Dreißigster Brief nach Triest. (Briefe nach Triest, 36).
K e i n e, Liebste,
Arbeitswohnung, den 15 Januar 2015,
frühdonnerstags um 5.16 Uhr,
Dallapicolla, Tartiniana prima,
heute, Vision. Sondern ich sah Dich im Schlaf, träumte Dich heute. Das war sehr schön und war beruhigend. Du legtest Dich, als Dein Schlafhemdchen, um meinen Hals; die Feinheit seines Textils hatte sich zu einer Schnur aus Duft gedreht, der sich einmal um ihn wandt und leise, doch entschieden zuzog. „Atme nicht mehr“, sagtest Du, „bitte.“ Also hielt ich die Luft an, im Traum, vielleicht auch wirklich, und vielleicht war es das, wovon ich schließlich aufwachte. Keine halbe Stunde ist das her. Es war ein wenig wie zu tauchen an der Leistungsgrenze: Die Physiologie wehrt sich, aber die Bilder sind grandios. Das entschädigt die Angst, überwölbt sie, läßt sie einem klein erscheinen.
Als es, ohne Sauerstoff so lange unter Wasser, genug war, strecktest Du beide Hände aus. „Nun löse es, nun gib es mir.“
Ich wollte zwar nicht, war zu sehr zuhause, aber folgte und hob den Kopf, um den Stoff um meinen Nacken herum- und von ihm abzuziehen. Das tat ich mit der rechten Hand, die einen Zipfel hielt und vom Salzfäßchen abwärts über meine Brust bis zum Bauch strich. Deine beiden Hände blieben gestreckt, ihre Flächen nebeneinander, erwartend. Einer kleinen Stola gleich legte ich das Hemdchen über sie, deren Finger sich schlossen.
Du lächeltest. Dann strecktest Du sie, beide Hände, noch mehr aus, das Hemdchen weiter darin, und erfaßtest die meinen, führtest sie an meinen Fingern an Deine Lippen, und küßtest die Kuppen. Das war von unsagbarer, ich kann es nicht anders nennen als dankbarer Zärtlichkeit. Da Deine Stirn auf meine Finger hinuntergebeugt blieb, Du mich dennoch gleichzeitig ansahst, schwebte Dein Blick schräghoch aus Deiner mich im Schlaf haltenden Tiefe, unten im Traum. Er stieg zu mir herauf und faßte mich und verband sich mit meinen Pupillen, wie wenn er bäte: „Laß mich jetzt nicht los, laß mich nie mehr versinken.“ Und küßte abermals, dankbar, meine Fingerkuppen.
So war es meine Schuld n i c h t, daß ich dennoch, aber in erfüllter Sicherheit, erwachte. Tatsächlich hatte sich Dein Hemdchen wie ein leicht zu enges Band einmal rund um meinen Hals gelegt; im Schlafen schien ich mich in es eingedreht zu haben.
Ich wußte oder fürchtete, diesen Traum gleich zu verlieren, sofern ich nicht sofort aufstand, um ihn niederzuschreiben. Dabei bist Du darin fast konkreter gewesen als die Erscheinungen, die ich im Wachen auf den Straßen gehabt, körperlicher, Sìdhe, n ä h e r vor allem: weil sehr viel weniger mythisch. Das lag am bittenden Charakter des Traums, der sich, wie ich das Hemdchen in D e i n e, in m e i n e Hände legte. Es lag am Vertrauen, das Du in mich setztest, wohl, seit wir uns kennen, zum ersten Mal uneingeschränkt.
‚Nein, Geliebte, ich versprech‘s, Dich nicht versinken zu lassen!‘: - Dies sprach ich an der Pavoni vor mich hin, nachdem ich die Computer eingeschaltet hatte und hochfahren ließ. Ich hatte nur schnell ein TShirt übergestreift, wär aber gerne nackt geblieben, doch dazu ist dieser viel zu warme Winter denn doch nicht warm genug. Immerhin kann ich, während ich schreibe, das Oberlicht weit offenstehen lassen, ohne mich in mehrere Pullover-zugleich hüllen zu müssen.
Jetzt bin ich, Herz, doch ziemlich froh, das Hemdchen, so wenig wie das gesamte Bettzeug, noch immer nicht gewaschen zu haben. Andernfalls wäre es zu diesem Traum vielleicht nicht gekommen. Schon in meinem zweiten Brief habe ich Dir vom realisierten Novalis geschrieben: daß in einer jeden Nacht Strafgefangene in ihre Träume befreit sind; Liebesgefangenen geht es offenbar nicht anders. Vieles freilich erfahren wir nicht, vieles von u n s, dieser unserer seit jeher „second world“, die mit dem Wachwerden gelöscht wird. Wer, Geliebte, sagt mir, daß wir in einer konstanten Traumwelt, die sich jede Nacht aus dem Tagsein löst und sich für vier bis sechs Stunden zur zwar zweiten, aber völligen Realität macht, n i c h t längst Paar geblieben sind und sogar zusammenleben? Vielleicht sind wir sogar verheiratet und h a b e n das Kind, Dianamaria Nasrin? Aber nein, Z o ë sollte die Tochter heißen, die Du Dir gewünscht hast. Wie hab ich das vergessen können! - Und ebenso völlig, und ebenso schmerzfrei, so gleichsam normal, kannst Du weiter mit Deinem Mann leben, sowie sich wieder der Tagschalter umlegt, und meine Löwin kann es genauso mit mir. Wie reich es ist, unser Dasein!
Ärgerlich freilich, möglicherweise dann schlimm, wird man unversehens geweckt und spricht den andern Namen aus. Es gibt ja auch Brücken von dort nach hier, die wir beschreiten, ohne es zu wollen, zum Beispiel, wenn man spricht im Schlaf. Wenn dann der oder die jeweils andere wach ist... Oder hält uns in solchen Verhältnissen unser Unbewußtes unter Verschluß? Wäre darauf Verlaß? - Auf nichts in der Welt ist Verlaß, allenfalls auf den Tagtraum: weil wir ihn kontrollieren können. Kontrolle und Liebe beißen sich aber: Die eine läßt, Frau, die andre nicht zu.
Frau...
Liebesgefangen, liebesbefangen. Ich sinne über die Kindlichkeit nach, die Du als mein Gefühl zu Dir in mir bewirkt hast, diese Art von Reinheit, die Ambivalenzen noch nicht kennt. Wir haben, als wir noch jung gewesen sind, an Einfachheit doch alle geglaubt. Platon, Das Gastmahl, die andere Hälfte, eine, die e i n e Große Liebe, für die wir bestimmt sind und die für uns bestimmt ist. Dem zur Seite lebte sich das Gefühl, daß man gut sei, und man möchte imgrunde nur Gutes. Diesen Zustand nenne ich Reinheit. Es ist einer der Naivetät. Denn dann lernt man die Interessen kennen und oft bitter spüren, die der Gesellschaft, aber vor allem des Lebens selbst, die der Chemie zum Beispiel, die nach gut oder schlecht oder richtig nicht fragen, sondern sich durchsetzen wollen, ob mit uns oder gegen uns. Wir werden ambivalent und lassen uns entweder definieren oder definieren uns selbst, meist gegen Widerstände, mitunter gegen harte, zu denen durchaus der soziale Ausschluß gehören kann. So ist es mir geschehen, der sich nicht beugen will, wenn eine Vorschrift, ein Verlangen, eine Erwartung ihm falsch dünken. Dazu war allerdings eine Selbsterfindung nötig, die einen Strich durch meine sozusagen Erbschuld machte, und es war nötig, mich den Ambivalenzen zu stellen. Denn obwohl wir alle in und mit ihnen leben, sind wir aufgefordert, sie zu verleugnen – was einem ständigen Verdrängungsprozeß gleichkommt, nein, er i s t. Daher der meisten scheinvergessenes, in ihnen aber weiterwirkendes Leid.
Ich spreche zum Beispiel von einer ehelichen, in jedem Fall partnerschaftlichen Treue, die zwar – fast seit je – dem gesellschaftlichen Interesse an Stabilität und Lenkbarkeit dient, letztlich sogar dem Umgang mit Waren, gegen die erotisch aber Natur steht. Wie groß ihre Macht ist, kennen wir gut aus den Mythen.
