Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop

e   Marlboro. Prosastücke, Postskriptum Hannover 1981   Die Verwirrung des Gemüts. Roman, List München 1983    Die blutige Trauer des Buchhalters Michael Dolfinger. Lamento/Roman, Herodot Göttingen 1986; Ausgabe Zweiter Hand: Dielmann 2000   Die Orgelpfeifen von Flandern, Novelle, Dielmann Frankfurtmain 1993, dtv München 2001   Wolpertinger oder Das Blau. Roman, Dielmann Frankfurtmain 1993, dtv München 2000   Eine Sizilische Reise, Fantastischer Bericht, Diemann Frankfurtmain 1995, dtv München 1997   Der Arndt-Komplex. Novellen, Rowohlt Reinbek b. Hamburg 1997   Thetis. Anderswelt. Fantastischer Roman, Rowohlt Reinbek b. Hamburg 1998 (Erster Band der Anderswelt-Trilogie)   In New York. Manhattan Roman, Schöffling Frankfurtmain 2000   Buenos Aires. Anderswelt. Kybernetischer Roman, Berlin Verlag Berlin 2001 (Zweiter Band der Anderswelt-Trilogie)   Inzest oder Die Entstehung der Welt. Der Anfang eines Romanes in Briefen, zus. mit Barbara Bongartz, Schreibheft Essen 2002   Meere. Roman, Marebuch Hamburg 2003 (Bis Okt. 2017 verboten)   Die Illusion ist das Fleisch auf den Dingen. Poetische Features, Elfenbein Berlin 2004   Die Niedertracht der Musik. Dreizehn Erzählungen, tisch7 Köln 2005   Dem Nahsten Orient/Très Proche Orient. Liebesgedichte, deutsch und französisch, Dielmann Frankfurtmain 2007    Meere. Roman, Letzte Fassung. Gesamtabdruck bei Volltext, Wien 2007.

Meere. Roman, „Persische Fassung“, Dielmann Frankfurtmain 2007    Aeolia.Gesang. Gedichtzyklus, mit den Stromboli-Bildern von Harald R. Gratz. Limitierte Auflage ohne ISBN, Galerie Jesse Bielefeld 2008   Kybernetischer Realismus. Heidelberger Vorlesungen, Manutius Heidelberg 2008   Der Engel Ordnungen. Gedichte. Dielmann Frankfurtmain 2009   Selzers Singen. Phantastische Geschichten, Kulturmaschinen Berlin 2010   Azreds Buch. Geschichten und Fiktionen, Kulturmaschinen Berlin 2010   Das bleibende Thier. Bamberger Elegien, Elfenbein Verlag Berlin 2011   Die Fenster von Sainte Chapelle. Reiseerzählung, Kulturmaschinen Berlin 2011   Kleine Theorie des Literarischen Bloggens. ETKBooks Bern 2011   Schöne Literatur muß grausam sein. Aufsätze und Reden I, Kulturmaschinen Berlin 2012   Isabella Maria Vergana. Erzählung. Verlag Die Dschungel in der Kindle-Edition Berlin 2013   Der Gräfenberg-Club. Sonderausgabe. Literaturquickie Hamburg 2013   Argo.Anderswelt. Epischer Roman, Elfenbein Berlin 2013 (Dritter Band der Anderswelt-Trilogie)   James Joyce: Giacomo Joyce. Mit den Übertragungen von Helmut Schulze und Alban Nikolai Herbst, etkBooks Bern 2013    Alban Nikolai Herbst: Traumschiff. Roman. mare 2015.   Meere. Roman, Marebuch Hamburg 2003 (Seit Okt. 2017 wieder frei)
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Fünfundzwanzigster Brief nach Triest. (Briefe nach Triest, 29).


