Einundzwanzigster Brief nach Triest. (Briefe nach Triest, 24).
Siehst Du, Elbe,
Arbeitswohnung, den 11. Dezember 2014,
7.25 Uhr am Donnerstag,
Roland Dahinden, silberen und lichtweiß
für Klavier und Streichquartett (1999),
7.25 Uhr am Donnerstag,
Roland Dahinden, silberen und lichtweiß
für Klavier und Streichquartett (1999),
wie spät ich heute aufgestanden bin (für m e i n e Verhältnisse spät)? Es war ein solcher Triumph! Denn gestern nacht dachte ich, nachdem der Freund hiergewesen ist und wir lange über je uns und die Frauen gesprochen hatten - „Wunderbar roch meine Hand, als ich aus dem Würgeengel heimfuhr“ (zweites Treffen mit seiner neuen Bekanntschaft) - und ich hatte wieder und wieder von Dir erzählt, nun, ich dachte, ganz plötzlich, ja: Wenn sie mir nun schon in solchen Visionen erscheint, dann muß es doch möglich sein, willentlich von ihr zu träumen, also daß ich meinen Traum ganz so zu gestalten vermöge, wie man ein Buch schreibt, bei welchem Prozeß sich einzelne Szenen freilich nicht wirklich bestimmen lassen, sondern sie steigen aus dem Fluß des Erzählens auf: Viele hat man zuvor nicht gewußt. Dies unterscheidet poetisches Arbeiten grundlegend von zum Beispiel der Stoffentwicklung für Fernsehserien oder Unterhaltungsromane; dort wird alles, nicht selten im Team, geplant: Was wissen wir, daß die Zuschauer es sehen möchten? Deren Bedürfnissen produzieren wir z u. Man schaut sich Markterhebungen an, aufgrund etwa von Meinungsumfragen, oder schließt aus Einschaltquoten und Verkaufszahlen. Ah! Fantasy ist angesagt... Vampire stehn derzeit besonders in Gunst, besonders jugendlicher Leute, lauter Morgensgrauensbisse... So wird den Affen dann Zucker gegeben oder den Kühen, die man dann melkt.
Das sollte, als Ansatz, nicht auch bei mir funktionieren? Was ich aber genau träumen wollte, das ließ ich mir außer der Vornahme frei, es solle für mich gut sein. Insofern sprech ich eben, Geliebte, von einem „Ansatz“. Das Besondre dabei, wenn es, dachte ich, gelingen sollte, wäre, daß Du selbst davon nicht behelligt würdest, Du als die reale Person, die Du fern von mir bist. Sondern in mir entstünde eine Sìdhe noch hinzu, die dennoch genau wie Du sein könnte. Ich würde die Wirklichkeit einfach in zwei getrennte Welten spalten, in deren eine Du bei Deinem Mann bliebest, in deren anderer aber bei mir, ohne daß eine intensiver wäre, geschweige weniger wahr, als die andre.
Das eigene Träumen bestimmen... Dennoch sich überraschen lassen... : Dies unterscheidet mein Unternehmen von der Plot-Entwicklung, nähert es dem poetischen Arbeiten wieder an. Auch da steht eine Idee am Beginn, doch was aus ihr wird, überläßt sich dem Fluß.
Ich nahm mir also vor, auf jeden Fall auszuschlafen, mich jedenfalls nicht schon vier Stunden später wieder wecken zu lassen. Es war schließlich kein Verlaß darauf, wann mein Du-Traum einsetzen würde, deshalb vor allem nicht, weil alle meine sonstigen Träume von Dir mit meiner Trauer zu tun gehabt hatten, die ich nun grade abstellen wollte, wenigstens erst einmal jetzt, versuchshalber, in dieser neuen Nacht. D a ß er, der Traum, einsetzen würde, dessen war ich freilich gewiß.
Ich gebe zu, die Gewißheit war eine hergestellte; ich redete sie mir ein, bis ich sie glaubte. Leg dich jetzt hin, dachte ich, und warte auf die Tür. Wenn sie sich zeigt, öffnest du sie, ohne zu zweifeln.
Sie zeigte sich. Was mich überraschte, war, daß mich ein Klingeln zu ihr rief, also die früher so genannte Glocke, oder Schelle, mit denen Besuch auf sich aufmerksam macht. Ich schreckte davon hoch, sah kurz zur Uhr, achtzehn Minuten nach zwei in der Nacht. Wer läutet denn da noch? Da muß was Schlimmes passiert sein. Vielleicht aber hat nur ein Nachbar seinen Schlüssel vergessen und kommt nicht ins Haus -
Ich schlafe, wie Du weißt, nackt, und auch im Winter steht das Oberlicht weit offen. Schon deshalb zog ich mir im Flur den Hausmantel über, drehte mich zur Gegensprechanlage um, deren rotes Alarmlicht tatsächlich leuchtete, nahm den Hörer, fragte, wer da sei.