„Venus ist eine glitschige Göttin und kennt keine Regeln“, benannte es ein älter, als ich bin, und mir zum Quasivater gewordener Freund. Er war seiner Frau, mit der er ununterbrochen zusammenlebte, bis zu ihrem Tod tief verbunden und hatte dennoch, einige über Jahre, ständig Geliebte, mit denen er auch öffentlich erschien. Das war um so heikler, als er ein einflußreiches, sogar bestimmendes Amt auch öffentlich vertrat. Etwas zu verheimlichen, widersprach seinem Stolz.
Dennoch bestreitet er bis heute, daß Karen, seine Frau, jemals etwas bemerkt habe. Die Wahrheit wird gewesen sein, daß sie die andern Frauen tolerierte, wiederum aus Liebe zu ihm. Denn weder er noch sie hätten ihre Ehe und ihre Liebe jemals infrage gestellt. Beide indes hatten sich mit der Ambivalenz arrangiert, dies aber auf selbstermächtige, nicht fremdbestimmte Weise. Als Karen verstarb, war seine Trauer unendlich. Er leidet unter ihrem Verlust noch heute, einige Jahre später, und noch heute, zugleich, sind um ihn mehrere Geliebte. Ich gehe sicher in der Annahme nicht fehl, daß keine von ihnen so tief in ihn hineinreicht noch jemals hineingereicht hat, wie es Karen vermochte, und dennoch braucht er sie wie um zu atmen. Ihrerseits sie brauchen offenbar ihn.
Es ist ein schwieriges Leben, Herz, derart offen mit sich und den seinen umzugehen und sich zugleich nicht beschneiden zu lassen. Denn Verzichte, immer, hinterlassen ´Schnitte, die bisweilen nie mehr vernarben. Es wäre anzunehmen illusorisch, das wirkte nicht auch auf die Partner, es sei denn, sie sind uns gar nicht nah, sondern die Nähe, an ihrem Grund, ist pure Einsamkeit, nämlich ein Vorschein, den wir nur aus Angst, und zwar eben vor ihr, nicht heben wollen. Dann ist das aber das noch viel schwierigere Leben, das allerdings für die Welt wie ein einfaches aussieht, ein gerades und rechtes. Und wir lassen von i h r uns die Gradheit versichern, nicht indes von dem, was ist.
Ich wollte so nicht sein, will es nach wie vor nicht. Also setzte ich mich den Ambivalenzen aus und lebte mit ihnen kaum weniger öffentlich als mein Freund, und vertrat sie. Nur war die Reinheit damit dahin, Naivetät nicht mehr möglich, erst recht kein Glaube. Die Einzige Eine war zugleich immer auch die Möglichkeit von Andern. Das nahm jeweils meiner Leidenschaft nichts, ich ließ mich, Geliebte, fast immer tief ein und hielt mich dennoch unverschlossen. Was nun aber Du in mir, schon mit unserm ersten Blick, diesem ersten Blicken, angerührt und aus mir hervorgezogen hast, ist der reine Junge, der ich einmal gewesen bin – vor seiner erwachsenen Verschüttung durch die Ambivalenzen. Genau das war ein Teil, zumindest unter anderem, unserer Magie. Daher die, wie ich es nannte, pubertäre Anmutung meiner Liebe, ihr Ausschließliches und Unbedingtes, deren Verwirklichung jede Lebenserfahrung widerspricht. Wiederum Du, in mir, vermochtest das, weil Du selbst derart unbedingt bist, es jedenfalls sein willst und das gegen nun alle D e i n e Erfahrung und gegen jeden Schmerz aus ihr.
Weil dieses Kindliche in Dir sich im Gebäude Deines Imaginierens bewahrt hat, konntest Du das meine so leicht, ja unmittelbar, aus mir, dem Erwachsenen, wieder aufsteigen lassen, das mich von unserem Anfang an so vollständig bestimmt hat, daß ich wie ein Jugendlicher mein ganzes Leben, mitsamt aller Erfahrung, auf Dich ausgerichtet habe. Du weißt, wie ich erwog, und beinah sofort, Berlin zu verlassen und nach Triest zu ziehen. Es war mir derart ernst damit, daß ich es meinem Sohn erzählte, um ihn vorzubereiten. Ein paar Jahre früher wäre solch ein Fortzug nicht möglich gewesen, ohne dem Jungen einen schlimmen seelischen Schaden zuzufügen. Da wär dann wohl ich es gewesen, mich von Dir zu trennen; da hätt ich mir Dich ausgerissen, vielleicht gar nicht erst zugelassen. Sowie ich gemerkt hätte, daß es bei einer wie Dir mit einer Nacht nicht bleiben kann.
Übrigens wollte auch er Dich. Er mochte Dich, liebte Dich sogleich ein wenig, seit ich zum ersten Mal von Dir sprach. „Ich werde noch ein Geschwisterchen bekommen!“ soll er strahlend ausgerufen haben, als er der Mama davon erzählte – wangenglühend in ihre Küche gepest. Er war sich ebenso sicher wie ich mir. Und zugleich gegenüber der Löwin, die er ebenfalls liebt, seelisch in Not. Mit fünfzehn fangen die Ambivalenzen a n, bei einigen früher, bei andern etwas später. Ich selbst begriff sie nicht vor achtzehn, hatte freilich moralstarre Eltern. Nur meine Großmutter war gütig, wenn auch bloß für mich.
„Ich werde noch ein Geschwisterchen bekommen“, denkt Dianamaria aber auch, die unter der Trennung ihrer Eltern selbstverständlich leidet, zumal sie annimmt, an ihr die Schuld zu haben. Anders kann sie sich das gar nicht vorstellen, daß ihr Vater zu einer anderen Frau ging. Ich meine, es hat zwischen den Eheleuten so gut wie niemals Streit gegeben, jedenfalls nicht vor den Augen des Töchterchens, und zwar ist die Elbenwelt für ein Kind sehr präsent, aber es rechnet nicht mit dem Sog, den Sìdhe auf Sterbliche ausüben können, auf Männer zumal. Zu dem, was ich hierüber Reinheit nannte, gehört auch, daß man das Wesen des Sexualtriebs nicht kennt – man hat einfach noch nicht solche Räusche erlebt, geschweige die Übertretungen, die sie bewirken, und wie heftig sie dem Menschenbild wehren, das vor uns herzutragen wir aufgefordert sind. Von daher ja das Beharren auf Intimität und, um es gesellschaftlich auszudrücken, Diskretion: Was wirklich geschieht, soll im Geheimen bleiben. Jeder weiß es, doch wird nicht darüber gesprochen, darf nicht darüber gesprochen werden, und wo es gezeigt wird, nennt man es abfällig Pornografie.
Jedenfalls.
„Ich werde noch ein Geschwisterchen bekommen.“ Nämlich in einer nächsten Variante unserer Geschichte verläßt Lenz das Genzhäuschen, vielleicht nur, um der Möglichkeit zu entkommen, daß die Lydierin in sein Leben zurücktritt, besser: der Unmöglichkeit, weil er als Möglichkeit dennoch auf sie wartet und sich zugleich eine andere Möglichkeit, die sehr viel weniger Unmögliches an sich hat, Wiebke also, ihm eröffnet – zumal nach dieser für ihn ganz unvermutet innigen Nacht. Er kann ja nicht wissen – zwei Paare, erinnere Dich -, daß indirekt seine Sìdhe die Finger dabei mit im Spiel gehabt hat, und eben nicht nur die. Sondern, indem dieser Orgasmus derart überwältigend war, lag ihm zugleich etwas ungeheuer Täuschendes inne.
Die Wahrheit ist, daß beiden nicht klar war, weder Wiebke noch ihm, was sich durch sie ergeben hatte. So daß eben beide dachten, hier sei tatsächlich ein neuer Partner gefunden.
Wir können ihnen das wirklich nicht übelnehmen, nicht einmal von nun i h r e r Naivetät sprechen, denn was sie jetzt versuchen, war umfassend erwachsen.
