Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop

e   Marlboro. Prosastücke, Postskriptum Hannover 1981   Die Verwirrung des Gemüts. Roman, List München 1983    Die blutige Trauer des Buchhalters Michael Dolfinger. Lamento/Roman, Herodot Göttingen 1986; Ausgabe Zweiter Hand: Dielmann 2000   Die Orgelpfeifen von Flandern, Novelle, Dielmann Frankfurtmain 1993, dtv München 2001   Wolpertinger oder Das Blau. Roman, Dielmann Frankfurtmain 1993, dtv München 2000   Eine Sizilische Reise, Fantastischer Bericht, Diemann Frankfurtmain 1995, dtv München 1997   Der Arndt-Komplex. Novellen, Rowohlt Reinbek b. Hamburg 1997   Thetis. Anderswelt. Fantastischer Roman, Rowohlt Reinbek b. Hamburg 1998 (Erster Band der Anderswelt-Trilogie)   In New York. Manhattan Roman, Schöffling Frankfurtmain 2000   Buenos Aires. Anderswelt. Kybernetischer Roman, Berlin Verlag Berlin 2001 (Zweiter Band der Anderswelt-Trilogie)   Inzest oder Die Entstehung der Welt. Der Anfang eines Romanes in Briefen, zus. mit Barbara Bongartz, Schreibheft Essen 2002   Meere. Roman, Marebuch Hamburg 2003 (Bis Okt. 2017 verboten)   Die Illusion ist das Fleisch auf den Dingen. Poetische Features, Elfenbein Berlin 2004   Die Niedertracht der Musik. Dreizehn Erzählungen, tisch7 Köln 2005   Dem Nahsten Orient/Très Proche Orient. Liebesgedichte, deutsch und französisch, Dielmann Frankfurtmain 2007    Meere. Roman, Letzte Fassung. Gesamtabdruck bei Volltext, Wien 2007.

Meere. Roman, „Persische Fassung“, Dielmann Frankfurtmain 2007    Aeolia.Gesang. Gedichtzyklus, mit den Stromboli-Bildern von Harald R. Gratz. Limitierte Auflage ohne ISBN, Galerie Jesse Bielefeld 2008   Kybernetischer Realismus. Heidelberger Vorlesungen, Manutius Heidelberg 2008   Der Engel Ordnungen. Gedichte. Dielmann Frankfurtmain 2009   Selzers Singen. Phantastische Geschichten, Kulturmaschinen Berlin 2010   Azreds Buch. Geschichten und Fiktionen, Kulturmaschinen Berlin 2010   Das bleibende Thier. Bamberger Elegien, Elfenbein Verlag Berlin 2011   Die Fenster von Sainte Chapelle. Reiseerzählung, Kulturmaschinen Berlin 2011   Kleine Theorie des Literarischen Bloggens. ETKBooks Bern 2011   Schöne Literatur muß grausam sein. Aufsätze und Reden I, Kulturmaschinen Berlin 2012   Isabella Maria Vergana. Erzählung. Verlag Die Dschungel in der Kindle-Edition Berlin 2013   Der Gräfenberg-Club. Sonderausgabe. Literaturquickie Hamburg 2013   Argo.Anderswelt. Epischer Roman, Elfenbein Berlin 2013 (Dritter Band der Anderswelt-Trilogie)   James Joyce: Giacomo Joyce. Mit den Übertragungen von Helmut Schulze und Alban Nikolai Herbst, etkBooks Bern 2013    Alban Nikolai Herbst: Traumschiff. Roman. mare 2015.   Meere. Roman, Marebuch Hamburg 2003 (Seit Okt. 2017 wieder frei)
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Fünfzehnter Brief nach Triest. (Briefe nach Triest, 17).


Halb sechs, Geliebte,
Arbeitswohnung, den 4. Dezember 2014,
donnerstags 5.51 Uhr,

