Achtzehnter Brief nach Triest. (Briefe nach Triest, 21).
Liebe Sìdhe,
Arbeitswohnung, den 8. Dezember 2014,
montags 5.58 Uhr,
Böen und nässende Halbkälte draußen,
montags 5.58 Uhr,
Böen und nässende Halbkälte draußen,
es geht mir gut, wie geht es Dir? Weil ich so lange nichts mehr von Dir gehört habe, dachte ich,daß ich Dir einfach einmal schreibe.
Natürlich habe ich einen Anlaß dafür. Denn morgen abend wird es genau einen Monat her sein, daß Du zu mir kamst, und drei Wochen, daß Du zurück ins Schweigen verschwandst und zu demselben wurdest, das Du vor unserer Begegnung all die Jahrzehnte gewesen warst, ein Etwas, das ich weder kannte noch überhaupt wußte, daß es das gab. So daß nicht nur, wie wir es aufgrund der Entfernung unserer Lebensorte – läßt sich das sagen? – gewöhnt gewesen sind, also s e i t unserer ersten Begegnung, unsere Körper einander nicht mehr haben, sondern insgesamt, was wir uns waren, wie ein Tod von mir weggerissen wurde: als w ä r e s t Du gestorben, und ich ginge täglich an Dein Grab, um Blumen draufzulegen. Das ließe sich aber, so schmerzhaft es ist, noch begreifen, auch aus dem natürlichen Ablauf eben nicht der Dinge, denn die währen, sondern des Organs: Wandlung ins Nächste, das gar keinen Platz finden würde, verginge Vorheriges nicht. Es gäbe dann keine Entwicklung, keine Evolution, und das Leben selbst, schließlich, erstarrte, das sich doch aber ausprobieren will: in immer neuen Varianten, aber durchaus nicht wahllos, sondern angereichert ums vorige Wissen, worunter wir eine Erfahrung verstehen, die bewußt geworden ist.
Doch n i c h t zu begreifen ist der Tod einer Liebsten, wenn sie noch lebt. Dabei liegt, das geb ich Dir zu, eine gewisse Symmetrie in dem allen: Ebenfalls drei Wochen waren es, in denen es erstand; das wird morgen abend dann also zwei Monate her sein, fast, die der Rahmen nunmehr sind, der um Geburt und Sterben unserer Du!s genagelt worden ist. Denn diese Dus sind Fresken oder, wenn Du willst, auf die Wand der Entfernung aufgesprühte, Rufen gleich, Graffiti. Freilich hat diese Wand vier Dimensionen, weil eine große Rolle Z e i t spielt, eine mögliche (möglich gewesene) und eine aber, die wir nicht hatten. So haben wir der wenigen, die uns w a r (die U n s war), Welten der Nähe aufgepackt, so daß schon von daher zu erwarten gewesen, sie könne alles das gar nicht tragen, bräche zusammen unter diesem Gewicht. Aber es ist so nicht gewesen, sondern, wenn wir zusammenwaren, wurden wir leicht, Du wie ich. Es hatte dies solche Natürlichkeit, solch ein Selbstverständliches. Wir haben darum beide von einem Wunder gesprochen, das uns jeweils die und der andere war, es g a b imgrunde kein „ander“ mehr, von Anfang an nicht. Das, am Anfang, wolltest Du fliehen. Denn diese warme Gewalt stand gegen Deine Lebensplanung auf, tat‘s um so mehr, als sie sich zunehmend von allem entfernte, das Du Dir eigentlich ersehnt hast. So flohst Du in die Nacht. Jedenfalls versuchtest Du‘s - bloß, daß ich mitkam und dann nach Triest kam. Da hattest Du vielfach geweint, auch in Briefen. Ich hatte aufgefangen, immer wieder, wurde zu Deinem Vertrautesten. „Dein Du, ja Dein Du, sieh mich bitte wieder an! Welche Frau ist, sich Deinem Blick zu entziehen? Ja, unser, u n s e r Du, ich spür es, ich fühl es. Und dennoch, ich liebe Gerald immer noch weiter, egal, was geschah. Da ist noch so viel!“
Gerald, wenn er erwachsen ist, wird wie Lenz sein, bevor ihn der Blick traf. Da hat er Wiebchen fast schon vergessen: Auf die erste seiner Liebesnächte (die übrigens ein Tag war, Sonne fiel durch das Fenster seines Jungmanneszimmers, in den breiten Lichtbahnen schwebten Millionen Punkte Staubs) folgten die nächsten mit schon anderen Mädchen und bald Frauen, und wie er zunehmend in den fälschlich für einen Beruf gehaltenen Job fiel, nüchterten sich auch die Liebesnächte aus. Sie versachlichten sich wie die Konten, die er führte – übrigens ausgezeichnet führte; man wußte, was man an ihm hatte. Doch Wiebke blieb ihm als, Dir aber nun, immer mal wieder eingestandene Sehnsucht.