Keine Antwort.
Dennoch dückte ich auf den Knopf für den Einlaßsummer. Noch im selben Moment klopfte es an meiner Wohnungstür. Zaghaft, wie versuchshalber.
(Heute morgen denke ich, auch Du hast von mir zu träumen versucht und hast Dir ganz so wie ich diese Tür vorgestellt. So standen wir nun beide auf der je anderen Seite des aber selben Traums, und einer von uns mußte öffnen, damit wir von dort nach hier hinüberkönnten, gleich, ob ich zu Dir oder Du zu mir. Ohne diese Tür zu öffnen würde das nicht gehen.)
„Hallo?“ rief ich, zweidreimal sogar, allerdings stimmlos zuerst, dann die Stimme, sie gleichzeitig niederdrückend, gehoben.
Abermals keine Antwort, aber neuerlich Dein Klopfen.
Jetzt drückte ich die Klinke hinunter. Jetzt zog ich die Tür etwas auf. Jetzt fiel mein Blicken in Deines. Dabei war es dunkel im Flur, dessen Beleuchtung längst wieder aus.
(Jetzt sagtest Du, da bin ich. Jetzt sagte ich, dann komm doch herein.)
Wir waren beide verlegen. Ich meine, nach allem, was geschehen war!
Soll ich dir einen Latte macchiato machen?
Ein Tee wäre schön.
Ich habe immer noch von deinem Biotee hier. (Beutelchen in rosa umrandetem Heftchen: pukka revital).
Zimt und Kardomom? fragtest Du.
Ich nickte, mußte nicht einmal nachschauen. Das ist so in Träumen.
Und Ingwer, sagte ich.
Du lachtest Du und ergänztest, wärmend und kräftigend ( - als wärst Du Sprecherin einer Esoterik-Reklame! Das hatte wirklich etwas Bizarres).
Ich hörte bereits das Wasser blubbern: kochend im Kessel. Auch das i s t so in Träumen.
Dieser Morgenmantel steht dir gut.
Anstelle daß ich Dich fragte, ob Du nicht müde seiest, Dich mit mir zu mir hinlegen mögest, das Bett sei noch warm.
Nein, wir sprachen nur, unterbrochen von langen langen Momenten des Schweigens, in denen unsre Augen ineinanderlagen. Davon wachte ich schließlich auch auf.
Ich weiß nicht mehr, ob noch anderes geschah, nicht einmal, ob wir uns, Schönste, küßten. Es kann gut sein, daß ich Dir noch vorgelesen habe, ich hatte ja einiges herausgelegt, das wir, als Du hierwarst, nicht mehr geschafft hatten. So wahnsinnig voll sind diese vier Tage gewesen. Dabei wollte ich Dir die ganze erste Abteilung des >>>> Wolpertingers vorlesen und hätte Dich ungeheuer gerne bis in die >>>> Anderswelt verführt. Und aber auch von Dir, mit Deiner Stimme, die ihresgleichen nicht hat, mir vorlesen lassen: aus Deinen eigenen, seltsam sperrigen, doch dabei geschmeidigsten... ja, sind das Verse? Prosa hätte man früher gesagt. - Es war uns nicht genug Zeit.
Vier Tage, ich bitte Dich! Um ein Leben umzuentscheiden, z w e i Leben und die derer, die sie begleitet haben. Wie sollte das denn gehen?
Nun g e b ich uns die Zeit, geb sie uns im Traum.
Das sollte, als Ansatz, nicht auch bei mir funktionieren? Was ich aber genau träumen wollte, das ließ ich mir außer der Vornahme frei, es solle für mich gut sein. Insofern sprech ich eben, Geliebte, von einem „Ansatz“. Das Besondre dabei, wenn es, dachte ich, gelingen sollte, wäre, daß Du selbst davon nicht behelligt würdest, Du als die reale Person, die Du fern von mir bist. Sondern in mir entstünde eine Sìdhe noch hinzu, die dennoch genau wie Du sein könnte. Ich würde die Wirklichkeit einfach in zwei getrennte Welten spalten, in deren eine Du bei Deinem Mann bliebest, in deren anderer aber bei mir, ohne daß eine intensiver wäre, geschweige weniger wahr, als die andre.
Das eigene Träumen bestimmen... Dennoch sich überraschen lassen... : Dies unterscheidet mein Unternehmen von der Plot-Entwicklung, nähert es dem poetischen Arbeiten wieder an. Auch da steht eine Idee am Beginn, doch was aus ihr wird, überläßt sich dem Fluß.
