - Habe ich Dir schon erzählt, daß sie ein gemeinsames Kind bekommen haben, anderthalb Jahre, bevor die Stone-Sìdhe in Geralds Leben einbrach? Nasrin... Gewissermaßen haben die beiden Dianamaria bekommen, also Lenzens und der Lydierin Tochter, an deren Stelle... Das hat gar nichts geschützt.
Betrogen, während noch das Kleinkind um die Frau war. Derart verlassen plötzlich. Das heilt nicht mehr, auch wenn sich‘s manchmal noch kittet.
Wiebke will keinen Kitt. Auch ihre parship-Versuche sind imgrunde nichts, als irgendwie nach Atem zu schnappen. Alle ihre folgenden Partnerschaften, als bürgerliche Lebensgemeinschaft, gehen schief. Wiebke wird völlig autark, hat dann schließlich einen neuen Gefährten, aber läßt ihn nicht wirklich in ihr Leben. Doch sie besucht ihn gern, an Wochenenden. Da ist Nasrin schon groß oder, als sie noch jünger ist, besucht ihren Vater, in vierzehntägigem Turnus. Gerald hingegen bleibt allein. Die Frage ist weiter, was e r denn findet anstelle des Brotes, anstelle der Mauer. - Ich fürchte, Geliebte, wir brauchen wirklich noch ein viertes Paar – wenigstens e i n e s, dem die Liebe gelingt. - Ich will es für Dich finden.
Meine Hand auf Deinem flachen Bauch. Zu meinem, Liebste, ersten Mal -
immortale, schönste Frau,
in un gorgo di fedeltà:
Alban
*
>>>> Neunundzwanzigster Brief nach Triest
Siebenundzwanzigster Brief nach Triest <<<<
„Um meiner selbst geliebt werden“: Immer habe ich mich gefragt, was damit denn gemeint sein solle. Was ist dies meiner selbst über das Amalgam physiologischer Determinanten hinaus? Hier wählt man das Wort „Seele“ (auch ich tu‘s immer wieder). Denn die Achselhöhle, in die ich mich sehne, ist eben Kapelle und nicht die anatomisch-fleischliche Konstruktion für biologische Abläufe, die freilich dennoch ihre, der Kapelle, Voraussetzung sind. Deshalb setzt mein Hohelied bei der Chemie an, nicht beim Geist, der eines ihrer, sagen wir, Ergebnisse ist; gemeint ist die Chemie aber n i c h t.
Ich allegorisiere insofern die Körper, Dich deshalb auch. Darin war unser beider Bewegung identisch, war wirklich miteinander, nur daß ich solche Gebilde in die Weltlichkeit ziehe, von der wiederum Du zu fürchten scheinst, daß sie‘s zerstört. Ich hingegen, weil zwischen meiner Kunst und mir kaum ein Unterschied besteht, bin sogar angewiesen darauf, sie und das Leben engzuführen und ineinanderzuknoten, andernfalls ich eben gar nichts wäre außer einem hilf- wie ziellosen Strudeln. An eine sonstige Basis läßt mich nichts glauben. Letztlich sind wir, was wir schaffen.
Genau deshalb hat Lenz mit den Briefinstallationen und mit der Mauer begonnen. Dort, auf seinem Karst, verlangte die ihm durch Deinen, nein, der Lydierin Verlust gewordene Leere danach, daß er sie füllte. Es mag sein, daß so etwas am Beginn einer jeden Kunst steht, die sich nicht als Hobby begreift; aber selbst einem solchen geht es darum, über die Leeren Brücken zu legen. Erinnere Dich, Geliebte, der kindlichen Langeweilen, die wir wohl alle kannten, manche öfter, manche seltener; wie wir uns quälten, wurden die Weilen zu lang. Wir kamen dann keinen Schritt weiter, weil es, fühlten wir, nichts gab, daß wir ihn daraufsetzen konnten, geschweige so, um einen nächsten ihm folgen zu lassen. Es waren leere, in beiderlei Sinn grundlose Weilen: „Leerweile“ träfe als Wort darum eher. Und wir schwebten erkühlend im Raum.