Ich bin schon wieder in meiner Geschichte, der dritten Liebesgeschichte, die ich erzähle. Erzähl ich sie D i r? Sieh mich an Deinem Grabstein stehen, ein steinerner Engel beugt sich herab und vergräbt das Gesicht in den Händen, die Flügel um das steinerne Denkmal geschlagen, als wärn sie schwer geworden, viel zu schwer, um sie jemals auch nur noch flattern zu lassen – geschweige, daß er sich unter ihnen erhöbe, sie wirklich wieder schwänge. Nie wieder wird er fliegen, deshalb, eben, ist er aus Stein und hat unter den schweren steinernen Schwingen die Achselhöhlen verborgen, Deine, Geliebte. Denn seine Oberarme preßt er gegen die Rippenbögenseiten. Wo sie, die Arme, vom Körper wieder abstehn, drehen die Ellbogenbeugen die Unterarme um, drehn sie nach oben und flachen die Handflächenhöhlen, in die sich sein Gesicht legt... zu legen s c h e i n t: denn herzbeklemmend fällt über den gesenkten Kopf wie ein Schleier das Haar; es überdeckt sogar einige Lettern Deines in das Denkmal geschlagenen Namens. (Ich sah das so, da ist es Februar gewesen, auf dem verkehrsumtosten Cimetière de Montmarte, einer tiefer als die umgebenden Straßen gelegenen Insel halbvergessenen Lands. Die hier beigelegte Fotografie ist dort aufgenommen worden.)
Wie hätte ich wissen können, daß es ein Engel gar nicht war? Gut, es gibt keine weiblichen Engel: Daran hätte ich denken müssen. Begriff aber schon gar nicht, daß ich die Zukunft zu sehen bekam. Auf Friedhöfen meinen wir immer, in die Vergangenheit zu schauen, egal, ob das Memento mori uns eigentlich selbst meint. Tatsächlich begreife ich erst jetzt, daß dieser Engel nicht Engel, sondern selbst eine Sìdhe war. Jedenfalls war er deutlich eine Frau, nur eben mit Elbinnenflügeln. Sich Elben niedlich vorzustellen, ist ein Fehler des Kitschs und für Kinder (die‘s aber besser wissen als wir Ernüchterten).
So klagte die Sìdhe um die Sìdhe.
Doch ich wollte Dir von der Zeit schreiben. Daß sie, so kurz sie uns auch war, sich ins Unendliche aufgefaltet hatte, zweimal drei lange Wochen lang in Monate, wenn nicht in Jahrzehnte. Was alles da hineinging! Täglich verbrachten wir Stunden miteinander, Stunde um Stunde, ob wir uns schrieben, ob wir uns über Facetime sahen. Erinnerst Dich, wie schwer es uns fiel, und wurde zunehmend schwerer, wenn wir gesprochen hatten und uns im Bildtelefon, das Facetime eben ist, gesehen, auf dieses Beenden zu drücken? Manchmal brauchten wir Minuten, bis einer von uns sich durchringen konnte, es sich abringen auch als nur kurzes Vorbei. Meistens war das sogar ich. „Bis morgen, mein Du!“ „Bis morgen, Du.“ Du und Du und wieder Du.