Ohne es zu begreifen, stellten sie ihre Verbindung auf einen Kompromiß, den zwischen der Imagination und der fortan gelebten, bzw. zu lebenden, als feste Vornahme, Realität. Außerdem sprach das eigene Verhältnis für ihn, das Dianamaria zu dem verschlossenen Mann zog, ihrem, was natürlich auch sie nicht wußte, Andervater. Sie bekam es auf kindliche Weise gut hin, einen leiblichen und einen imaginären Vater zu haben und beide zu lieben, wenn auch wahrscheinlich nur deshalb, weil die Elterneinheit ohnedies zerbrochen war und, wie sie deutlich spürte, sich nicht mehr zusammenfügen würde. Lenz wiederum, den Grund freilich ahnend, hatte in dem Mädchen von allem Anfang an die Tochter gespürt.
Also sehen wir ihn sein weniges Zeug zusammenpacken. Zwar wäre es zu viel gesagt, daß er, als er das Grenzhäuschen verließ, die Holztür zugenagelt habe; dennoch, sein Abschied hatte einiges davon.
Als er über die Wiese der Straße zustapfte, er nahm nicht den Sandweg, drehte er sich nicht um. Zurück blieb die Mauer, blieb auch die schon begonnene zweite, und drinnen im Haus blieben die Wände voll der Briefe, um auf den Schimmel zu warten oder darauf, daß, wäre ein neuer Mieter gefunden, der Innenabriß beginne, ein Innenabreißen erst, dann neue Tünche. Wobei wir uns vorstellen, daß er, der neue Mieter, ein ein mal anderhalb Meter großes Stück stehenließe, als Artefakt, um das er einen Rahmen baute, dünn nur, aus Sperrholz. Er spürte, daß ein Schmücken hier nicht angebracht sei, ja verlogen wäre. Außerdem kannte er das Hörensagen, das um die Statue ging, und brachte es instinktiv, wie auch schon Wiebke getan hatte, mit den Briefen in Verbindung. Im übrigen renovierte er, ja sanierte den gesamten Komplex und ließ die Mauer, weil sie seine Gartenplanung störte, abtragen. Er hatte nämlich nicht vor, tatsächlich hier zu wohnen, sondern eine Ferienwohnung im Sinn, die sich seinerseits vermieten ließ. So gesehen, war er weniger ein Mieter als ein Investor. Nur ist das Wort zu groß für den einfachen Mann (er unterhält ein kleines Reisebüro in der Stadt). - Nur also, wenn es freistünde, wollte er Häuschen und Garten selbst als Datscha nutzen. Die Gefahr, die von den Briefen ausging, ahnte er nicht. So daß, folgen wir diesem Erzählstrang weiter, e r es sein wird, der, wenn die Lydierin zurückkehrt, ihr die Tür öffnet.
Sie fragt nicht, wer er sei.
Er starrt sie an, vom ersten Moment an hilflos.
„Läßt du mich nicht rein?“ fragt sie.
„Ja... ähm“, für sie zur Seite tretend: „bitte...“
„Wir haben“, sagt sie, als sie sitzt, „noch etwas zu tun.“
Von den Fußsohlen bis zum Scheitel, in den Innenschenkeln, durchs Geschlecht, über die Gesäßhöhe, durch beide Achselhöhlen und die Oberarme hinunter, den Hals hinauf und grad übern Nacken durchrinnt sie die wiedergewonnene Macht: eine Sìdhe zu sein. Wie sie das vermißt hat! Wie sie Lenz vermißt hat!
„Hager bist du geworden“, wendet sie allerdings ein.
Er versucht zu lächeln, um die Haltung zumindest ein bißchen zu bewahren. Nein, er ist alles andre als ein Fantast. Dennoch hat er das Gefühl, diese Frau schon seit ewig zu kennen. So daß er sich einen Ruck gibt, kaum sichtbar, aber in seinem Innern ein weggewuchteter Fels. Und sie küßt -
- indessen zwar nicht Dianamaria mit dem neuen Freund ihrer Mama ein Problem hat, aber selbstverständlich Gerald. Natürlich erzählt sein Töchterchen von diesem neuen Mann, aber sowieso hätte er den ihm fremden Einfluß gespürt, der da auf das Mädchen wirkte. Dabei war es sensibel genug, nicht von Lenz zu schwärmen, verhielt sich insgesamt fast diskret. Kinder, auch in dieser Hinsicht, können erstaunlich sein. Dennoch war es für Gerald, als würde sein Kind ihm weggenommen, zumal er ja das Sorgerecht verloren hatte und immer noch der Beschluß anhängig war, der ihn unter Strafandrohung von Wiebke fernhielt. Die Chance, die Lenz für ihn bedeutete, begriff er erst viel später.
Ich möchte, Geliebte, auf wenigstens ein kleines Happyend hinaus: daß nämlich Wiebke nach bereits wenigen Wochen begreift, wie wenig Lenz in ihr Leben paßt. Nicht nur, weil sich die vulkanische Gewalt ihrer beider ersten Vereinigung nicht mehr wiederholen wird, was nicht an ihr, Wiebke, liegt, im Gegenteil, sie ist völlig entschlossen. Sondern die Briefe sind nicht nah, die Magie, die Lenz, als sich die Lydierin entzogen hatte, nun in sie, die Briefe, flößte und die aus ihnen auf ihn zurückwirkten. Hier in Berlin wußte er einfach nicht mehr, wer und was er war, fühlte sich triestfern entwurzelt; außerdem hatte seine Ex, die so schnell von Lenzens neuer Beziehung erfuhr, daß man meinen kann, sie habe ihn alle Zeit beobachten, wenn nicht überwachen lassen, einen Anwalt eingeschaltet, dem es darum zu tun war, den Unterhaltszahlungen seiner Mandantin, Ergebnis des seinerzeitigen Scheidungsvertrags, ein Ende zu setzen – aus deren Sicht durchaus zurecht. Für Lenz bedeutete das drohende Mittellosigkeit und für Wiebke, dann in ihm ein zweites Kind im Haus zu haben. Denn daran, daß Lenz seine frühere Tätigkeit wieder aufnahm, war überhaupt nicht zu denken; er saß wie ein schmarotzender Kloß in der Wohnung, versuchte zwar hier und dort, eine Anstellung als Gärtner zu finden, aber man wollte ihn nirgendwo haben. So daß er zunehmend unwillig wurde, zuweilen auch laut; selbst Dianamaria, innerlich, zog sich vor ihm zurück. Spätestens das konnte Wiebke nicht hinnehmen.
Sie mußte handeln.
„Wir müssen sprechen.“
Er sprach aber nicht.
„Dein ewiges Selbstmitleid ist zum Kotzen!“
Er sprach immer noch nicht.
Sie hatte keinen Nerv auf schon wieder einen Anwalt.
Handelte paradox: rief ausgerechnet Gerald an. Ein langes, sehr langes Gespräch, an dessen Ende beide weinten. Woraufhin sich Gerald ermannte.
Eine Woche später, Wiebke hatte die Tochter für zwei Tage zur Großmutter gegeben, kam nicht sie von der Arbeit heim, sondern er, Gerald, schloß die Tür auf. Sagte nichts, schon gar nicht rief er „Hallo?“, sondern schritt wie einer, der sein Heim verteidigt, ins Wohnzimmer, wo Lenz, brütend wie immer, am Eßtisch saß. Ich muß Dir nicht erzählen, daß er zu trinken begonnen hatte. Rechts von ihm stand die Flasche, Vodka vielleicht, vielleicht Korn.
„Raus“, sagte Gerald.
Lenz sah auf, sah dem Mann die Entschiedenheit an; vor allem sah er die Liebe, erkannte sie. Sie erinnerte ihn. So daß er wortlos aufstand und „Verzeihung“ sagte.
Gerald schwieg, seinerseits erkennend. Plötzlich tat dieser Trinker ihm leid. Also schwieg er weiter, sah nur zu, wie Lenz ein bißchen Zeug in einen Beutel stopfte, Ausweise, ein bißchen Wäsche, ein Paar Schuhe. Mehr braucht man imgrunde auch nicht.