Sich nicht, Liebste,

Arbeitswohnung, den 17. Dezember 2014,
Mittwoch, 9.03 Uhr,

an der Lydierin Haarfarbe erinnern zu können, war für Lenz vor allem deshalb schockierend, weil er den Grund nicht kennen konnte, meinen nämlich: Musen dürfen nicht sehr bestimmt sein, sonst sind die Möglichkeiten zu begrenzt, daß sie erscheinen. Dabei... ich erzählte Dir Nahstferner schon von meinen Animafigurationen, selbstverständlich habe ich einen „Typ“. Dennoch kam es immer wieder vor, daß eine Muse ihn unterlief. Bisweilen war sie völlig anders als in meiner Vorstellungswelt, die sich schon früh entwickelt hat; ich muß da zehn gewesen sein, vielleicht ein wenig älter. Um so fappierender, wenn der Typos und die reale Begegnung so deckungsgleich sind, wie es für uns, und gegenseitig, mit schon dem ersten Blick der Fall gewesen ist. Du weißt, daß das stimmt. Daß Lenz sich nun Deines Haars nicht entsinnt – da können tausend Haare am Rand des Duschbeckens kleben –, gibt mir vielleicht die Möglichkeit, den Platz für eine Andre freizuräumen, den immer noch meine Erinnerung an Dich besetzt hält. Es muß wieder geschehen können, daß meine Muse in eine hineinströmt, die ich noch nicht kenne, und durch sie dann zu mir spricht. Sonst bleibe ich in einer Leere zurück, die auch viel stärkere Menschen als mich Ballons gleich, denen die Luft entweicht, schlaff in sich zusammenfallen ließe.
Voraussetzung ist allerdings Nähe, und zwar eine, die keine Sprache braucht, auch wenn sie sich gern in ihr äußert; vielmehr ist jede Äußerung eine kleine Feier des Erstaunens: daß möglich ist, was ist, da wir doch dachten, erfahrungshalber, solch eine Übereinstimmung gebe es nicht, sowohl der Wünsche wie Sehnsüchte, und des ineinander Vertrauens. Als wäre zwischen Dir und mir gar kein Raum, und selbst die Zeit hebt sich auf.
Die Hoffnung, dachte ich eben, aufgeben, damit sie eine Chance hat wiederzukehren, sie als solche wie als ihre Erscheinung in der Gestalt einer Muse. Aufgeben überhaupt, loslassen, sich davonfallen lassen. N i c h t noch einmal Vater werden, weder es zu werden noch es werden zu wollen. Das hat Symmetrie, indem auch Du die Hoffnung auf Mutterschaft aufgibst. Verstehst Du, wie eng wir über unsere Trennung hinaus verbunden bleiben? Dein Verzicht wird zu meinem; was ich tun kann, ist zu beschreiben und das nie geborene Kind auf diese Weise, trauernd, in die Wirklichkeit zu holen, eben nicht zur, wie es heißt, Tagesordnung übergehen. Es wäre, aus Nähe, geworden.
Nein, es geht nicht um Vaterschaft an sich, nicht um ein beliebiges Weitergeben meiner Gene - das wäre mir wohl leicht -, sondern um ein Verschmilzen zu einem Dritten, das eben solcher N ä h e halber ganz es selber hätte werden können. Immerhin d a s läßt sich sagen, auch von einem Roman, daß er, sofern er gelingt, noch sein wird, wenn es uns längst nicht mehr gibt. Irgend jemand nimmt das Buch in die Hand, noch einer, in einem andern Land womöglich, und die Geschichte ersteht. Das muß in gar nicht vielen Menschen geschehen, vier oder sieben reichen pro Jahrzehnt, an Diotima plötzlich, nicht, Geliebte, Bellarmin: Briefe für eine gebliebene Tote. (Doch das Schlimmste, aber! daß ich Dich wiedersähe. Ich wüßte nichts zu sagen, stünde mit zugenähten Lippen vor Dir, ein darauf konzentriertes Bündel Energie, nicht auch noch das Dir anzutun, daß ich zusammenbreche. Jede Handbewegung, die ich täte, gefährdete die Haltung. Also stünd ich starr in meiner lächelnden Maske, einem, mehr noch, Exoskelett, das den Körper von den Zehen bis zum Scheitel einspannt. Ganz so Du selbst, die ebenfalls sich hätte panzernd vorbereitet - sofern sich eine solche Begegnung nicht zufällig, jenseits unsrer Willen, begibt. Wenn für die Rüstung nicht die Zeit war, um sie sich anzulegen.
Wie wir die Blicke vermeiden! Auf keinen Fall jetzt wiederstaunen! Alles Geheimnis, das uns war, unter dem Hügel der vorgeführten Sachlichkeit vergraben und ihn heftig festgetreten, damit draus nie mehr etwas aufsteht. So feierten wir das Fallbeil.)