Es kann gar nicht anders sein, als daß Du jetzt tot bist. Das erklärte doch wenigstens was, und ich wüßte, wo Dich finden. Ich würde den Sìdheengel trösten, mit schlichten Worten: wie eben a l l e s vergeht, das gelebt hat, sogar eine Elbin wie Du.
Paris, seltsam. Daß mich diese Stadt immer wieder einholt, seit meiner ersten Begegnung mit ihr; 1977 bin ich zweiundzwanzig gewesen. Alle meine Romane lagen noch vor mir und ich bestand aus nichts als aus Erinnern und Hoffen. Paris, für mich, ist beinah zur Gänze Vergangnes, ist ein Vergehen, schütter wie alter Mörtel, bevor er zerstäubt und die Steine selbst zu verwittern beginnen, die er gehalten. Als wärst Du nun dort - - - bist aber doch in Barcelona!
(Nicht nur meine „Figuren“, selbst meine Städte sind so ineinander verschlungen, wie wir es in beiden Monaten waren. Bevor jemand, wie Lenz tut, wenn er das Holz hackt, die Axt nahm und stellte uns auf den Haubock und hielt uns kurz einhändig fest, holte dann aus und – entzwei. Da fliegst Du links auf den Haufen, und ich flieg nach rechts. Mit andren werden wir Scheite schließlich gestapelt, gegen das Wetter unter die Plane. Dann warten wir auf das Feuer, um ein letzten Mal zu erglühen – a l s Feuer selbst.)
Barcelona. Da läufst Du nachher mit den katalanischen Freunden. Sonnig habt Ihr‘s dort, 14, beinah 15 Grad gegen Mittag; Du brauchst da nicht mehr als einen Schal um den Hals, damit Du nicht frierst. Das Meer kannst Du sehen, blau und an manchen Stellen türkis. Ich sehe Euch wie junge Hunde durch Gaudís Güellpark laufen, Dich ohne die Last, die ich wurde, Dich ohne Trauer, die Du bei Gerald in Triest ließt und mir in Berlin. Endlich wieder unbeschwert sein! Nach vorne schauen! (: was „in die Gegenwart“ heißt: einfach nur sein). Einmal bleibt Ihr stehen, ganz aus der Puste, und umarmt Euch plötzlich. Da ist so ein Drang, solch ein freier. Ebenso plötzlich Mund auf Mund -
Ich weiß, es ist nicht mehr länger an mir, Dir zu raten. Doch laß Dich lieben, dort in der anderen, einer ungebundenen Welt, einer ohne Absicht und Anspruch. Vielleicht kommt das Kind dann von dort – Beschwernis erfährt es so oder so. Un nen catalá - welch eine schöne Idee! (rein aus der Leichtigkeit empfangen -) -
Wie aber rät man einer Toten?
Indem man sie zum Leben in einer andren Frau erweckt – selbst wenn die aus Luft ist, nur aus Gedanken.
Cimetière de Montmarte: Gedenken.
Strich durch!
Ihr seid, im Park Güell, stehengeblieben. Plötzlich seht Ihr Euch an und müßt lachen. Es ist doch derart deutlich alles! die Sonne so licht, flutende Bahnen, aber wie Rieseln. So daß er Dich küßt, Jaume oder Godi, vielleicht auch Guillem, jedenfalls sprudelt er über und begießt Dich mit sich, noch im Park nur mit Küssen. Dann hebt er Dich an, tatsächlich, nimmt Dich einfach hoch auf den Armen und trägt Dich herum, wie um den Spaziergängern, die ihre Mittagspause genießen, zu zeigen, daß es Dich für ihn g i b t, ja als trüge er Dich dauernd über die Schwelle. Und Du, Geliebte, mußt gar nicht mehr denken. „Laß mich runter, laß mich wieder runter!“ rufst Du und lachst abermals und ständig, weil er, Guillem, mit dem Unfug einfach nicht aufhören will und weil auch Du nicht willst, daß er aufhört. Schon nämlich da, wo er Dich so herumträgt, spürst Du seine Hand auf dem Bauch, bevor sich auch Dir dann alles, was Du bist, auf das Darunter konzentriert und auf das sich öffnende, drunter, Davor, das ihn einsaugt. Aber da ist es schon spät. Trotzdem geht ihr nachher noch essen. Du weißt doch, in Spanien speist nachts, wer nicht daheim bleibt. Und wieder mußt Du lachen: nicht zu fassen, welche Mengen Guillem da an Muscheln verdrückt, katalanisch musclos, spanisch Mejillones. Oder ist das Jaume gewesen? (Dabei ist der Bursche so schlank, fast wie ein Junge.)