Ich nahm mir also vor, auf jeden Fall auszuschlafen, mich jedenfalls nicht schon vier Stunden später wieder wecken zu lassen. Es war schließlich kein Verlaß darauf, wann mein Du-Traum einsetzen würde, deshalb vor allem nicht, weil alle meine sonstigen Träume von Dir mit meiner Trauer zu tun gehabt hatten, die ich nun grade abstellen wollte, wenigstens erst einmal jetzt, versuchshalber, in dieser neuen Nacht. D a ß er, der Traum, einsetzen würde, dessen war ich freilich gewiß.
Ich gebe zu, die Gewißheit war eine hergestellte; ich redete sie mir ein, bis ich sie glaubte. Leg dich jetzt hin, dachte ich, und warte auf die Tür. Wenn sie sich zeigt, öffnest du sie, ohne zu zweifeln.
Sie zeigte sich. Was mich überraschte, war, daß mich ein Klingeln zu ihr rief, also die früher so genannte Glocke, oder Schelle, mit denen Besuch auf sich aufmerksam macht. Ich schreckte davon hoch, sah kurz zur Uhr, achtzehn Minuten nach zwei in der Nacht. Wer läutet denn da noch? Da muß was Schlimmes passiert sein. Vielleicht aber hat nur ein Nachbar seinen Schlüssel vergessen und kommt nicht ins Haus -
Ich schlafe, wie Du weißt, nackt, und auch im Winter steht das Oberlicht weit offen. Schon deshalb zog ich mir im Flur den Hausmantel über, drehte mich zur Gegensprechanlage um, deren rotes Alarmlicht tatsächlich leuchtete, nahm den Hörer, fragte, wer da sei.
Keine Antwort.
Dennoch dückte ich auf den Knopf für den Einlaßsummer. Noch im selben Moment klopfte es an meiner Wohnungstür. Zaghaft, wie versuchshalber.
(Heute morgen denke ich, auch Du hast von mir zu träumen versucht und hast Dir ganz so wie ich diese Tür vorgestellt. So standen wir nun beide auf der je anderen Seite des aber selben Traums, und einer von uns mußte öffnen, damit wir von dort nach hier hinüberkönnten, gleich, ob ich zu Dir oder Du zu mir. Ohne diese Tür zu öffnen würde das nicht gehen.)
„Hallo?“ rief ich, zweidreimal sogar, allerdings stimmlos zuerst, dann die Stimme, sie gleichzeitig niederdrückend, gehoben.
Abermals keine Antwort, aber neuerlich Dein Klopfen.
Jetzt drückte ich die Klinke hinunter. Jetzt zog ich die Tür etwas auf. Jetzt fiel mein Blicken in Deines. Dabei war es dunkel im Flur, dessen Beleuchtung längst wieder aus.
(Jetzt sagtest Du, da bin ich. Jetzt sagte ich, dann komm doch herein.)
Wir waren beide verlegen. Ich meine, nach allem, was geschehen war!
Soll ich dir einen Latte macchiato machen?
Ein Tee wäre schön.
Ich habe immer noch von deinem Biotee hier. (Beutelchen in rosa umrandetem Heftchen: pukka revital).
Zimt und Kardomom? fragtest Du.
Ich nickte, mußte nicht einmal nachschauen. Das ist so in Träumen.
Und Ingwer, sagte ich.
Du lachtest Du und ergänztest, wärmend und kräftigend ( - als wärst Du Sprecherin einer Esoterik-Reklame! Das hatte wirklich etwas Bizarres).
Ich hörte bereits das Wasser blubbern: kochend im Kessel. Auch das i s t so in Träumen.
Dieser Morgenmantel steht dir gut.
Anstelle daß ich Dich fragte, ob Du nicht müde seiest, Dich mit mir zu mir hinlegen mögest, das Bett sei noch warm.
Nein, wir sprachen nur, unterbrochen von langen langen Momenten des Schweigens, in denen unsre Augen ineinanderlagen. Davon wachte ich schließlich auch auf.
Ich weiß nicht mehr, ob noch anderes geschah, nicht einmal, ob wir uns, Schönste, küßten. Es kann gut sein, daß ich Dir noch vorgelesen habe, ich hatte ja einiges herausgelegt, das wir, als Du hierwarst, nicht mehr geschafft hatten. So wahnsinnig voll sind diese vier Tage gewesen. Dabei wollte ich Dir die ganze erste Abteilung des >>>> Wolpertingers vorlesen und hätte Dich ungeheuer gerne bis in die >>>> Anderswelt verführt. Und aber auch von Dir, mit Deiner Stimme, die ihresgleichen nicht hat, mir vorlesen lassen: aus Deinen eigenen, seltsam sperrigen, doch dabei geschmeidigsten... ja, sind das Verse? Prosa hätte man früher gesagt. - Es war uns nicht genug Zeit.