(Wie wir durch den Park gingen. Erinnerst Du Dich? Der Tag war naß in Triest; die Bora fuhr aus dem Karst in die Stadt. Wir schritten nicht Hand in der Hand, sondern die Finger in den Fingern, Du rechts von mir, ich links. Du hattest die Ärmel bis weit über Deine Handwurzeln hinabgezogen. Stundenlang, beieinander, sind wir gegangen. Später, in der Bar, schossest Du das Selfie, auf dem wir uns küssen, und schicktest es Giulia; prüfend lugt dabei seitwärts Dein Blick. Da dachte ich: Sie steht zu mir, wenn sie uns so sehr zeigen will. Und auch ich, wenn ich zurück in Berlin war, zeigte Dich jeder und jedem.)

(Nun aber stehen wir voreinander, jedes ein spiegelndes Eis.)

(18.10 Uhr,
Puccini, La Rondine.)

Frieren. Ich konnte nicht weiterschreiben, nachdem ich mir eine solche Wiederbegegnung vor die Augen geführt. Sie fielen mir einfach zu; Du kannst, Liebes, mit Recht sagen: wohl davor. Doch ich fror bereits seit dem Morgen. Dabei befand es mein Sohn, der zwischenzeitlich hier war, für in der Arbeitswohnung ausgesprochen überhitzt. Allein, heute bin ich vergletschert. Legte mich also bereits um kurz vor zwölf Uhr hin und kam erst um halb drei aus dem Fluchtschlaf wieder hoch, in nun aber erst recht tragischer Gestimmtheit. Dabei war der offenbare Anlaß ein völlig banaler gewesen: Meine Putzfrau hat mich versetzt, deretwegen ich morgens, statt diesen Brief zu schreiben, erst einmal Ordnung schuf. Ich freute mich nicht darauf, aber dachte, es werde mich vielleicht erlösen, würden Deine letzten Spuren profan hinweggewischt, und eben nicht von mir, sondern jemandem, die so völlig unbeteiligt ist, daß sie nicht wissen kann. Einzig an den unterdessen staubtrockenen Blumenstrauß wollte ich selbst meine Hand legen. Wozu ich die Kraft nun nicht mehr aufgebracht habe. Nun starrt er weiter wie ich.
Mein Freund Sascha hat mir ein Lexotanil gegeben. Das Mittel hat mir in der schlimmsten Zeit meiner schlimmsten Trennung sehr geholfen; es dämpft die Emotionen, läßt den Geist indessen klar. Doch es zu schlucken wäre eine Niederlage mehr: nicht aus eigener Kraft sich aufrichten können. Kapitulation. Außerdem b r a u c h e n, Frau, die Briefe das Gefühl; sie formen es. Tatsächlich bin ich deutlich weniger hilflos, wenn ich tippe, schreibend mich beobachtend, jede noch so feine Stimmungszäsur auseinanderfaltend: Wovor die meisten Menschen sich scheuen, verstehe ich als eine meiner künstlerischen Aufgaben und komme deshalb auf diese Weise zu mir selbst zurück.
Ich erinnere mich eines langen Heiligabends kompletter Einsamkeit, auch dieser nach der genannten Trennung. Weißt noch, wie ich Dir erzählt habe, was ich mit dem Lichterfest verbinde? daß es für mich als einziges aller Feste wirklich für Hoffnung steht? Davon hatte ich damals nichts mehr gespürt. Also setzte ich mich an den Schreibtisch und fing an, mich systematisch zu betrinken, dabei allerdings zu schreiben, und zwar so lange, bis es wirklich nicht mehr ging, ich jede Taste verfehlte. Mein damals noch sehr kleiner Sohn feierte bei seiner Mama; mich hatten zwar Freunde eingeladen, aber ich hätte es nun erst recht nicht ertragen, dort guten Mut zu spielen.
Das heurige Weihnachtsfest ist fast genauso beschattet. Der ganze Dezember versinkt im Dunkel. Vorhin fiel mir ein, daß ich doch alle Jahre für die Kinder ein großes Lebkuchenhäuschen besorgt hatte, das ihre Märchenaugen lieben und an dem die Zähnchen heimlich knabbern. Dieses Jahr vergaß ich es, vergaß über Dich auf den gesamten Advent. Jetzt riß ich mich zusammen und kaufte eines, das ich nachher noch zu ihnen hinüberbringen will, um es den Schlafenden zwischen die Bettchen zu stellen. So werden sie es morgen früh beim Aufwachen finden.
Auch Lenz, in seinem Grenzhäuschen, wird ein so einsames Weihnachten verbringen, nur daß für ihn das Fest nie von sonderlicher Bedeutung war. Im Gegenteil eher, er entfloh ihm gern in den Remmidemmi luxuriösester Skiurlaube. Da warf er sein Geld nur so hinaus. - Wie wundersam also nun, da er vor die Tür tritt und an die nahen Bäume, auch an die etwas ferneren des Waldsaums hinter der Wiese, Kerzen steckt und Schmuck hängt; er tat das sogar schon am dritten Advent und ärgerte sich, daß dauernd ein Wind die Kerzen wieder ausblies. Neu und neu zündete er sie an. Über Stunden ging das so; wieder und wieder hätten Beobachter sein Taschenlampenlicht über die Wiese irren sehen, beschattet nur, zuweilen, von einem Mauervorsprung, der es einfing und verschluckte... (Können wir sagen, daß dies der Ursprung sei der Mythen: Hoffnung schaffen?)