So, nicht mit Absicht, werden Kinder gezeugt, die lebenslang Lebenslust haben, „Grundvertrauen“, wie man sagt. So zeugen schließlich sie selbst, oder empfangen. Ohne das geplant zu haben, als ginge es um die Altersversorgung.
(8.53 Uhr.)
Meine Tage gehen dahin. Ich habe, Liebste, Schwierigkeiten, meinen Alltag am Laufen zu halten, öffne die Post nur gelegentlich und lese sie meist nicht einmal dann, auch nicht, wenn ich weiß, daß da was droht. So ging es Lenz, nachdem Du wieder davon warst. Allein das Scheidungsverfahren hätte seiner Aufmerksamkeit bedurft. Er fuhr zu den Terminen nicht hin, hatte auch keinen Anwalt genommen. Dazu kam die Klage des Bankunternehmens, weil er während Eurer Zeit Positionen verweist gelassen hatte; er hat ja nicht mal gekündigt, blieb von der Arbeit einfach weg. Nichts, was real ist, interessierte ihn mehr. Statt dessen buk er Brot, statt dessen pflanzte er Gemüse um das Grenzhäuschen herum, nachdem er den Boden aufgegraben, umgegraben hatte und ganze Schubkarren voll Steine weggeschleppt, aus denen er eine Mauer baute – nicht um sich einzumauern, sondern nur, damit nicht riesige Haufen blieben, die ihm zeigten, wie zertrümmert er war. Sonst hatte diese Mauer keine Funktion, erhob sich und wandt sich neben dem Haus als ein bizarres, mehrfach die Laufrichtung änderndes Gebilde purster, konnte man meinen, Verwirrtheit. Dennoch ging von ihr etwas gleichsam Leuchtendes aus, das Lenz selbst gar nicht bemerkte. Dennoch, man kann fast sagen: pilgerten seit der Vernissage immer wieder Besucher dort hin, standen dann einige Zeit davor, schritten die Mauer auch ab, verloren sich in ihrem Mäandern, blieben neuerlich stehen, gingen wieder. Erzählten in Triest. Schon wollten nächste Menschen sie sehen. Einige schrieben darüber Artikel. Lenz stand ziemlich kurz davor, eine zumindest lokale, wenn nicht regionale Berühmtheit zu werden. „Il tedesco“ nannten ihn manche; wäre er Künstler gewesen, er hätte damit signiert. Einige klopften sogar an der Tür, einige indiskrete waren so dreist, durch die Fenster zu spähen, schon morgens manchmal, wenn er noch schlief. Stapften quer durch die Pflanzungen, Beete, Rabatten. Ließen leere Coladosen und aufgerissene Hüllen von Schokoriegel fallen, ohne sie wieder aufzuheben. Das war nach einigen Wochen kaum mehr zu ertragen, schon gar nicht für einen so ungeselligen Menschen wie Lenz. Er überlegte ernsthaft, wieder wegzuziehen. Aber er hätte dann Deine, also der Lydierin, zwar imaginäre, doch wenigstens räumlich konkrete Nähe verlassen müssen. Das wollte er nicht, auch wenn – vielleicht sogar: weil – die Gefahr sogar objektiv bestand: Er war mietsäumig geworden. Dabei ging es um gar nicht viel Geld. Es hätte wahrscheinlich gereicht, in Zürich einen Freund anzurufen. Aber er mochte nicht sprechen, konnte, wie mein Vater, nicht sprechen, den sie in seinen letzten einsamen Jahren „Il lobo“ darum nannten. Er, tatsächlich, hat so auch signiert. So daß ich i h n jetzt sehe, wenn ich mir Lenz vor Augen halte. Der ist allerdings um einiges jünger. Weich sind sie beide, doch mein Vater war schon mit sechzehn am Ende; Lenz hingegen, mit fünfundvierzig, vielleicht knappen fünfzig, beginnt erst. Als die Lydierin, nach Jessirs Tod, in der Tür steht, sieht sie‘s sofort.