Als Lenz schon im Flur stand, hatte Gerald sein Portomonnaie aus der linken Innentasche seines Jacketts gezogen und ihm drei Hunderter entnommen. Die hielt er dem Gehenden hin.
„Nehmen Sie“, sagte er, „bitte. Keine große Sache für mich.“
Die große Sache, in der Tat, war etwas andres.
Lenz zog hinter sich die Tür zu. In dieser Version der Geschichte geht er für uns nun verloren, irgendwo zwischen Helmholtzplatz und Sonnenallee. In sein Grenzhäuschen kann er ja nicht mehr zurück, da wird zur Zeit noch saniert. Nicht verloren gehen Wiebke, Gerald und Dianamaria, deren Glück ich Dir, daß ihre Eltern wieder beisammensind, nicht beschreiben kann. Denn ich selbst, bei meinem Sohn, hab es erlebt. Bitte, Geliebte, laß uns beten, daß es - wenigstens bis das Mädchen erwachsen ist - bei dieser Wiederfindung bleibt, einer Wiedererfindung der Liebe.
Alban
*
(15.04 Uhr,
Sibelius, Violinkonzert.)
Arbeitswohnung, den 15 Januar 2015,
frühdonnerstags um 5.16 Uhr,
Dallapicolla, Tartiniana prima,
heute, Vision. Sondern ich sah Dich im Schlaf, träumte Dich heute. Das war sehr schön und war beruhigend. Du legtest Dich, als Dein Schlafhemdchen, um meinen Hals; die Feinheit seines Textils hatte sich zu einer Schnur aus Duft gedreht, der sich einmal um ihn wandt und leise, doch entschieden zuzog. „Atme nicht mehr“, sagtest Du, „bitte.“ Also hielt ich die Luft an, im Traum, vielleicht auch wirklich, und vielleicht war es das, wovon ich schließlich aufwachte. Keine halbe Stunde ist das her. Es war ein wenig wie zu tauchen an der Leistungsgrenze: Die Physiologie wehrt sich, aber die Bilder sind grandios. Das entschädigt die Angst, überwölbt sie, läßt sie einem klein erscheinen.
Als es, ohne Sauerstoff so lange unter Wasser, genug war, strecktest Du beide Hände aus. „Nun löse es, nun gib es mir.“
Ich wollte zwar nicht, war zu sehr zuhause, aber folgte und hob den Kopf, um den Stoff um meinen Nacken herum- und von ihm abzuziehen. Das tat ich mit der rechten Hand, die einen Zipfel hielt und vom Salzfäßchen abwärts über meine Brust bis zum Bauch strich. Deine beiden Hände blieben gestreckt, ihre Flächen nebeneinander, erwartend. Einer kleinen Stola gleich legte ich das Hemdchen über sie, deren Finger sich schlossen.
Du lächeltest. Dann strecktest Du sie, beide Hände, noch mehr aus, das Hemdchen weiter darin, und erfaßtest die meinen, führtest sie an meinen Fingern an Deine Lippen, und küßtest die Kuppen. Das war von unsagbarer, ich kann es nicht anders nennen als dankbarer Zärtlichkeit. Da Deine Stirn auf meine Finger hinuntergebeugt blieb, Du mich dennoch gleichzeitig ansahst, schwebte Dein Blick schräghoch aus Deiner mich im Schlaf haltenden Tiefe, unten im Traum. Er stieg zu mir herauf und faßte mich und verband sich mit meinen Pupillen, wie wenn er bäte: „Laß mich jetzt nicht los, laß mich nie mehr versinken.“ Und küßte abermals, dankbar, meine Fingerkuppen.
So war es meine Schuld n i c h t, daß ich dennoch, aber in erfüllter Sicherheit, erwachte. Tatsächlich hatte sich Dein Hemdchen wie ein leicht zu enges Band einmal rund um meinen Hals gelegt; im Schlafen schien ich mich in es eingedreht zu haben.
Ich wußte oder fürchtete, diesen Traum gleich zu verlieren, sofern ich nicht sofort aufstand, um ihn niederzuschreiben. Dabei bist Du darin fast konkreter gewesen als die Erscheinungen, die ich im Wachen auf den Straßen gehabt, körperlicher, Sìdhe, n ä h e r vor allem: weil sehr viel weniger mythisch. Das lag am bittenden Charakter des Traums, der sich, wie ich das Hemdchen in D e i n e, in m e i n e Hände legte. Es lag am Vertrauen, das Du in mich setztest, wohl, seit wir uns kennen, zum ersten Mal uneingeschränkt.
‚Nein, Geliebte, ich versprech‘s, Dich nicht versinken zu lassen!‘: - Dies sprach ich an der Pavoni vor mich hin, nachdem ich die Computer eingeschaltet hatte und hochfahren ließ. Ich hatte nur schnell ein TShirt übergestreift, wär aber gerne nackt geblieben, doch dazu ist dieser viel zu warme Winter denn doch nicht warm genug. Immerhin kann ich, während ich schreibe, das Oberlicht weit offenstehen lassen, ohne mich in mehrere Pullover-zugleich hüllen zu müssen.
Jetzt bin ich, Herz, doch ziemlich froh, das Hemdchen, so wenig wie das gesamte Bettzeug, noch immer nicht gewaschen zu haben. Andernfalls wäre es zu diesem Traum vielleicht nicht gekommen. Schon in meinem zweiten Brief habe ich Dir vom realisierten Novalis geschrieben: daß in einer jeden Nacht Strafgefangene in ihre Träume befreit sind; Liebesgefangenen geht es offenbar nicht anders. Vieles freilich erfahren wir nicht, vieles von u n s, dieser unserer seit jeher „second world“, die mit dem Wachwerden gelöscht wird. Wer, Geliebte, sagt mir, daß wir in einer konstanten Traumwelt, die sich jede Nacht aus dem Tagsein löst und sich für vier bis sechs Stunden zur zwar zweiten, aber völligen Realität macht, n i c h t längst Paar geblieben sind und sogar zusammenleben? Vielleicht sind wir sogar verheiratet und h a b e n das Kind, Dianamaria Nasrin? Aber nein, Z o ë sollte die Tochter heißen, die Du Dir gewünscht hast. Wie hab ich das vergessen können! - Und ebenso völlig, und ebenso schmerzfrei, so gleichsam normal, kannst Du weiter mit Deinem Mann leben, sowie sich wieder der Tagschalter umlegt, und meine Löwin kann es genauso mit mir. Wie reich es ist, unser Dasein!
Ärgerlich freilich, möglicherweise dann schlimm, wird man unversehens geweckt und spricht den andern Namen aus. Es gibt ja auch Brücken von dort nach hier, die wir beschreiten, ohne es zu wollen, zum Beispiel, wenn man spricht im Schlaf. Wenn dann der oder die jeweils andere wach ist... Oder hält uns in solchen Verhältnissen unser Unbewußtes unter Verschluß? Wäre darauf Verlaß? - Auf nichts in der Welt ist Verlaß, allenfalls auf den Tagtraum: weil wir ihn kontrollieren können. Kontrolle und Liebe beißen sich aber: Die eine läßt, Frau, die andre nicht zu.
Frau...
Liebesgefangen, liebesbefangen. Ich sinne über die Kindlichkeit nach, die Du als mein Gefühl zu Dir in mir bewirkt hast, diese Art von Reinheit, die Ambivalenzen noch nicht kennt. Wir haben, als wir noch jung gewesen sind, an Einfachheit doch alle geglaubt. Platon, Das Gastmahl, die andere Hälfte, eine, die e i n e Große Liebe, für die wir bestimmt sind und die für uns bestimmt ist. Dem zur Seite lebte sich das Gefühl, daß man gut sei, und man möchte imgrunde nur Gutes. Diesen Zustand nenne ich Reinheit. Es ist einer der Naivetät. Denn dann lernt man die Interessen kennen und oft bitter spüren, die der Gesellschaft, aber vor allem des Lebens selbst, die der Chemie zum Beispiel, die nach gut oder schlecht oder richtig nicht fragen, sondern sich durchsetzen wollen, ob mit uns oder gegen uns. Wir werden ambivalent und lassen uns entweder definieren oder definieren uns selbst, meist gegen Widerstände, mitunter gegen harte, zu denen durchaus der soziale Ausschluß gehören kann. So ist es mir geschehen, der sich nicht beugen will, wenn eine Vorschrift, ein Verlangen, eine Erwartung ihm falsch dünken. Dazu war allerdings eine Selbsterfindung nötig, die einen Strich durch meine sozusagen Erbschuld machte, und es war nötig, mich den Ambivalenzen zu stellen. Denn obwohl wir alle in und mit ihnen leben, sind wir aufgefordert, sie zu verleugnen – was einem ständigen Verdrängungsprozeß gleichkommt, nein, er i s t. Daher der meisten scheinvergessenes, in ihnen aber weiterwirkendes Leid.