Dies wiederholte sich nun, kam aus der Kindheit zurück, doch m i t Grund diesmal, nur eben einem, dem er, Lenz, beim Verschwinden zusehen mußte, beim Davonsacken, sichAuflösen, >>>> Chandos‘ modrige Pilze – nur daß ihm, Lenz, nicht die Sprache zerfällt, sondern sein Lieben, des zu-liebens Möglicheit-an-sich. Da es außerhalb seiner Möglichkeiten ist, das als Sprache zu erfassen und damit sich bewußt zu machen, kann er, anders als ich, so quasi einfach B a u e r werden. Die Stumpfheit, die man an ihm empfindet, rührt daher. Mich hingegen, Liebste, hast Du in einen Prozeß der Selbstunterzweiflung zurückgesperrt, dem ich alleine mit Kunst antworten kann. Zerfiele auch sie mir, zerfiele ich mit.
Gestern war mein Putzmann hier, ein junger Spanier, der schon zum zweiten Mal kam und seine Arbeit sehr umsichtig tut; ich habe ihn jetzt fest für alle zwei Wochen >>>> gebucht. Das wird Dich nicht interessieren, aber ich erzähle es Dir, weil mich dieser Umstand zu einer Entscheidung gebracht hat.
Eigentlich hatte ich den Vormittag, an dem sich denn nicht arbeiten ließe, weil gesaugt und gewischt, auch der Schreibtisch gereinigt und poliert wird, für meine Wäsche nutzen wollen, auch die des Bettes. Noch wie vor, seit dem 11. November, schlafe ich in denselben, den für u n s aufgezogenen Bezügen. Hygienisch ist das bedenklich. Also hatte ich mir ein Herz gefaßt, ebenso, wie ich mir vornahm, den Sport wieder aufzunehmen. Unterdessen, seit diesem 11. November, bringe ich vier Kilogramm mehr auf die Waage; ich habe wirklich wie eine Entscheidung erwogen, den Körper so auseinanderfließen zu lassen, wie meine, siehe Chandos, „Seele“ in meiner von Dir entgrundeten Leereweile zerfloß. Aber, was soll ich sagen?, der Gürtel kneift, es wird unangenehm, die Hosenbünde schneiden sich an der Taille ein. Ich habe nie dazu tendiert, mich selbst, mit Messerchen, zu schneiden; so etwas ändert man nicht mehr. Außerdem ist es so, daß der unmittelbare, der sich wölbende Verlustschmerz gleichsam ruhig geworden ist, hinabsaugendes Meer zwar noch immer, indes nicht mehr aufgewühlt vom Sturm. Da sind die zu eng gewordenen Hosen wie eine Entäußerung dieses Schmerzes, ein Hinübergehen ins Objektivierte; und das, in der Tat, läßt sich behandeln.
Also mit dem Sport hab ich nun wieder begonnen: ein erster Schritt, vielleicht, ins Gesunden. Der Muskelkater heute fühlt sich gut an. Wobei „gesunden“ selbstverständlich ein ganz falsches Wort ist, denn ich war – bin – ja nicht krank, sondern trauere um eine, als die, die Du mir warst, nun Tote. Lenzens Mauer begrenzt das poundsche Gefängnis, von dem ich Dir in meinem >>>> sechsten Brief geschrieben habe; dieser Meeresgrund der Dichtung bleibt wahr. Doch sänke ich auf ihn zur Gänze hinunter und löste mich selbst auf, wem wär geholfen? Nicht einmal diesem Roman.
So b l e i b t das Bettzeug - und es bleibt eine Vornahme: Ich werde so lange darin weiterschlafen, bis das Buch zuende ist, in erster Fassung fertiggeschrieben. Also statt in den Waschsalon begab ich mich zum Sport. Und habe heute nacht erneut an Dir geschlafen.
Betrunken.
Oh, ich war betrunken! Meine liebe Amélie, erneut, lud mich zum Essen ein. Wir sprachen lange, auch über Dich. Auch für sie ist das nicht ohne Schmerz, wie allgegenwärtig Du bleibst. So harren alle des Momentes, in dem ich den letzten Punkt hinter diese Briefe setze und die Phase des Michtrennens, daß eben i c h mich trenne, beginnen wird – schlagartig, übrigens, nämlich mit derselben Radikalität wahrscheinlich, die mich dies Trauern gestalten läßt, das sich an der Nähe festhält und s i e festhält, Getrenntsein nicht akzeptiert, sondern gegen es nach wie vor anrennt, ja jetzt selbst wieder das Stürmen sein muß, von dem das zwischenzeitlich – der anderen Arbeit halber, also wegen des >>>> Hörstücks - beruhigte Trauermeer neu aufgepeitscht werden wird. Seit je geht‘s meiner Kunst um Intensität. Das heißt auch: um Psychologie.