Habe ich Dir von meinem Vater erzählt? Ein bißchen, glaub ich, als Du hier warst, und Du auch mir, von dem Deinen. Und daß Du schwache Männer scheust.
Bin ich das also, schwach?
So viel tragen wir, Liebste, an Erbe.
Alban
(17.20 Uhr.)
Du hast mir - wie seltsam, Geliebte! - ein zweites Mal die Unschuld genommen, eine, die ich beim ersten Mal, als ich noch ein junger Mann gewesen, gar nicht gehabt habe. Erst ebenfalls Du, im Moment unseres ersten Blickens, hast sie mir nämlich gegeben und nahmst sie mir, indem Du nun fortgingst, mit Dir wieder weg. Da blieb ich wie ein Jugendlicher zurück, einer aber, der sich noch keine Form geben konnte. Tritt er mit bloßen Füßen auf, hinterläßt er breiige Spuren - fast, daß ich selbst in ihnen einsinke, vierzig Jahre fast nachher.
Nein, auch als junger Mann hatte ich keinerlei Unschuld. Ich war nie naiv, nicht mehr seit ungefähr fünfzehn – vielleicht aber vorher. Meine Tagebücher von damals rufen Seite um Seite nach der Geliebten, es steht fast nichts anderes drin als seitenweise, wirklich!, Seite für Seite „Christine!“ „Christine!“ Das Mädchen selbst hatte keinerlei Ahnung, geschweige „Sabine! Sabine!“, lang noch davor, da war ich sieben. Ebenso nun, diese von ihr aus betrachtet an die sogar dreiundfünfzig Jahre später, rufe ich „Sidhe!“ und genauso ins Leere. Es ist derselbe Ton, weil aus etwas geformt, das aus der Leere herausruft – einer längst indessen erfahrungsgefüllten. Ich kann gar nicht sagen, was schlimmer ist; wenn wir nur ahnen, was werden könnte, und aber es wird nicht, oder ob wir es wissen, und für kurze Zeit ist es gewesen. Und dann war es Scheinzeit und wurde so hohl wie die Erfahrung: ausgeschält wie ein Fötus. Da liegt er dann im Eimer, einem weiß emaillierten aus Blech, und schreit noch, nachdem er reingeklatscht wurde, hat aber die Stimme doch nicht, daß man hört. Und wird in dieser Dunkelheit zunehmend leiser, nachdem der Deckel zufiel: den hielt für eine kurze Zeit nur der Schuhballen offen, der auf dem Verschlußtritt stand, einer Schwester vielleicht, vielleicht auch des Arztes, derweil aber Du von irgend einem Opiat noch betäubt bist, das Dir aus dem Leben das Stückchen Abtreibungszeit für immer herausgeschnitten haben wird. Nie wieder ist es zu ergänzen. Auch das ist Leere und ist die, in die der Fötus hineinruft, den selbst die Mutter eben deshalb nicht hört. So habe ich früher „Sabine!“ gerufen, dann schon „Christine!“ und heute nun „Sìdhe!“
In meinem Eimer.
Es riecht nach Aseptik und Blut: vollgesogene Wattepads, eine Art Tampons, Plastikverschweißungen, Klumpen Schorfs, dazu andre wie mich, die schon stumm sind. Außerdem kann man sich auch schneiden: an gebrauchten Hülsenspitzen von Spritzen und den kurzen, stumpf gewordenen Klingen der Einwegskalpells. Das alles scheint dich wie in Orbits zu umkreisen, eine letzte Materialität immerhin. Selbst an ihr hält man darum noch fest. Denn dahinter, durchfunkelt von Millionen Sternen, die meist längst selber erloschen, die Einsamkeit dessen, was wir als unendlichen Raum nicht einmal erfassen können, schon gar nicht in seiner und als seine Kälte -
(Mein Sohn kommt soeben. Er braucht meine Zeit, und ich, wie verloren auch immer, brauche so dringend die seine.