Ich spreche zum Beispiel von einer ehelichen, in jedem Fall partnerschaftlichen Treue, die zwar – fast seit je – dem gesellschaftlichen Interesse an Stabilität und Lenkbarkeit dient, letztlich sogar dem Umgang mit Waren, gegen die erotisch aber Natur steht. Wie groß ihre Macht ist, kennen wir gut aus den Mythen.
„Venus ist eine glitschige Göttin und kennt keine Regeln“, benannte es ein älter, als ich bin, und mir zum Quasivater gewordener Freund. Er war seiner Frau, mit der er ununterbrochen zusammenlebte, bis zu ihrem Tod tief verbunden und hatte dennoch, einige über Jahre, ständig Geliebte, mit denen er auch öffentlich erschien. Das war um so heikler, als er ein einflußreiches, sogar bestimmendes Amt auch öffentlich vertrat. Etwas zu verheimlichen, widersprach seinem Stolz.
Dennoch bestreitet er bis heute, daß Karen, seine Frau, jemals etwas bemerkt habe. Die Wahrheit wird gewesen sein, daß sie die andern Frauen tolerierte, wiederum aus Liebe zu ihm. Denn weder er noch sie hätten ihre Ehe und ihre Liebe jemals infrage gestellt. Beide indes hatten sich mit der Ambivalenz arrangiert, dies aber auf selbstermächtige, nicht fremdbestimmte Weise. Als Karen verstarb, war seine Trauer unendlich. Er leidet unter ihrem Verlust noch heute, einige Jahre später, und noch heute, zugleich, sind um ihn mehrere Geliebte. Ich gehe sicher in der Annahme nicht fehl, daß keine von ihnen so tief in ihn hineinreicht noch jemals hineingereicht hat, wie es Karen vermochte, und dennoch braucht er sie wie um zu atmen. Ihrerseits sie brauchen offenbar ihn.
Es ist ein schwieriges Leben, Herz, derart offen mit sich und den seinen umzugehen und sich zugleich nicht beschneiden zu lassen. Denn Verzichte, immer, hinterlassen ´Schnitte, die bisweilen nie mehr vernarben. Es wäre anzunehmen illusorisch, das wirkte nicht auch auf die Partner, es sei denn, sie sind uns gar nicht nah, sondern die Nähe, an ihrem Grund, ist pure Einsamkeit, nämlich ein Vorschein, den wir nur aus Angst, und zwar eben vor ihr, nicht heben wollen. Dann ist das aber das noch viel schwierigere Leben, das allerdings für die Welt wie ein einfaches aussieht, ein gerades und rechtes. Und wir lassen von i h r uns die Gradheit versichern, nicht indes von dem, was ist.
Ich wollte so nicht sein, will es nach wie vor nicht. Also setzte ich mich den Ambivalenzen aus und lebte mit ihnen kaum weniger öffentlich als mein Freund, und vertrat sie. Nur war die Reinheit damit dahin, Naivetät nicht mehr möglich, erst recht kein Glaube. Die Einzige Eine war zugleich immer auch die Möglichkeit von Andern. Das nahm jeweils meiner Leidenschaft nichts, ich ließ mich, Geliebte, fast immer tief ein und hielt mich dennoch unverschlossen. Was nun aber Du in mir, schon mit unserm ersten Blick, diesem ersten Blicken, angerührt und aus mir hervorgezogen hast, ist der reine Junge, der ich einmal gewesen bin – vor seiner erwachsenen Verschüttung durch die Ambivalenzen. Genau das war ein Teil, zumindest unter anderem, unserer Magie. Daher die, wie ich es nannte, pubertäre Anmutung meiner Liebe, ihr Ausschließliches und Unbedingtes, deren Verwirklichung jede Lebenserfahrung widerspricht. Wiederum Du, in mir, vermochtest das, weil Du selbst derart unbedingt bist, es jedenfalls sein willst und das gegen nun alle D e i n e Erfahrung und gegen jeden Schmerz aus ihr.
Weil dieses Kindliche in Dir sich im Gebäude Deines Imaginierens bewahrt hat, konntest Du das meine so leicht, ja unmittelbar, aus mir, dem Erwachsenen, wieder aufsteigen lassen, das mich von unserem Anfang an so vollständig bestimmt hat, daß ich wie ein Jugendlicher mein ganzes Leben, mitsamt aller Erfahrung, auf Dich ausgerichtet habe. Du weißt, wie ich erwog, und beinah sofort, Berlin zu verlassen und nach Triest zu ziehen. Es war mir derart ernst damit, daß ich es meinem Sohn erzählte, um ihn vorzubereiten. Ein paar Jahre früher wäre solch ein Fortzug nicht möglich gewesen, ohne dem Jungen einen schlimmen seelischen Schaden zuzufügen. Da wär dann wohl ich es gewesen, mich von Dir zu trennen; da hätt ich mir Dich ausgerissen, vielleicht gar nicht erst zugelassen. Sowie ich gemerkt hätte, daß es bei einer wie Dir mit einer Nacht nicht bleiben kann.
Übrigens wollte auch er Dich. Er mochte Dich, liebte Dich sogleich ein wenig, seit ich zum ersten Mal von Dir sprach. „Ich werde noch ein Geschwisterchen bekommen!“ soll er strahlend ausgerufen haben, als er der Mama davon erzählte – wangenglühend in ihre Küche gepest. Er war sich ebenso sicher wie ich mir. Und zugleich gegenüber der Löwin, die er ebenfalls liebt, seelisch in Not. Mit fünfzehn fangen die Ambivalenzen a n, bei einigen früher, bei andern etwas später. Ich selbst begriff sie nicht vor achtzehn, hatte freilich moralstarre Eltern. Nur meine Großmutter war gütig, wenn auch bloß für mich.
„Ich werde noch ein Geschwisterchen bekommen“, denkt Dianamaria aber auch, die unter der Trennung ihrer Eltern selbstverständlich leidet, zumal sie annimmt, an ihr die Schuld zu haben. Anders kann sie sich das gar nicht vorstellen, daß ihr Vater zu einer anderen Frau ging. Ich meine, es hat zwischen den Eheleuten so gut wie niemals Streit gegeben, jedenfalls nicht vor den Augen des Töchterchens, und zwar ist die Elbenwelt für ein Kind sehr präsent, aber es rechnet nicht mit dem Sog, den Sìdhe auf Sterbliche ausüben können, auf Männer zumal. Zu dem, was ich hierüber Reinheit nannte, gehört auch, daß man das Wesen des Sexualtriebs nicht kennt – man hat einfach noch nicht solche Räusche erlebt, geschweige die Übertretungen, die sie bewirken, und wie heftig sie dem Menschenbild wehren, das vor uns herzutragen wir aufgefordert sind. Von daher ja das Beharren auf Intimität und, um es gesellschaftlich auszudrücken, Diskretion: Was wirklich geschieht, soll im Geheimen bleiben. Jeder weiß es, doch wird nicht darüber gesprochen, darf nicht darüber gesprochen werden, und wo es gezeigt wird, nennt man es abfällig Pornografie.
Jedenfalls.