Vier Tage, ich bitte Dich! Um ein Leben umzuentscheiden, z w e i Leben und die derer, die sie begleitet haben. Wie sollte das denn gehen?
Nun g e b ich uns die Zeit, geb sie uns im Traum.
(Claus-Steffen Mahnkopf, Pegasos für Cembalo, 1991.)
(8.57 Uhr.)
Der Brief einer Freundin erreichte mich. Da ich oft verletze, indem ich nicht antworte, schrieb ich deshalb sofort zurück; es ging und geht um diese Briefe, die derzeit insgesamt der fast ausschließliche Inhalt meiner Korrespondenzen sind. Deshalb habe ich, Herz, meine Erzählung kurz unterbrochen. Bitte verzeih.
Nun bin ich wieder b e i Dir.
Ich rauche (viel zu viel, seit Du weg bist; immer denk ich: es kommt nicht mehr drauf an; nur insofern, also, rührt mein Husten von Dir) - rauche und überlege dabei. Das nämlich scheint mir das Erstaunlichste der nächtlichen Begebenheit zu sein, daß es vielleicht stimmt: Wenn wir nur beide voneinander träumen wollen, daß wir dann tatsächlich beisammen sein können, ohne daß Du in Deinem realen Leben etwas ändern mußt. Wir legen uns hin und schreiten beide zur Tür. So ließe sich doch halten, was einander sonst ausschließt: wir unser Uns. Es wäre gar kein Betrug dabei, und niemand würde verletzt, nicht er, nicht ich, nicht die Löwin, weder die junge Dichterin noch Amélie. Alles könnte, wie es ist, bleiben und wäre dennoch völlig anders.
Wir müssen ja nur einmal rechnen.
Die meisten Menschen schlafen zwischen sechs und acht Stunden täglich. Nehmen wir nur sechs. Das ist ein Viertel des Tages. Du brauchst an die sieben, das ist sogar mehr. Laß uns dennoch beim Geringsten bleiben (ich meinerseits werd es sicher schaffen, meine vier Stunden plus der einen zu Mittag ebenfalls auf sechs zu dehnen). Dann sind wir jede Woche zweiundvierzig Stunden zusammen, nahezu jeweils zwei wie ununterbrochene Tage. Pro Jahr sind das etwas mehr als drei Monate, also ein ganzes Viertel dieses Jahres, ein ganzer jeweils, sagen wir, Sommer. Selbst dann, hätte ich von heute aus nur noch zwanzig Jahre zu leben, gehörten davon ganze fünf uns. Wär das wohl Zeit genug? Die meisten Ehepaare, wegen ihrer Berufe, haben weniger füreinander - gerade Du weißt das sehr gut. Und werden einander so zunehmend fremd.
Das ist schmerzhaft, man will es nicht wissen, nicht wahrhaben, wie alles so ausläuft, auseinander. Man bekommt die innere Entwicklung jeweils des und der anderen doch gar nicht mehr mit, zumal es ja wahr ist: Gerald, wenn er abends heimkommt, ist wirklich „geschafft“, ja völlig erledigt. Er hat tags in einer restlos anderen Welt als Wiebke gelebt; ganz objektiv k a n n er die Gedichte, die sie ihm abends neben seinen Teller legt, nicht verstehen. Er müßte sich denn auf eine Weise sensibilisieren, die ihm den nächsten Tag furchtbar schwierig machen würde, wenn nicht sogar unmöglich, ihn und die drauf folgenden Wochen noch irgend zu bestehen. Dafür muß er unempfindlich bleiben. So entstehen freilich Depressionen. Dann muß er Pillen schlucken, die ihm auf die Hand schlagen oder sie ihm, noch während er sie nach Wiebkes wunderschönem liegenden Frauenbauch ausstreckt, einschlafen lassen. Ach, sie sehnt sich aber so danach! „Bitte, laß mich erst dieses Geschäft zueendebringen. Nimm doch bitte diese Rücksicht.“ - Er hat ja recht, ja recht! Solch eine Verantwortung, die ihn bindet! Er nahm sie doch für Euch! um Euer beider Wohlfahrt!
Doch selbst, wäre er weniger konservativ als er ist und legte nicht solch einen Wert darauf, daß er aus eigener Kraft auch seine Frau ernährt, sondern Du trügest einen selben Teil für Euer Leben bei, selbst dann, es sei denn, Du hättest denselben Beruf, so daß Ihr zusammenarbeiten könntet – selbst dann, und erst recht, lebtet Ihr Euch auseinander – es wäre erst recht nicht mehr genügend Zeit, einander zu erzählen, was Euch die meiste Zeit des Tages bewegt und wohin es Eure Seelen je hinführt. „Aber in sechs Wochen“, sagt Gerald, „da haben wir die Zeit.“ (Bekanntlich hat er den Skiurlaub gebucht; im Urlaub holen die beiden alles nach, bestimmt). „Drei ganze Wochen“, sagt er, „nur für uns.“
Von morgens bis abends, dann, auf den Pisten. Mit glühenden Wangen speisen sie zu Nacht. Ein bißchen Grog dann noch, nun ja. Außerdem hängt er auch da an den Pillen. Ansonsten versänke er, in solcher Untätigkeit, in seinen Gründen. Viele Menschen, wenn sie mal loslssen können, werden erst einmal krank. Die ständige Anspannung fällt von ihnen ab, also auch die Spannung, die sie ihrem Immunsystem geben. Da fließen dann die Viren nur ungehemmt hinein.