Ach, die Rondine, Liebste! Es ist ganz gut, sich, um zu weinen, einen Grund zu geben, der außerhalb von uns zu liegen scheint. Die kleine Oper kennt Melodiebögen von solcher Zärtlichkeit, daß sie mich wirklich tröstet. Doch auch sie trägt in sich das Vergebens. Auch hier kehrt gegen alle Nähe eine Frau in ihre alten Verhältnisse zurück, gleich ob sie zum Verhängnis werden oder es schon sind. - Ach, Jessir und die Lydierin...Verlassen wäre doch auch e r Zurückgebliebener gewesen. So trifft es einen von uns immer, der sich fortan in Tränen wäscht oder dagegen anschreibt und, ohne praktikablen Zweck, Mauern auf dem Karst errichtet.

Mein Hohelied um die von einem Nu zum nächsten verschlossene Kapelle; schwere Ketten vor der Pforte, das schwere Schloß vereist. So kauert sich der auskühlende Mann vor eines der hohen schmalen Fenster, um sich am Licht zu wärmen, das wenn auch taub, so wenigstens doch farbig in seines Sanges Schwarz fällt. Obwohl es niedersinkt, ist‘s ihm, als ob es stiege.

(A.)
*

Arbeitswohnung, den 18. Dezember 2014,
donnerstags, 8.25 Uhr,
Jean Pacalet, Nains (Sept fois sept ),