A.)
19.04 Uhr.
*
Du hast mir - wie seltsam, Geliebte! - ein zweites Mal die Unschuld genommen, eine, die ich beim ersten Mal, als ich noch ein junger Mann gewesen, gar nicht gehabt habe. Erst ebenfalls Du, im Moment unseres ersten Blickens, hast sie mir nämlich gegeben und nahmst sie mir, indem Du nun fortgingst, mit Dir wieder weg. Da blieb ich wie ein Jugendlicher zurück, einer aber, der sich noch keine Form geben konnte. Tritt er mit bloßen Füßen auf, hinterläßt er breiige Spuren - fast, daß ich selbst in ihnen einsinke, vierzig Jahre fast nachher.
Nein, auch als junger Mann hatte ich keinerlei Unschuld. Ich war nie naiv, nicht mehr seit ungefähr fünfzehn – vielleicht aber vorher. Meine Tagebücher von damals rufen Seite um Seite nach der Geliebten, es steht fast nichts anderes drin als seitenweise, wirklich!, Seite für Seite „Christine!“ „Christine!“ Das Mädchen selbst hatte keinerlei Ahnung, geschweige „Sabine! Sabine!“, lang noch davor, da war ich sieben. Ebenso nun, diese von ihr aus betrachtet an die sogar dreiundfünfzig Jahre später, rufe ich „Sidhe!“ und genauso ins Leere. Es ist derselbe Ton, weil aus etwas geformt, das aus der Leere herausruft – einer längst indessen erfahrungsgefüllten. Ich kann gar nicht sagen, was schlimmer ist; wenn wir nur ahnen, was werden könnte, und aber es wird nicht, oder ob wir es wissen, und für kurze Zeit ist es gewesen. Und dann war es Scheinzeit und wurde so hohl wie die Erfahrung: ausgeschält wie ein Fötus. Da liegt er dann im Eimer, einem weiß emaillierten aus Blech, und schreit noch, nachdem er reingeklatscht wurde, hat aber die Stimme doch nicht, daß man hört. Und wird in dieser Dunkelheit zunehmend leiser, nachdem der Deckel zufiel: den hielt für eine kurze Zeit nur der Schuhballen offen, der auf dem Verschlußtritt stand, einer Schwester vielleicht, vielleicht auch des Arztes, derweil aber Du von irgend einem Opiat noch betäubt bist, das Dir aus dem Leben das Stückchen Abtreibungszeit für immer herausgeschnitten haben wird. Nie wieder ist es zu ergänzen. Auch das ist Leere und ist die, in die der Fötus hineinruft, den selbst die Mutter eben deshalb nicht hört. So habe ich früher „Sabine!“ gerufen, dann schon „Christine!“ und heute nun „Sìdhe!“
In meinem Eimer.
Es riecht nach Aseptik und Blut: vollgesogene Wattepads, eine Art Tampons, Plastikverschweißungen, Klumpen Schorfs, dazu andre wie mich, die schon stumm sind. Außerdem kann man sich auch schneiden: an gebrauchten Hülsenspitzen von Spritzen und den kurzen, stumpf gewordenen Klingen der Einwegskalpells. Das alles scheint dich wie in Orbits zu umkreisen, eine letzte Materialität immerhin. Selbst an ihr hält man darum noch fest. Denn dahinter, durchfunkelt von Millionen Sternen, die meist längst selber erloschen, die Einsamkeit dessen, was wir als unendlichen Raum nicht einmal erfassen können, schon gar nicht in seiner und als seine Kälte -
(Mein Sohn kommt soeben. Er braucht meine Zeit, und ich, wie verloren auch immer, brauche so dringend die seine.
A.)
19.04 Uhr.
albannikolaiherbst - Montag, 8. Dezember 2014, 19:05- Rubrik: Arbeitsjournal
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