Ich weiß, daß das verpönt ist, nicht nur in der Literatur, auch auf dem modernen Theater. Amélie, gestern, beklagte das sehr. „Die Leute haben Angst vor den Gründen.“ Dichtung, die‘s sein will, hat sie dagegen ins Auge zu nehmen, darf ihre Auflösung ins Abstrakte nicht zulassen wollen, in entsubjektivierte, sagen wir es zeitgenössisch, „Module“. Jede Objektiverung auch als „Strukturen“ ist eine verdrängende Abwehrbewegung, die einem personengeschichtlich frühen, nämlich magischen Bannversuch gleichkommt: Schaffe ich noch die nächste Ampel bei Grün, wird mich Wiebke nicht verlassen (wird die Unterschrift unter der verhauenen Lateinarbeit als Fälschung nicht erkannt werden; werde ich diesmal in Mathe wenigstens eine Drei geschrieben haben: So sind wir als Kinder über die Pflasterquadrate des Schulwegs gehüpft). Eine umfassende und deshalb bestimmende Richtung der gegenwärtigen Kunst betreibt genau das, verschiebt ins Uneigentliche. Auch deswegen meine Brotbackerei, Lenzens Gartenbau. Was wiederum Gerald finden wird, weiß ich noch nicht, während sich Wiebke, nachdem ihr Mann sie verlassen hatte, an ihrer Mutterschaft festhält. Nun kann Gerald so flehende Entschuldigungsbriefe schreiben, wie ihm nur möglich, sie wird ihn nicht mehr an sich heranlassen. Du mußt Dir das vorstellen, Sìdhe! Denn tatsächlich hat sie, ihn zu lieben, niemals aufgehört. Sie liebt ihn immer weiter. Doch eine neue Realisierung? Nein.
Übrigens weiß Gerald, daß sie ihn weiterliebt. Sie macht auch keinen Hehl daraus, zum Beispiel, wenn sie sich an Elternabenden treffen. Die Dinge sind ungeheuer verbogen. - „Dinge“...
Was aber noch einmal mein Bettzeug anbelangt, so kann ich mit Gewißheit nicht mehr sagen, ob in Deinem Schlafhemdchen, das Du Dir allnachts über die Augen legtest, überhaupt noch eine Spur von Duft ist. Ich rieche ihn dennoch. Und ebenso wenig bin ich mir sicher, ob es sich, als ich vom Sport zurückkam, nicht nur abermals um eine Halluzination handelte, die der Schmerz bewirkt hat, als ich Dich gestern nunmehr in Höhe des alten Bötzowbetriebes sah, an der unteren Prenzlauer Allee, doch dummerweise auf der anderen Fahrbahnseite, wo man, der Tramschienen wegen, nicht einfach so hinüberkommt, schon gar nicht mit dem Rad. Aber Du gingst da, warst in Begleitung eines Freundes, einer Freundin. Ich hörte Euch lachen, hatte sofort gebremst, sah erstarrt in halber Schräge hinüber. Doch selbst, wenn ich gerufen hätte, wären die Flüsse Verkehrs zu laut gewesen, um Dich mich hören zu lassen. - Ja, Du hast recht, ich hätte wenden können und bis zur Ampel zurückfahren, hätte Euch doch im Auge behalten. Dann hinüber.
Ich hatte einfach Angst vor dem Irrtum einer Verwechslung. Aber selbst, wäre es keine gewesen, hätt ich die pochende Angst behalten; vielleicht wär sie sogar noch größer geworden. Was hätte ich denn sagen sollen, fragen können? „Du bist in Berlin und gibst nicht Bescheid“?
Ich nehme an, Du warst eines Lehrauftrags wegen auf dem Weg zur Humboldt-Uni. Was Du allerdings auf dem Prenzlauer Berg wolltest... Freilich habe ich Dich da schon einmal gesehen, sogar ganz nahe bei mir, Danziger Straße. Ich müßte nachschlagen, schrieb es in einem früheren Brief. Du warst bei einem Freund untergekommen. Die e r s t e meiner Visionen. Es ist ungeheuerlich, wie lebensecht sie sind.