Wie, Geliebte, kann jemand derart fürchten, wonach er sich mit allen Fasern sehnt? daß er zu allem andren, jedenfalls beinahe allem, unfähig wird? und ist dieses einzige Eis? Gestern war es genau einen Monat her, daß Du Dich trenntest: Das begreife ich erst heute und auch, was da so über mich kam. Heute vor einem Monat schrieb ich den ersten Brief, der nicht mehr Dich erreichte, weil nicht an Dich verfaßt.
Sie fallen mir, diese Briefe, nicht mehr leicht, laufen mir nicht mehr aus der Hand. Die Unterbrechung durch meine Reise hat dem Fluß nicht gutgetan. Aber wir sind ja, würdest Du sagen, „professionell“. So wird es Dich zu hören freuen, daß die Nachricht vom Verlag kam, meine Wunschlektorin habe zugesagt, wegen des, Du weißt schon, Traumschiffs. Und morgen abend wird es endlich zur Studioaufnahme des Kreuzfahrt-Hörstücks kommen, ebenfalls mit allen Sprecherinnen und Sprechern, die ich haben wollte. So kann ich beruflich nicht klagen. (Gestern abend probte ich mit Chohan).
Nur berührt mich all dies wenig. Es ist zwischen Welt und meine Haut ein aus ihr selbst dampfendes, k ö r p e r eigenes Lexotanil als eine Dämpfungshaut geschoben. Besorgte Freunde rufen an. Anders als Lenz, den niemand anruft, bin ich sozial gebettet. Er ertrüge solche Anrufe übrigens nicht, hatte kaum je einen wirklich Vertrauten. Auch das ist ein, na ja, Ergebnis seines Berufes gewesen. Jeden, wirklich jeden Menschen macht solch ein Broker zum Kunden. Wenn dann mal etwas schiefläuft... (Es läuft ständig, im Markt, etwas schief: die aus den Sternen lesen oder aus dem Kaffeesatz, haben unterm Strich keine bessere Performance als strenge Analytiker, die Stochastiker etwa).
Wie weit das nun von ihm weglag! Einmal stapfte sogar ein Vollstreckungsbeamter über die Wiese und klopfte an die Holztür. Erfolglos, aber mißtrauisch verließ er den Trauenden wieder, der kaum ein Wort mit ihm gewechselt hatte. Man hätte Lenz auch abführen können, so nicht egal schien ihm alles zu sein, nein, sondern so wenig erreichte es ihn . Doch der Beamte glaubte ihm nicht, glaubte i h n nicht, schritt wirklich noch zweimal ums Grenzhaus, um nach verdächtigen Erdbuckeln zu schauen, in denen Schätze vergraben waren. Hier und da hob er einen an die Hauswand gelehnten Feldstein auf oder drehte einen weiter entfernteren um. Lenz ließ den Mann gewähren, ohne daß er zumindest die Komik empfunden hätte, die alles das zweifelsfrei hatte. - Auf seinem Tisch lag der Vollstreckungsbefehl mit der für seinen jetzigen Lebensstatus astronomischen Summe, die ihm die Lydierin, quasi, wert gewesen war.
Als der Beamte hinterm Waldsaum wieder verschwunden war, nahm Lenz ihn, den Befehl, herunter und klebte ihn zu den Briefen an die Wand, fing einen nächsten Brief an, aber alleine, um auch ihn an die Wand zu kleben, nämlich das Amtspapier halb überdeckend. Am Fußboden, in einem der 2-kg-Joghurt-Becher, in denen er auch den Sauerteig für seine Brote gären ließ, dieser allerdings nahe dem Ofen, stand ständig Tapetenkleister angesetzt.
Interessant ist, daß Lenz nicht eines der Fotos verwendete, die er von der Lydierin hatte, sondern sie geradezu streng unter Verschluß hielt. Ich glaube sogar, er sah keines mehr an, anders als ich tu, der ich sie, also die von Dir, ständig anschau. Aber, dachte ich gerade, bedeutet das nicht, daß seine, des ehemaligen Bankers, Imaginationskraft die meine, eines Künstlers, sogar übertrifft? Vielleicht kam es deshalb in der Nacht vor der Nacht vor dem Heiligen Abend – um, um genau zu sein, 0 Uhr 03 – zu dieser eigenwilligen Erscheinung, daß sich nunmehr Lichter vom Wald her lösten, aus dem Wald wahrscheinlich, und auf das Grenzhäuschen zuschwebten, wo sie durch die geschlossene Tür, die geschlossenen Fenster, ja durch die Wände in es hineinzogen.
Lenz saß rauchend am Tisch, stumm und stumpf, wie er in dieser dunklen Zeit wirkte. Er rührte sich nicht einmal, als die Lichter mitten im Raum zusammenflossen, ihre Konturen schärften und tatsächliche Gestalt wurden. Nicht nur das. Sondern leibhaftig Körper.
„Bekomm ich einen Tee?“ (Sie hatte sich ihm gegenüber an den Tisch gesetzt. Von ihrem Blicken muß ich nichts schreiben).
Die Kanne stand auf dem Ofen.
Lenz, ohne ein Wort, erhob sich und holte der Sìdhe eine Tasse, stellte sie vor sie. Dann ging er zum Ofen, sehr langsam, seltsam sicher, nahm die Kanne von der Gußeisenplatte, brachte auch sie, schenkte ihr ein. Sie hatte zwei kleine Diener mitgebracht - sagen wir: Fiordipisello, Semedisenape -, die sich aus den beiden ihr nachgezogenen Lichtwehen eingewirklicht hatten. So wurde es hell in dem Raum, denn alle drei, freilich die Große Frau besonders, leuchteten... nicht aus ihren Körpern selbst, nein, sondern um sie spielte dieser Schein nur herum. Der eine Diener hockte sich unter Titanias schmale Füße; allerdings entblößte er sie vorher um die braunen Stiefeletten, die er eigenwilligerweise auf den Tisch stellte, über die kurzen Schäfte die graumelierten Socken gehängt, halb einwärts, halb außen hinabzipfelnd. Der andere derweil, Fiodipisello, massierte leicht den eleganten Elbinnennacken.
Nein, meine Frau, Du mußt keinen Esel befürchten; dieses war kein Bottomsdream. Denn morgens, als die Elben wieder fortwaren, stand weiter die Tasse der Sìdhe auf dem Tisch, und das verwühlte Bett roch nach ihr; sie hatte sogar neue Spritzer ihres Parfums auf das Hemdchen gegeben, das sie, also die Lydierin, ihm, also Lenz, gelassen hatte.
Seine erste Liebesnacht seit der Trennung. So fangen wir, Herz, zu begreifen an, was Geisteskraft vermag, wenn wir nur stark genug wünschen. Bitte erinnere Dich: Lenz ist anders als ich kein Phantast. Deshalb versteht er sich freilich nicht auf Symbolik, noch auf die Allegorien, und kann sein Mittwinternachtserleben hinterher nicht deuten. Sowieso war es dazu viel zu real: Zum Beispiel waren auch die Stiefeletten, mitten auf dem Tisch, stehengeblieben, ja, je mit den Socken. Eine von ihnen nahm er heraus und schnüffelte daran. Sie hielt Deinen Duft, den einer nur gelinde schweißigen Organik, die sich freilich in Dein lächelndes Parfum hineingedreht hatte.
Ich habe darüber nachdenken müssen, ob Du auch Deine Füße parfümierst. Wahrscheinlicher ist, daß eine Sìdhehaut, die gleich der menschlichen atmet, den Duft einatmet, hast Du ihn auf sie gegeben, woraufhin er in Dir geradezu demokratisch verteilt wird, so, wie in unseren Blutbahnen die Nährstoffe fließen. (Wie seltsam gut mir diese Idee tut! Und dennoch...)