„Ich werde noch ein Geschwisterchen bekommen.“ Nämlich in einer nächsten Variante unserer Geschichte verläßt Lenz das Genzhäuschen, vielleicht nur, um der Möglichkeit zu entkommen, daß die Lydierin in sein Leben zurücktritt, besser: der Unmöglichkeit, weil er als Möglichkeit dennoch auf sie wartet und sich zugleich eine andere Möglichkeit, die sehr viel weniger Unmögliches an sich hat, Wiebke also, ihm eröffnet – zumal nach dieser für ihn ganz unvermutet innigen Nacht. Er kann ja nicht wissen – zwei Paare, erinnere Dich -, daß indirekt seine Sìdhe die Finger dabei mit im Spiel gehabt hat, und eben nicht nur die. Sondern, indem dieser Orgasmus derart überwältigend war, lag ihm zugleich etwas ungeheuer Täuschendes inne.
Die Wahrheit ist, daß beiden nicht klar war, weder Wiebke noch ihm, was sich durch sie ergeben hatte. So daß eben beide dachten, hier sei tatsächlich ein neuer Partner gefunden.
Wir können ihnen das wirklich nicht übelnehmen, nicht einmal von nun i h r e r Naivetät sprechen, denn was sie jetzt versuchen, war umfassend erwachsen.
Ohne es zu begreifen, stellten sie ihre Verbindung auf einen Kompromiß, den zwischen der Imagination und der fortan gelebten, bzw. zu lebenden, als feste Vornahme, Realität. Außerdem sprach das eigene Verhältnis für ihn, das Dianamaria zu dem verschlossenen Mann zog, ihrem, was natürlich auch sie nicht wußte, Andervater. Sie bekam es auf kindliche Weise gut hin, einen leiblichen und einen imaginären Vater zu haben und beide zu lieben, wenn auch wahrscheinlich nur deshalb, weil die Elterneinheit ohnedies zerbrochen war und, wie sie deutlich spürte, sich nicht mehr zusammenfügen würde. Lenz wiederum, den Grund freilich ahnend, hatte in dem Mädchen von allem Anfang an die Tochter gespürt.
Also sehen wir ihn sein weniges Zeug zusammenpacken. Zwar wäre es zu viel gesagt, daß er, als er das Grenzhäuschen verließ, die Holztür zugenagelt habe; dennoch, sein Abschied hatte einiges davon.
Als er über die Wiese der Straße zustapfte, er nahm nicht den Sandweg, drehte er sich nicht um. Zurück blieb die Mauer, blieb auch die schon begonnene zweite, und drinnen im Haus blieben die Wände voll der Briefe, um auf den Schimmel zu warten oder darauf, daß, wäre ein neuer Mieter gefunden, der Innenabriß beginne, ein Innenabreißen erst, dann neue Tünche. Wobei wir uns vorstellen, daß er, der neue Mieter, ein ein mal anderhalb Meter großes Stück stehenließe, als Artefakt, um das er einen Rahmen baute, dünn nur, aus Sperrholz. Er spürte, daß ein Schmücken hier nicht angebracht sei, ja verlogen wäre. Außerdem kannte er das Hörensagen, das um die Statue ging, und brachte es instinktiv, wie auch schon Wiebke getan hatte, mit den Briefen in Verbindung. Im übrigen renovierte er, ja sanierte den gesamten Komplex und ließ die Mauer, weil sie seine Gartenplanung störte, abtragen. Er hatte nämlich nicht vor, tatsächlich hier zu wohnen, sondern eine Ferienwohnung im Sinn, die sich seinerseits vermieten ließ. So gesehen, war er weniger ein Mieter als ein Investor. Nur ist das Wort zu groß für den einfachen Mann (er unterhält ein kleines Reisebüro in der Stadt). - Nur also, wenn es freistünde, wollte er Häuschen und Garten selbst als Datscha nutzen. Die Gefahr, die von den Briefen ausging, ahnte er nicht. So daß, folgen wir diesem Erzählstrang weiter, e r es sein wird, der, wenn die Lydierin zurückkehrt, ihr die Tür öffnet.
Sie fragt nicht, wer er sei.
Er starrt sie an, vom ersten Moment an hilflos.
„Läßt du mich nicht rein?“ fragt sie.
„Ja... ähm“, für sie zur Seite tretend: „bitte...“
„Wir haben“, sagt sie, als sie sitzt, „noch etwas zu tun.“
Von den Fußsohlen bis zum Scheitel, in den Innenschenkeln, durchs Geschlecht, über die Gesäßhöhe, durch beide Achselhöhlen und die Oberarme hinunter, den Hals hinauf und grad übern Nacken durchrinnt sie die wiedergewonnene Macht: eine Sìdhe zu sein. Wie sie das vermißt hat! Wie sie Lenz vermißt hat!
„Hager bist du geworden“, wendet sie allerdings ein.
Er versucht zu lächeln, um die Haltung zumindest ein bißchen zu bewahren. Nein, er ist alles andre als ein Fantast. Dennoch hat er das Gefühl, diese Frau schon seit ewig zu kennen. So daß er sich einen Ruck gibt, kaum sichtbar, aber in seinem Innern ein weggewuchteter Fels. Und sie küßt -
- indessen zwar nicht Dianamaria mit dem neuen Freund ihrer Mama ein Problem hat, aber selbstverständlich Gerald. Natürlich erzählt sein Töchterchen von diesem neuen Mann, aber sowieso hätte er den ihm fremden Einfluß gespürt, der da auf das Mädchen wirkte. Dabei war es sensibel genug, nicht von Lenz zu schwärmen, verhielt sich insgesamt fast diskret. Kinder, auch in dieser Hinsicht, können erstaunlich sein. Dennoch war es für Gerald, als würde sein Kind ihm weggenommen, zumal er ja das Sorgerecht verloren hatte und immer noch der Beschluß anhängig war, der ihn unter Strafandrohung von Wiebke fernhielt. Die Chance, die Lenz für ihn bedeutete, begriff er erst viel später.
Ich möchte, Geliebte, auf wenigstens ein kleines Happyend hinaus: daß nämlich Wiebke nach bereits wenigen Wochen begreift, wie wenig Lenz in ihr Leben paßt. Nicht nur, weil sich die vulkanische Gewalt ihrer beider ersten Vereinigung nicht mehr wiederholen wird, was nicht an ihr, Wiebke, liegt, im Gegenteil, sie ist völlig entschlossen. Sondern die Briefe sind nicht nah, die Magie, die Lenz, als sich die Lydierin entzogen hatte, nun in sie, die Briefe, flößte und die aus ihnen auf ihn zurückwirkten. Hier in Berlin wußte er einfach nicht mehr, wer und was er war, fühlte sich triestfern entwurzelt; außerdem hatte seine Ex, die so schnell von Lenzens neuer Beziehung erfuhr, daß man meinen kann, sie habe ihn alle Zeit beobachten, wenn nicht überwachen lassen, einen Anwalt eingeschaltet, dem es darum zu tun war, den Unterhaltszahlungen seiner Mandantin, Ergebnis des seinerzeitigen Scheidungsvertrags, ein Ende zu setzen – aus deren Sicht durchaus zurecht. Für Lenz bedeutete das drohende Mittellosigkeit und für Wiebke, dann in ihm ein zweites Kind im Haus zu haben. Denn daran, daß Lenz seine frühere Tätigkeit wieder aufnahm, war überhaupt nicht zu denken; er saß wie ein schmarotzender Kloß in der Wohnung, versuchte zwar hier und dort, eine Anstellung als Gärtner zu finden, aber man wollte ihn nirgendwo haben. So daß er zunehmend unwillig wurde, zuweilen auch laut; selbst Dianamaria, innerlich, zog sich vor ihm zurück. Spätestens das konnte Wiebke nicht hinnehmen.
Sie mußte handeln.
„Wir müssen sprechen.“
Er sprach aber nicht.
„Dein ewiges Selbstmitleid ist zum Kotzen!“
Er sprach immer noch nicht.
Sie hatte keinen Nerv auf schon wieder einen Anwalt.
Handelte paradox: rief ausgerechnet Gerald an. Ein langes, sehr langes Gespräch, an dessen Ende beide weinten. Woraufhin sich Gerald ermannte.