Lenz hat sowas übrigens nicht, ich weiß nicht warum. Er ist wohl der Erde zu nah, schon selbst fast zu Erde geworden, selbst fast Lehm, oder ein Feldstein, den manchmal was rollt. Auch dies wohl eine Objektivierung: Lenz-selbst als die Mauer. Das ist sinnbildlich, Liebes. Er schottet sich nicht ab, nein, ist das Schott. Eben deshalb brennt er nicht mehr. Aber Gerald brennt, lodert geradezu, nachdem ihn seine Stone-Sìdhe hat wieder fallen gelassen. Lodernd steht er vor seiner ehemaligen Wohnung, der Ehewohnung, klingelt. Er klingelt sogar Sturm. „Wer ist da?“ „Bitte laß mich herein!“ - Er bekommt nicht einmal Antwort, kann über die Wechselsprechanlage aber vernehmen, wie Wiebke oder wer immer sonst einfach den Hörer auflegt. Das Knacksen geht ihm durch den ganzen Körper.
Nun fängt ein ziemlich ungutes Kapitel dieser Geschichte an. Täglich läßt Gerald Wiebke eine Rose schicken, auch an ihren Arbeitsplatz. Ihre Kollegen beginnen zu munkeln, egal, ob sie, was sie tut, jede dieser Rosen sofort in den Papierkorb wirft. Ein halbes Jahr lang geht das so.
Es kommt auch vor, daß Gerald seine Exfrau verfolgt, hinter ihr hergeht oder in Cafés platzt, in denen sie sich mit Freundinnen trifft und mit Freunden, auch mit fremden Männern. Parship.de. Wütend geht er auf die los...
Wohlgemerkt, sie liebt ihn weiter. Aber die Verletzung. Haben Frauen sich entschieden, stimmt sie nichts mehr um, auch nicht – oder erst recht nicht – ihr eigenes Gefühl. Sie wissen nicht nur, was das ist, sondern sind sie: Irreversibilität.
Schließlich geht die restlos entnervte Frau zum Anwalt. Es kommt zu einem Strafbeschluß, einem offiziellen Verbot, ihr auch nur ungefähr nahezukommen. Über dieses hinaus verliert Gerald das Sorgerecht für ihrer beider Tochter. - Habe ich Dir schon erzählt, daß sie ein gemeinsames Kind bekommen haben, anderthalb Jahre, bevor die Stone-Sìdhe in Geralds Leben einbrach? Nasrin... Gewissermaßen haben die beiden Dianamaria bekommen, also Lenzens und der Lydierin Tochter, an deren Stelle... Das hat gar nichts geschützt.
Betrogen, während noch das Kleinkind um die Frau war. Derart verlassen plötzlich. Das heilt nicht mehr, auch wenn sich‘s manchmal noch kittet.
Wiebke will keinen Kitt. Auch ihre parship-Versuche sind imgrunde nichts, als irgendwie nach Atem zu schnappen. Alle ihre folgenden Partnerschaften, als bürgerliche Lebensgemeinschaft, gehen schief. Wiebke wird völlig autark, hat dann schließlich einen neuen Gefährten, aber läßt ihn nicht wirklich in ihr Leben. Doch sie besucht ihn gern, an Wochenenden. Da ist Nasrin schon groß oder, als sie noch jünger ist, besucht ihren Vater, in vierzehntägigem Turnus. Gerald hingegen bleibt allein. Die Frage ist weiter, was e r denn findet anstelle des Brotes, anstelle der Mauer. - Ich fürchte, Geliebte, wir brauchen wirklich noch ein viertes Paar – wenigstens e i n e s, dem die Liebe gelingt. - Ich will es für Dich finden.
Meine Hand auf Deinem flachen Bauch. Zu meinem, Liebste, ersten Mal -
immortale, schönste Frau,
in un gorgo di fedeltà:
Alban
>>>> Neunundzwanzigster Brief nach Triest
Siebenundzwanzigster Brief nach Triest <<<<
albannikolaiherbst - Sonntag, 11. Januar 2015, 11:12- Rubrik: Arbeitsjournal
Trackback URL:
http://albannikolaiherbst.twoday.net/stories/achtundzwanzigster-brief-nach-triest-briefe-nach-triest-35/modTrackback