Der Brief einer Freundin erreichte mich. Da ich oft verletze, indem ich nicht antworte, schrieb ich deshalb sofort zurück; es ging und geht um diese Briefe, die derzeit insgesamt der fast ausschließliche Inhalt meiner Korrespondenzen sind. Deshalb habe ich, Herz, meine Erzählung kurz unterbrochen. Bitte verzeih.
Nun bin ich wieder b e i Dir.
Ich rauche (viel zu viel, seit Du weg bist; immer denk ich: es kommt nicht mehr drauf an; nur insofern, also, rührt mein Husten von Dir) - rauche und überlege dabei. Das nämlich scheint mir das Erstaunlichste der nächtlichen Begebenheit zu sein, daß es vielleicht stimmt: Wenn wir nur beide voneinander träumen wollen, daß wir dann tatsächlich beisammen sein können, ohne daß Du in Deinem realen Leben etwas ändern mußt. Wir legen uns hin und schreiten beide zur Tür. So ließe sich doch halten, was einander sonst ausschließt: wir unser Uns. Es wäre gar kein Betrug dabei, und niemand würde verletzt, nicht er, nicht ich, nicht die Löwin, weder die junge Dichterin noch Amélie. Alles könnte, wie es ist, bleiben und wäre dennoch völlig anders.
Wir müssen ja nur einmal rechnen.
Die meisten Menschen schlafen zwischen sechs und acht Stunden täglich. Nehmen wir nur sechs. Das ist ein Viertel des Tages. Du brauchst an die sieben, das ist sogar mehr. Laß uns dennoch beim Geringsten bleiben (ich meinerseits werd es sicher schaffen, meine vier Stunden plus der einen zu Mittag ebenfalls auf sechs zu dehnen). Dann sind wir jede Woche zweiundvierzig Stunden zusammen, nahezu jeweils zwei wie ununterbrochene Tage. Pro Jahr sind das etwas mehr als drei Monate, also ein ganzes Viertel dieses Jahres, ein ganzer jeweils, sagen wir, Sommer. Selbst dann, hätte ich von heute aus nur noch zwanzig Jahre zu leben, gehörten davon ganze fünf uns. Wär das wohl Zeit genug? Die meisten Ehepaare, wegen ihrer Berufe, haben weniger füreinander - gerade Du weißt das sehr gut. Und werden einander so zunehmend fremd.
Das ist schmerzhaft, man will es nicht wissen, nicht wahrhaben, wie alles so ausläuft, auseinander. Man bekommt die innere Entwicklung jeweils des und der anderen doch gar nicht mehr mit, zumal es ja wahr ist: Gerald, wenn er abends heimkommt, ist wirklich „geschafft“, ja völlig erledigt. Er hat tags in einer restlos anderen Welt als Wiebke gelebt; ganz objektiv k a n n er die Gedichte, die sie ihm abends neben seinen Teller legt, nicht verstehen. Er müßte sich denn auf eine Weise sensibilisieren, die ihm den nächsten Tag furchtbar schwierig machen würde, wenn nicht sogar unmöglich, ihn und die drauf folgenden Wochen noch irgend zu bestehen. Dafür muß er unempfindlich bleiben. So entstehen freilich Depressionen. Dann muß er Pillen schlucken, die ihm auf die Hand schlagen oder sie ihm, noch während er sie nach Wiebkes wunderschönem liegenden Frauenbauch ausstreckt, einschlafen lassen. Ach, sie sehnt sich aber so danach! „Bitte, laß mich erst dieses Geschäft zueendebringen. Nimm doch bitte diese Rücksicht.“ - Er hat ja recht, ja recht! Solch eine Verantwortung, die ihn bindet! Er nahm sie doch für Euch! um Euer beider Wohlfahrt!