Eine Woche später, Wiebke hatte die Tochter für zwei Tage zur Großmutter gegeben, kam nicht sie von der Arbeit heim, sondern er, Gerald, schloß die Tür auf. Sagte nichts, schon gar nicht rief er „Hallo?“, sondern schritt wie einer, der sein Heim verteidigt, ins Wohnzimmer, wo Lenz, brütend wie immer, am Eßtisch saß. Ich muß Dir nicht erzählen, daß er zu trinken begonnen hatte. Rechts von ihm stand die Flasche, Vodka vielleicht, vielleicht Korn.
„Raus“, sagte Gerald.
Lenz sah auf, sah dem Mann die Entschiedenheit an; vor allem sah er die Liebe, erkannte sie. Sie erinnerte ihn. So daß er wortlos aufstand und „Verzeihung“ sagte.
Gerald schwieg, seinerseits erkennend. Plötzlich tat dieser Trinker ihm leid. Also schwieg er weiter, sah nur zu, wie Lenz ein bißchen Zeug in einen Beutel stopfte, Ausweise, ein bißchen Wäsche, ein Paar Schuhe. Mehr braucht man imgrunde auch nicht.
Als Lenz schon im Flur stand, hatte Gerald sein Portomonnaie aus der linken Innentasche seines Jacketts gezogen und ihm drei Hunderter entnommen. Die hielt er dem Gehenden hin.
„Nehmen Sie“, sagte er, „bitte. Keine große Sache für mich.“
Die große Sache, in der Tat, war etwas andres.
Lenz zog hinter sich die Tür zu. In dieser Version der Geschichte geht er für uns nun verloren, irgendwo zwischen Helmholtzplatz und Sonnenallee. In sein Grenzhäuschen kann er ja nicht mehr zurück, da wird zur Zeit noch saniert. Nicht verloren gehen Wiebke, Gerald und Dianamaria, deren Glück ich Dir, daß ihre Eltern wieder beisammensind, nicht beschreiben kann. Denn ich selbst, bei meinem Sohn, hab es erlebt. Bitte, Geliebte, laß uns beten, daß es - wenigstens bis das Mädchen erwachsen ist - bei dieser Wiederfindung bleibt, einer Wiedererfindung der Liebe.
Alban
(15.04 Uhr,
Sibelius, Violinkonzert.)
Nein, Herz, ich mag uns Lenz nicht so verloren gehen lassen, will nicht, daß er in die Pauperisierten eingeht und in den Obdachlosenheimen schläft, wo er nun ebenso wenig hinpaßt wie sonst wohin auf der Welt. Wäre er doch, müßten wir andererseits rufen, in seiner Bank geblieben, damals! Seine ganze innere Entwicklung, wozu war sie denn gut? Nicht für ihn, nicht für seinen Sohn, weder für die Lydierin noch für seine Ex. Nicht einmal für uns.
Die pure Sinnlosigkeit, müßten wir sagen. Jaja, Geliebte, Du hast recht: Es sind nicht wenige, die ihres solchen Kummers wegen eingehen. Doch ist nicht mein Anliegen seit je gewesen, die Realität in Grenzen zu weisen und gegen ihre Wahrscheinlichkeiten anzuschreiben, schon weil sich die meisten Menschen ihnen beugen?
So sei mir meine Muse wieder und führe meine Hand, daß sie einen Strich durch den letzten Teil unserer Erzählung mache! Denn was Wiebke und Gerald anbelangt, und das Glück ihres Töchterchens, so verspreche ich Dir, einen anderen Weg zu finden, die kleine Familie wieder zusammenzubringen. Auch das, seit ich dichte, ist mir ein Anliegen gewesen: die Trennung meiner Eltern rückgängig zu machen, nicht faktisch, nein, wie sollte ich? doch in meinem eigenen, a l s mein eigenes Leben. Einmal, immerhin, hab ich das schon versiebt...
Auch darum geht es: uns über unsere Strukturen zu erheben, wie auch immer sie auf uns übergegangen sein mögen. Vielleicht hat auch Dich das, Liebste, nur in die Gegenrichtung, geleitet, und eine damit, die mich ausschloß. Ich stell es mir so vor, daß wir unsre Kinder an uns heilen lassen, dem, was wir ihnen, sind wir weniger bewußt, aus dem weitergeben, was uns selber geformt hat, worunter wir schon litten.
Nein, besser, Lenz kehrt in sein Grenzhäuschen zurück, was bedeutet, daß er‘s gar nicht erst verläßt, sondern da noch, als Wiebke ein zweites Mal dort auftaucht, der eremitische Mauerkopf bleibt, zu dem er unterdessen wurde. Überdies wird das dem neuen Käufer des Häuschens ein Sìdheschicksal ersparen, das nicht weniger beklemmend würde als Lenzens; im Gegenteil: In einem Fantasy- oder Horrorstreifen sähen wir am Ende die mythische Frau das Leben aus ihm saugen. Lenz hingegen, immerhin, ist mittlerweile vorbereitet und hat die Kraft errungen, seinem Succubus zu bestehen. Stünden sie nun Stirn an Stirn, glühten beider Augen. Nein, Schönste, das glaube ich nicht, daß er abermals schwachwerden würde. Ich weiß, so hab ich es früher geschrieben. Aber sieh ihn Dir an! Er würde sie statt dessen p a c k e n.... liebend, selbstverständlich, aber bestimmt. Da käm es nur noch dann drauf an, ihn wieder Geld verdienen zu lassen, um aus seiner Alimentierung herauszukommen, die man einer wie der Lydierin nicht zumuten darf, auf keinen Fall auf Dauer. Sonst verlöre sie d o c h noch die Achtung, und Du weißt, wie grausam Frauen dann werden. Nicht alle, zugegeben, aber solche; sogar, wahrscheinlich, die meisten.
Andererseits bin ich mir leider sicher, daß ich, wenn ich – das wird nun wahrscheinlich im März sein, und ich fürchte mich davor – für alle Orte der Geschehen nach Triest fliegen und mir einen Wagen mieten werde, um an der slovenischen Grenze Lenzens Häuschen zu suchen, zwar eines finden werden, aber so saniert, wie es der neue Käufer im Sinn gehabt hat, den wir nun durchgestrichen haben, um ihn vor der Lydierin zu schützen. Meine Güte, diese Macht der Briefe! Und dennoch ist die Realität fast immer schneller als wir, die wir hoffen.
Ich werde nicht aufgeben, Liebste, werde weiter mit dem Kopf an die Wand – nicht hindurch, neinnein! doch mag‘s längst sein, auch wenn ich sie nicht sehe, daß sie schon Risse davon hat. Und dann, eines Tages, lugst Du durch die hindurch... vorsichtig freilich... ob Du mich sehen kannst. Und schaust, ob ich noch will nach derart langer Zeit. - Wäre ich Lenz, ich hätte es vielleicht für eine Prüfung gehalten. Nicht Götter allein setzen uns Versuchungen aus, nicht nur der Markt... die Frauen vielleicht a u c h.
Jedenfalls hat Lenz sein Häuschen n i c h t aufgegeben. Ich meine, so dumm ist er nicht, nicht zu wissen, was in Berlin von ihm erwartet würde und daß er nicht imstande wäre, vor allem, es nicht sein will, dem zu genügen. Zöge umgekehrt Wiebke nach Triest, wäre es vielleicht etwas anderes; man säh sich dann von Zeit zu Zeit, gern zuweilen über Nacht. Das hätte auch der Lebensweise entsprochen, die längst die ihre war. Weil sie ja eben Gerald noch liebte und weil sie sich eine zweite wirkliche Ehe nicht vorstellen konnte, überhaupt nicht mehr: Ehe. So autark war sie über diese Form der Partnerschaft hinausgewachsen. - Aber sie wollte die Tochter von Gerald nicht entfernen. Außerdem, die Schule; das Mädchen hätte Italienisch lernen müssen, wäre in den Leistungen erst einmal zurückgefallen. Daß sie den Vater nur noch in den Ferien sehen könnte, täte einiges Schlimme hinzu. - Nein, Herz. Es wäre unverantwortlich gewesen.