(10.05 Uhr.)
(… dennoch!:)
Wie hätte das denn gehen sollen zwischen Triest und Berlin? Ich sprach darüber gestern mit ???????. „Na ja“, sagte sie, „es wär ein bißchen teuer geworden, immer hin und her. Andererseits: Italien. Du wolltest dort immer sowieso hin. Da ist Triest nicht problematischer als Neapel, nur halt nicht so warm.“
Ich erzählte ihr von unserer Vereisung. Sie lachte nur, mein Herz. „Das kann ich mir nicht vorstelln. K e i n e r wird es können, der euch sah. Wer tut sich solche Gewalt an, und dem andern?“
„Du tust mir Gewalt an“, sagte Lenz. Es war das erste, was er sprach, als die Sìdhe dort vor ihm saß, in ihrer beider Mittwinternacht.
Sie erwiderte nichts, sah ihm nur in die Augen. Derselbe, immer derselbe Blick. Ganz das selbe Blicken.
„Ein einziges Lächeln“, sagte ???????, „wird genügen. Ihr werdet anders nicht können. “
„Du tust mir Gewalt an“, sagte Lenz, „indem du mir wieder erscheinst.“ - Worauf die Sìdhe, ganz wie ???????, lachte: mit dem, aber, lydischen Spott, als sie den Ehering ins Meer warf.

Alban
(11.20 Uhr,
Jean Pacalet, Tableaux pour une Naissance (Sept foix sept).)

*
(16.02 Uhr,
Dallapiccola, Sapphofragmente.)