Doch selbst, wäre er weniger konservativ als er ist und legte nicht solch einen Wert darauf, daß er aus eigener Kraft auch seine Frau ernährt, sondern Du trügest einen selben Teil für Euer Leben bei, selbst dann, es sei denn, Du hättest denselben Beruf, so daß Ihr zusammenarbeiten könntet – selbst dann, und erst recht, lebtet Ihr Euch auseinander – es wäre erst recht nicht mehr genügend Zeit, einander zu erzählen, was Euch die meiste Zeit des Tages bewegt und wohin es Eure Seelen je hinführt. „Aber in sechs Wochen“, sagt Gerald, „da haben wir die Zeit.“ (Bekanntlich hat er den Skiurlaub gebucht; im Urlaub holen die beiden alles nach, bestimmt). „Drei ganze Wochen“, sagt er, „nur für uns.“
Von morgens bis abends, dann, auf den Pisten. Mit glühenden Wangen speisen sie zu Nacht. Ein bißchen Grog dann noch, nun ja. Außerdem hängt er auch da an den Pillen. Ansonsten versänke er, in solcher Untätigkeit, in seinen Gründen. Viele Menschen, wenn sie mal loslssen können, werden erst einmal krank. Die ständige Anspannung fällt von ihnen ab, also auch die Spannung, die sie ihrem Immunsystem geben. Da fließen dann die Viren nur ungehemmt hinein.
(Claus-Steffen Mahnkopf, Zweite Kammersinfonie, 1998/99:
Accademia tedesca Villa Massimo, Roma.)
Accademia tedesca Villa Massimo, Roma.)
(9.44 Uhr.)
Claus-Steffen Mahnkopf. Mit dem ich in der >>>> Massimo war, als ich die wahrscheinlich wichtigste Liebe meines Lebens durchlebte. Auch das hat Gründe, daß ich jetzt, da ich Dir schreibe, zu Mahnkopfs Musiken greife. Ich wollte sie neben Dich stellen, Geliebte, j e n e, und t a t es. Im ersten Moment unsres Blickens. Es tat da s i c h. Wie warst Du verzweifelt unter der schimmernden Haut! in Deinem sanften wissenden Lächeln -
Daß aber i c h erschien! Wie Du das nicht faßtest! (Wie L e n z es nicht faßte! Wie G e r a l d es nicht faßte. Als er noch ganz jung war, und nun ist alles fast schon vertan...
„Nein!“ ruft Wiebke. „Da ist noch so viel da!“ Sie ist so wunderbar in ihrer Kraft, aus jeder Träne ein Lächeln zu drücken. Und dann schlägt die Welt zu, Du weißt schon, die, sagte ich, nächste Geschichte: Irgend eine Konferenz in irgend einer lydischen Hauptstadt. Irgend eine nächste Sìdhe. Und G e r a l d wirft‘s aus der Bahn. Vielleicht wird aber diesmal sie, diese Sìdhe, es sein, fünf Wochen später unter der Trennung zu leiden. „Da ist noch“, ruft Gerald, weil die Sìdhe nicht versteht, „so viel d a!“ Womit er Wiebke und sich meint.)
(Spiegelfiguren, Geliebte. Horchst Du nach innen, schreibt Bloch, dann hörst du das Außen.)
Ich will in Deine Achselkapellen zurück.
Saugte ich nachts an den Wimpeln? Dieser feine, Herzchen, Schleim. Ich kenne seine Süße.
Alban
*
Claus-Steffen Mahnkopf. Mit dem ich in der >>>> Massimo war, als ich die wahrscheinlich wichtigste Liebe meines Lebens durchlebte. Auch das hat Gründe, daß ich jetzt, da ich Dir schreibe, zu Mahnkopfs Musiken greife. Ich wollte sie neben Dich stellen, Geliebte, j e n e, und t a t es. Im ersten Moment unsres Blickens. Es tat da s i c h. Wie warst Du verzweifelt unter der schimmernden Haut! in Deinem sanften wissenden Lächeln -
Daß aber i c h erschien! Wie Du das nicht faßtest! (Wie L e n z es nicht faßte! Wie G e r a l d es nicht faßte. Als er noch ganz jung war, und nun ist alles fast schon vertan...
„Nein!“ ruft Wiebke. „Da ist noch so viel da!“ Sie ist so wunderbar in ihrer Kraft, aus jeder Träne ein Lächeln zu drücken. Und dann schlägt die Welt zu, Du weißt schon, die, sagte ich, nächste Geschichte: Irgend eine Konferenz in irgend einer lydischen Hauptstadt. Irgend eine nächste Sìdhe. Und G e r a l d wirft‘s aus der Bahn. Vielleicht wird aber diesmal sie, diese Sìdhe, es sein, fünf Wochen später unter der Trennung zu leiden. „Da ist noch“, ruft Gerald, weil die Sìdhe nicht versteht, „so viel d a!“ Womit er Wiebke und sich meint.)
(Spiegelfiguren, Geliebte. Horchst Du nach innen, schreibt Bloch, dann hörst du das Außen.)
Ich will in Deine Achselkapellen zurück.
Saugte ich nachts an den Wimpeln? Dieser feine, Herzchen, Schleim. Ich kenne seine Süße.