Also schrieb sie Lenz noch hin und wieder, nachdem sie zurück in Berlin war, eine Karte. Er nahm das zur Kenntnis, warf die Post auch nicht weg, sondern legte eine über die andere auf einen Wandsims neben dem Ofen, aber antwortete nie. Und dann, sowieso, einige Wochen nach Jessirs Erschießung in Afghanistan, klopft es wieder an die Tür. Es sind aber nicht nur neun Monate seit der Trennung vergangen; unterdessen ist zu viel geschehen, um das wahrscheinlich zu machen. Sondern vielleicht drei ganze Jahre, vielleicht fünf. Es kommt darauf nicht an.
Er sieht den Bauch der Geliebten. Jessirs Baby. „Und mach endlich“, sagt sie, „die Tür zu. Ich darf mich nicht erkälten.“
Dianamaria. Die Geschehen wiederholen sich. Sie wiederholen sich nicht, sondern finden eine Variante, in der sie werden können. Ob mit der Lydierin oder Wiebke, mit Lenz oder mir, ob mit Dir oder Gerald – das ist ihnen völlig gleich:
Hebe, Geliebte, Deinen rechten Arm. Noch etwas höher, bitte. Siehst Du? Ich seh in Deiner Achselhöhle das Schicksal, und nicht nur meines, nein.
Bitte. Bitte gib mir Dein Ohr.
A.
*
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Die pure Sinnlosigkeit, müßten wir sagen. Jaja, Geliebte, Du hast recht: Es sind nicht wenige, die ihres solchen Kummers wegen eingehen. Doch ist nicht mein Anliegen seit je gewesen, die Realität in Grenzen zu weisen und gegen ihre Wahrscheinlichkeiten anzuschreiben, schon weil sich die meisten Menschen ihnen beugen?
So sei mir meine Muse wieder und führe meine Hand, daß sie einen Strich durch den letzten Teil unserer Erzählung mache! Denn was Wiebke und Gerald anbelangt, und das Glück ihres Töchterchens, so verspreche ich Dir, einen anderen Weg zu finden, die kleine Familie wieder zusammenzubringen. Auch das, seit ich dichte, ist mir ein Anliegen gewesen: die Trennung meiner Eltern rückgängig zu machen, nicht faktisch, nein, wie sollte ich? doch in meinem eigenen, a l s mein eigenes Leben. Einmal, immerhin, hab ich das schon versiebt...
Auch darum geht es: uns über unsere Strukturen zu erheben, wie auch immer sie auf uns übergegangen sein mögen. Vielleicht hat auch Dich das, Liebste, nur in die Gegenrichtung, geleitet, und eine damit, die mich ausschloß. Ich stell es mir so vor, daß wir unsre Kinder an uns heilen lassen, dem, was wir ihnen, sind wir weniger bewußt, aus dem weitergeben, was uns selber geformt hat, worunter wir schon litten.
Nein, besser, Lenz kehrt in sein Grenzhäuschen zurück, was bedeutet, daß er‘s gar nicht erst verläßt, sondern da noch, als Wiebke ein zweites Mal dort auftaucht, der eremitische Mauerkopf bleibt, zu dem er unterdessen wurde. Überdies wird das dem neuen Käufer des Häuschens ein Sìdheschicksal ersparen, das nicht weniger beklemmend würde als Lenzens; im Gegenteil: In einem Fantasy- oder Horrorstreifen sähen wir am Ende die mythische Frau das Leben aus ihm saugen. Lenz hingegen, immerhin, ist mittlerweile vorbereitet und hat die Kraft errungen, seinem Succubus zu bestehen. Stünden sie nun Stirn an Stirn, glühten beider Augen. Nein, Schönste, das glaube ich nicht, daß er abermals schwachwerden würde. Ich weiß, so hab ich es früher geschrieben. Aber sieh ihn Dir an! Er würde sie statt dessen p a c k e n.... liebend, selbstverständlich, aber bestimmt. Da käm es nur noch dann drauf an, ihn wieder Geld verdienen zu lassen, um aus seiner Alimentierung herauszukommen, die man einer wie der Lydierin nicht zumuten darf, auf keinen Fall auf Dauer. Sonst verlöre sie d o c h noch die Achtung, und Du weißt, wie grausam Frauen dann werden. Nicht alle, zugegeben, aber solche; sogar, wahrscheinlich, die meisten.
Andererseits bin ich mir leider sicher, daß ich, wenn ich – das wird nun wahrscheinlich im März sein, und ich fürchte mich davor – für alle Orte der Geschehen nach Triest fliegen und mir einen Wagen mieten werde, um an der slovenischen Grenze Lenzens Häuschen zu suchen, zwar eines finden werden, aber so saniert, wie es der neue Käufer im Sinn gehabt hat, den wir nun durchgestrichen haben, um ihn vor der Lydierin zu schützen. Meine Güte, diese Macht der Briefe! Und dennoch ist die Realität fast immer schneller als wir, die wir hoffen.
Ich werde nicht aufgeben, Liebste, werde weiter mit dem Kopf an die Wand – nicht hindurch, neinnein! doch mag‘s längst sein, auch wenn ich sie nicht sehe, daß sie schon Risse davon hat. Und dann, eines Tages, lugst Du durch die hindurch... vorsichtig freilich... ob Du mich sehen kannst. Und schaust, ob ich noch will nach derart langer Zeit. - Wäre ich Lenz, ich hätte es vielleicht für eine Prüfung gehalten. Nicht Götter allein setzen uns Versuchungen aus, nicht nur der Markt... die Frauen vielleicht a u c h.
Jedenfalls hat Lenz sein Häuschen n i c h t aufgegeben. Ich meine, so dumm ist er nicht, nicht zu wissen, was in Berlin von ihm erwartet würde und daß er nicht imstande wäre, vor allem, es nicht sein will, dem zu genügen. Zöge umgekehrt Wiebke nach Triest, wäre es vielleicht etwas anderes; man säh sich dann von Zeit zu Zeit, gern zuweilen über Nacht. Das hätte auch der Lebensweise entsprochen, die längst die ihre war. Weil sie ja eben Gerald noch liebte und weil sie sich eine zweite wirkliche Ehe nicht vorstellen konnte, überhaupt nicht mehr: Ehe. So autark war sie über diese Form der Partnerschaft hinausgewachsen. - Aber sie wollte die Tochter von Gerald nicht entfernen. Außerdem, die Schule; das Mädchen hätte Italienisch lernen müssen, wäre in den Leistungen erst einmal zurückgefallen. Daß sie den Vater nur noch in den Ferien sehen könnte, täte einiges Schlimme hinzu. - Nein, Herz. Es wäre unverantwortlich gewesen.
Also schrieb sie Lenz noch hin und wieder, nachdem sie zurück in Berlin war, eine Karte. Er nahm das zur Kenntnis, warf die Post auch nicht weg, sondern legte eine über die andere auf einen Wandsims neben dem Ofen, aber antwortete nie. Und dann, sowieso, einige Wochen nach Jessirs Erschießung in Afghanistan, klopft es wieder an die Tür. Es sind aber nicht nur neun Monate seit der Trennung vergangen; unterdessen ist zu viel geschehen, um das wahrscheinlich zu machen. Sondern vielleicht drei ganze Jahre, vielleicht fünf. Es kommt darauf nicht an.
Er sieht den Bauch der Geliebten. Jessirs Baby. „Und mach endlich“, sagt sie, „die Tür zu. Ich darf mich nicht erkälten.“
Dianamaria. Die Geschehen wiederholen sich. Sie wiederholen sich nicht, sondern finden eine Variante, in der sie werden können. Ob mit der Lydierin oder Wiebke, mit Lenz oder mir, ob mit Dir oder Gerald – das ist ihnen völlig gleich:
Hebe, Geliebte, Deinen rechten Arm. Noch etwas höher, bitte. Siehst Du? Ich seh in Deiner Achselhöhle das Schicksal, und nicht nur meines, nein.
Bitte. Bitte gib mir Dein Ohr.
A.
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albannikolaiherbst - Donnerstag, 15. Januar 2015, 16:17- Rubrik: Arbeitsjournal
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