Diese Fragmente, Geliebte! Du weißt, wie nah sie mir sind, und wie ich mochte, als auch Du noch nah gewesen, daß sie‘s Dir gleichfalls würden. Nie wieder seitdem wirst Du sie angehört haben, rückgekehrt sein ins, weil es abgeschlossen war, vollendete, doch unvollendbare Früher. Manchmal stelle ich sie mir noch vor, Deine, nein Eure Triester Wohnung, die solch ein n u r-Du gewesen; seltsamerweise gab‘s da kein Uns, noch ein, außer in HighEnd, Euch. (Lange habe ich im Traum mit Aphrodite gesprochen: ein Hund, dem sie die Reste Deines für ihn Vergangnen wie einen Knochen hinwirft, damit er an ihm nage. Dabei schaut sie nicht zärtlich auf ihn hinab, sondern wie man‘s bei Leibeignen tut, die aber treu sind, anstatt sich zu erheben.)
So dachte ich im späten Mittagsschlafen darüber nach, wie ich wohl von anderen Menschen wahrgenommen würde, derart unstolz. Gut, ich bekomme Briefe der Zustimmung, auch des Dankes. Und was soll es mich denn scheren? Vierzehn Mal noch schreiben, dann sondieren und das Werkstück klären; poliert wird aber erst zum Schluß: Ich reibe Deine Achselhöhlen aus, die marmornen, so lange, bis sie schimmern und sich die Augen eines jeden Betrachters an dem Glanz entzünden. Es ist eine Schönheit, die wirklich wundmacht. Man muß sie nur ansehen, und die Auge beginnen zu brennen, als hätten unmittelbar beider Bindehäute Zug bekommen. Schließlich wird die Statue deshalb aus der stehenden Sammlung des Civico Museo Revoltella entfernt, kommt verhüllt ins Magazin und ist fortan nur noch Forschern zugänglich, die Risiken zu tragen bereit sind. Man versteht das Ding tatsächlich nicht; es geht die Rede von Außerirdischkeit. Lenz ist da schon lange tot, ebenso die Lydierin und Jessir. Da aber Wiebke und Gerald so viel jünger als die alle sind, können sie diesen eigentümlichen Nachlaß Lenzens noch vor seinem Wiederverschluß betrachtet haben. Sie haben eine kleine Frühlingsreise nach vor allem Venedig unternommen, aber Wiebke, anders als ihr Mann, ist so kunstinteressiert, daß sie ihn überredet, den kleinen Schlupf mit der Bahn nach Triest zu unternehmen. Sprachlos stehen sie dann da, und beide spüren eine Verbindung zu der Figur, deren Grund sie so wenig kennen können, wie Lenz den Biß in seine Schulterbeuge versteht. Du weißt schon, den der Lydierin Zunge schließlich aus ihr fortnimmt. Es ist sicher kein Zufall, daß Gerald seine Sìdhe direkt nach seiner und seiner Frau Rückkehr nach Deutschland kennenlernt; ich erzählte Dir schon: auf irgend einem Geschäftstreffen.
Jedenfalls war Lenz vor seinem Grenzhäuschen umgefallen; wahrscheinlich lag er lange wehrlos dort, direkt vor den drei Stufen, die zur Holztür führen. Als man ihn fand, hatte schon der Verwesungsprozeß eingesetzt; von den Tieren Aphrodites, die sich an ihm nährten, schweige ich aus Rücksichtnahme. Dabei war das ganz in der Ordnung der Dinge, besser jedenfalls, als hätte man ihn eingeäschert. Auch in Italien darf man Tote nicht einfach im Freien bestatten.
Die Wände waren noch immer beklebt, also in d i e s e r Version der Geschichte, die eine Rückkehr seiner Geliebten nicht vorsieht. Dort indes, wo sonst der Eßtisch stand, erhob sich nun die Mamorvenus. Das Geheimnisvolle ist daran, daß Lenz bildnerisch gar nie tätig war, von der Mauer abgesehen. Wiederum ließ sich nicht sagen, wie und woher er das eigentümlich, ja: entsetzlich schöne Ding hatte heraufschaffen können. „Außerirdisch“ … (irdisch!) …
Was ich Dir erzählen möchte, weil es niemand wissen kann außer mir: Die Statue gleicht Dir vollkommen, in jedem nicht nur Gesichtszug (es ist dieselbe, nicht etwa nur gleiche Lippenkrone), nein, jedem Sehnenstrang, in den Schlüsselbeinen, den vorstehenden Schulterpfannen, die Deine Flügel halten, in den beiden Leistenlinien, dem schmalen fallenden Schwung beider Ober- in die Unterschenkel, ja bis in den Spann zu den Zehen. Und ein feiner Film bezieht die Sohlen der Füße: Das ist besonders rätselhaft.
La venere di Trieste, unbekannter Meister (möglicherweise d o c h aber Lenz), 2014: Habe ich schon von ihren Brüsten geschrieben? Es gibt Künstler, die schaffen ihr ganzes Leben lang ein einziges Werk. Ich bin mir aber nicht sicher, ob man „Künstler“ zu ihnen sagen kann. Denn sie sterben, wenn sie es vollenden, indessen einer wie ich zum nächsten und wiedernächsten übergeht, wie eine Dreschmaschine, bis dann auch sie, sind alle Felder leer, in die große Scheune kommt.

A.
(Dallapiccola, Tartiana seconda)

*


>>>> Sechsundzwanzigster Brief nach Triest
Vierundzwanzigster Brief nach Triest <<<<

albannikolaiherbst meinte am 2014/12/18 11:00:
Il Matrimonio d'inverno della Sìdhe.


(Johann Heinrich Füssli, >>>> Bildquelle)

 

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