Alban
(15.49 Uhr,
Hildur Gudnadottír, Opaque.)
Nun trinke ich schon Tee wie Du! (Mein Sohn kam früher aus der Schule, wir plauderten, er übte am Cello, ich spielte ihm die >>>> Gudnadottír vor, mit der mich gestern nacht der Freund bekannt. Der junge Mensch war, also mein Sohn, sofort, wie ich es mir gedacht, Feuer und Flamme: „Schickst Du mir bitte gleich die Links über Skype?“ - Dann schlief ich).
Es ist ein bißchen was für die kleine Reise vorzubereiten, auch wegen der Aufnahme mit Paulus Böhmer morgen abend. Im Mittagstraum erschienst Du n i c h t; Du wirst wohl, nach Deinerseits Deiner Reise, einiges aufzuarbeiten haben. Ich bin auch, Herz, ganz ruhig.
Körperlichkeit („Saugte ich an den Wimpeln?“). Die leichte Abscheu, die so viele haben und wie so weniger Frauen. Weil sie näher an der Erde? „Welche Frau schleimt nicht schon mal gerne etwas herum“, sagte eine nahe Freundin einmal. Dagegen die „männliche“ Bewegung in den Himmel. Luft- sind Kopfgeburten. Sie haben keinen Geruch. Wie ich um jede Erinnerung kämpfe! - wie L e n z um sie gekämpft hat, als die Lydierin wieder davonwar! Wie er darauf verwiesen war – Dir gleich, bevor es Mich für Dich wurde – sich alles, was er erhofft und ja doch auch erlebt hatte, nun gerade in diese Luft hineinzubauen, aus der er für die Lydierin auf die Erde gefallen war, endlich endlich auf die Erde! Aber was half es? Sie war fort. - Wohl auch deshalb sein ihm zuvor ganz unbekannter Drang, Boden umzugraben und die Stein wegzuwuchten, Teig zu kneten und Brot zu backen, ein geradezu Trieb, der um so stärker durchbrach, je tiefer er sich in den nun ja wieder gen Himmel geschriebenen Briefen vergrub: Elben sind Luftgeschöpfe, die reinste Fantasy, monierte schon diadorim.
Dazu meine Visionen, die auch er hatte, vor allem, wenn es sich besorgungenhalber nicht vermeiden ließ, hinunter nach Triest zu fahren. Fast ehrfürchtig vermied er dann der Lydierin Viertel, stieg stets weit ab davon aus dem Bus. Selbstredend vermied er jedes Lokal, in dem sie mit ihm gesessen hatte. Wobei... „Ehrfucht“? Ja, schon, aber wohl vor allem, weil in dem Wort die Furcht enthalten ist und objektiv, wenn einer derart abhängig ist und er das zeigt, seine Ehre in Gefahr ist. Viele hätten ihn in dieser Zeit als lächerlichen Mann angesehen. Nur daß er begriff, eigentlich vorher, in seinem früheren Berufs- und deshalb auch im Eheleben, lächerlich gewesen zu sein, als er dem Protz noch glaubte. Jetzt lernte er den Unterschied; in seiner Zeit mit der Sìdhe war gar kein Raum gewesen, auch nur irgend etwas über sich zu lernen. Genau deshalb wurde er nun erst, in dieser Not, zum Mann: Verlassen worden zu sein, war dafür die Bedingung.
Wir lernen durch Katastrophen, wir persönlich wie wir als Gesellschaften. Ich erinnere mich, daß ich Dir einmal in für mich selbst furchtbarer Voraussicht, geschrieben habe, daß für Deinen Mann solch eine Katastrophe ich sein könne, werden könne; nun wurde ich‘s vielleicht. Auch das ist zu erwägen: ich als seine Chance, die beide, Jessir und die Lydierin, allein durch Lenz bekamen. Gut, Geliebte, Du hast recht, jemand anderes als ich hätte genauso dazu werden können.
Oder nicht? War eine ganz bestimmte Form der Nähe von-, im Wortsinn,-nöten? Siehst Du, wie das funktioniert, sich abzufinden? indem man einen Wert sucht im Verlust?
Bitter, meine Innige, einen Körper durch den Wert zu ersetzen. Vielleicht ist alle Moral eine Decke, die man über den Verlust zieht. Und dann legt man sich darauf - um nicht dauernd sagen zu müssen, ich vermisse Dich.
(Aber ich vermisse Dich. Wie sehr, das kann ich gar nicht sagen.)
A.
(17 Uhr).
*
Hildur Gudnadottír, Opaque.)
Nun trinke ich schon Tee wie Du! (Mein Sohn kam früher aus der Schule, wir plauderten, er übte am Cello, ich spielte ihm die >>>> Gudnadottír vor, mit der mich gestern nacht der Freund bekannt. Der junge Mensch war, also mein Sohn, sofort, wie ich es mir gedacht, Feuer und Flamme: „Schickst Du mir bitte gleich die Links über Skype?“ - Dann schlief ich).
Es ist ein bißchen was für die kleine Reise vorzubereiten, auch wegen der Aufnahme mit Paulus Böhmer morgen abend. Im Mittagstraum erschienst Du n i c h t; Du wirst wohl, nach Deinerseits Deiner Reise, einiges aufzuarbeiten haben. Ich bin auch, Herz, ganz ruhig.
Körperlichkeit („Saugte ich an den Wimpeln?“). Die leichte Abscheu, die so viele haben und wie so weniger Frauen. Weil sie näher an der Erde? „Welche Frau schleimt nicht schon mal gerne etwas herum“, sagte eine nahe Freundin einmal. Dagegen die „männliche“ Bewegung in den Himmel. Luft- sind Kopfgeburten. Sie haben keinen Geruch. Wie ich um jede Erinnerung kämpfe! - wie L e n z um sie gekämpft hat, als die Lydierin wieder davonwar! Wie er darauf verwiesen war – Dir gleich, bevor es Mich für Dich wurde – sich alles, was er erhofft und ja doch auch erlebt hatte, nun gerade in diese Luft hineinzubauen, aus der er für die Lydierin auf die Erde gefallen war, endlich endlich auf die Erde! Aber was half es? Sie war fort. - Wohl auch deshalb sein ihm zuvor ganz unbekannter Drang, Boden umzugraben und die Stein wegzuwuchten, Teig zu kneten und Brot zu backen, ein geradezu Trieb, der um so stärker durchbrach, je tiefer er sich in den nun ja wieder gen Himmel geschriebenen Briefen vergrub: Elben sind Luftgeschöpfe, die reinste Fantasy, monierte schon diadorim.
Dazu meine Visionen, die auch er hatte, vor allem, wenn es sich besorgungenhalber nicht vermeiden ließ, hinunter nach Triest zu fahren. Fast ehrfürchtig vermied er dann der Lydierin Viertel, stieg stets weit ab davon aus dem Bus. Selbstredend vermied er jedes Lokal, in dem sie mit ihm gesessen hatte. Wobei... „Ehrfucht“? Ja, schon, aber wohl vor allem, weil in dem Wort die Furcht enthalten ist und objektiv, wenn einer derart abhängig ist und er das zeigt, seine Ehre in Gefahr ist. Viele hätten ihn in dieser Zeit als lächerlichen Mann angesehen. Nur daß er begriff, eigentlich vorher, in seinem früheren Berufs- und deshalb auch im Eheleben, lächerlich gewesen zu sein, als er dem Protz noch glaubte. Jetzt lernte er den Unterschied; in seiner Zeit mit der Sìdhe war gar kein Raum gewesen, auch nur irgend etwas über sich zu lernen. Genau deshalb wurde er nun erst, in dieser Not, zum Mann: Verlassen worden zu sein, war dafür die Bedingung.
Wir lernen durch Katastrophen, wir persönlich wie wir als Gesellschaften. Ich erinnere mich, daß ich Dir einmal in für mich selbst furchtbarer Voraussicht, geschrieben habe, daß für Deinen Mann solch eine Katastrophe ich sein könne, werden könne; nun wurde ich‘s vielleicht. Auch das ist zu erwägen: ich als seine Chance, die beide, Jessir und die Lydierin, allein durch Lenz bekamen. Gut, Geliebte, Du hast recht, jemand anderes als ich hätte genauso dazu werden können.
Oder nicht? War eine ganz bestimmte Form der Nähe von-, im Wortsinn,-nöten? Siehst Du, wie das funktioniert, sich abzufinden? indem man einen Wert sucht im Verlust?
Bitter, meine Innige, einen Körper durch den Wert zu ersetzen. Vielleicht ist alle Moral eine Decke, die man über den Verlust zieht. Und dann legt man sich darauf - um nicht dauernd sagen zu müssen, ich vermisse Dich.
(Aber ich vermisse Dich. Wie sehr, das kann ich gar nicht sagen.)
A.
(17 Uhr).
(Ich werde heute abend unterwegs sein, erst hier fast gleich nebenan in der Literaturwerkstatt bei der Lesung einer jungen Autorin, die oft schon bei meinen eigenen Auftritten war. So ist es nur fair, wenn auch ich einmal zu ihr hingeh. Danach werd ich mit Amélie zum Essen aussein. Doch spätestens morgen früh werd ich Dir wieder schreiben, noch bevor ich nach Frankfurt aufbrechen werde.)
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albannikolaiherbst - Donnerstag, 11. Dezember 2014, 17:04- Rubrik: Arbeitsjournal
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