es scheint sich wieder einzupendeln, obwohl ich spät zu Bett kam. Doch hat mich ein Buch einmal am Wickel, genügen mir .sogar nur vier Stunden Schlafs, wenn ich mittags nicht die Stunde hatte, sondern beim Sport war. (Leichter, Liebes, Muskelkater).
Zwei Konditionalsätze hintereinander.
Bedingungen.
Druck verspüren. Sich aus dem Gedrücktsein herausheben, eigenermächtigt; Du weißt von Dir selbst, wovon ich spreche, und wie schwer das anfangs ist. Die Löwin sprach gestern nacht, ja, wir telefonieren täglich, haben, auch als es Dich schon gab, nie damit aufgehört – sprach gestern nacht von Unglücklichsein; damit habe man – „früher“, sagte sie – bezeichnet, wozu wir heutzutage allzu leichtfertig „Depression“ sagten. „Es ist, als traute man sich nicht mehr, Zustände korrekt zu bezeichnen, sondern man schiebt sie von sich weg“, in den Begriffen also. Denn „Depression“ ist auch ganz falsch; Depressionen haben keine Gründe, jedenfalls keine, die ein Depressiver kennt. Mein Zustand ist hingegen wie der ihre die Wirkung eines Verlusts. Vielleicht auch wie Deiner? Darüber denke ich manchmal nach. Auch Dir ist doch ein tiefes, geradezu naturhaft enges Vertrauen zerstört worden, auch wenn es eigenhändig Du warst, den Hautschnitt unter Deiner linken Achselhöhle, den das Messer löste, ins Blut hinein zu fassen und dann, mit einem gewaltigen Ruck, den gesamten breiten Streifen von da bis zur Seite des Knies hinunter Dir wegzureißen, und noch einmal auf der rechten Seite. Und dann hältst Du‘s aus, ganz wie ich und sie, bis es, hoffst Du, heilt. Wir hoffen‘s auch, je für uns selbst, aber auch für einander. Liebe, Liebste, ist so. Wir tragen nur andre Verbände, und andere Menschen pflegen uns.
Von manchen vertrag ich es nicht, hab nur noch Umgang mit ganz nahen, wenigsten nahen, und auch dieses, das „nah“, hat sich umbewegt. Überdies ist es dünner geworden. Ich mag auch nicht dauernd sprechen, erklären, mich gar rechtfertigen. (Als spielte hier Recht eine Rolle). Am einfachsten sprech ich mit denen, die bereits wissen. Die andern verweis ich auf diesen Roman. Selbst Freunde düpier ich durch Rückzug, erhalte Briefe, antworte nicht, rufe auch kaum noch wen an. In schlechten Momenten bin ich gelähmt, in guten zuversichtlich, manchmal voll Selbstspott: das ist aber Betrug, - bin bei mir selbst fast nur, wenn ich schreibe. Weil ich dann bei Dir bin. Aber drehe meine Liebe herum: Das Vakuum aus dem Körper stoßen, anstatt es in sich zu verkapseln, wo es dann metastasieren würde. - Ja, aber, wie tust denn D u‘s? Sie habe, rief die Löwin aus, ein Recht auf ihre Trauer! Der tägliche Ablauf nimmt es ihr weg, „immer lächeln, immer zugegen sein“, kaum bewegte Oberfläche, ein See, von der gleichsam Frühlingssonne bestrahlt, an dem sich die Ausflügler sonnen, Mitbewerber, Auftraggeber und alle die, die ihrer Obhut anvertraut sind. Darunter aber tobt es, darf sich nicht zeigen. Kein Wunder, wenn sich solch Widerspruch im Körper manifestiert, auf der Haut oder wenn wir, wie Du tatst, unentwegt husten, und schmerzhaft. Fieberbläschen, Herpes, der Rücken.
Wie gehst also Du mit mir Fehlendem um? Wie drängst Du mich weg, wie gelingt‘s Dir? Mag sein, diese Briefe helfen dabei, die auf Diskretion programmierte Menschen – e r z o g e n e: geprägte – abscheulich nennen werden; so kannst auch Du‘s tun. Auch so kriegt man weg, was so nah war. Eine Frau, ganz zu Anfang, sprach sogar von Ekel; von morgens bis abends könne sie kotzen.
Ich darf mich davon nicht beirren lassen. („Außen hui, innen Pfui“, pflegte meine Großmutter zu sagen. Schein und Gesellschaft, ‚man tut nicht‘). Konventionen haben, sofern sie kein Spiel sind, in der Kunst nichts verloren; als Spiel sind sie ein Tanz, ob auf Parkett, ob im Club; man setzt sich nach ihm wieder; die meisten aber spielen dann weiter, nur unter anderen Masken: Man weiß schon gar nicht mehr selbst, wer man ist, und was. Da bringt es einen in Harnisch, wenn einer zu sein scheint, der‘s weiß und es zeigt. Ja, kann es, Frau, denn sein, daß wir einander feindlich würden, weil, was wir fühlten füreinander, verborgen werden muß und nicht mehr streicheln darf? und also schlägt man? weil einer dennoch weiterstreichelt, anstatt sein Gefühl im Kerker der Verdrängung drunten einzugittern... weil es nicht sein darf, nicht länger. Und aber doch ist! Tür zu. Nicht mehr dran denken. - Abortus. Man gewöhnt sich an ihn. Schon fällt es gar nicht mehr schwer, zum Arzt zu gehen oder zur Ärztin und sich auf den Stuhl zu setzen, die Beine gespreizt, da kommt schon die Pumpe. So sind Konventionen. Man kann sich danach sogar verabreden, „ich geb eine kleine Gesellschaft. Also. Wenn Sie mögen...“ Oder zum Tennis. Mit großem Wagen fährt man vor. Alles wird Ding unter Dingen.
Und aber Lenz? Gut, er wird Bauer. Die Lydierin aber?
Sie hat das Glück (ein Recht) der neuen Intensität. Also muß sie an Lenz gar nicht denken. Jessir ist vollkommen da. Die beiden kommen gar nicht mehr in die Klamotten. Er ist kurz in die Redaktion weg, kehrt zurück, sieht sie, reißt sie aufs Bett. Nimmt sie auf dem Mitteltisch. Sie kriecht unter dem Schreibtisch an seinen Hosenschritt heran. Die beiden können nicht einmal mehr duschen, ohne daß je der andere den Vorhang beiseitezieht. Ganz wund sind sie schon.
Nein, kein Gedanke an Lenz. Wäre es, Innnigste, so, dann wirklich keiner an mich. Ich habe da nichts mehr zu suchen. Stehe in der Tür des Grenzhäuschens, denke, fühle über die Wiese und durch den Wald den breiten Karsthang zur Stadt hinab. Backe Brot und nenne es „Sìdhe“. Anders als ich ist Lenz wirklich verloren. Dennoch, unversehens, irgend eines Tages, setzt er sich hin, hat sich in der Cartoleria, Via d’Alviano, große Briefbögen besorgt, und fängt an, Dir zu schreiben.
Nein, er sendet die Briefe nicht ab. Aber er rahmt sie, jeden für sich, hängt sie auf, baut auch die Rahmen selber. Siehst Du, Geliebte, so tut er denn doch einen Schritt in die Kunst. Das ist wirklich überraschend. Nie hätt ich ihm das zugetraut. Das ganze Grenzhäuschen wird zum Museum. Selbst den hölzernen Handlauf der kurzen Treppe in die halbprovisorische Kellerkammer (die Wände sind Karstfels) hat er mit Briefen umkleidet, dort selbstverständlich ungerahmt. Und natürlich läßt er niemanden rein, jedenfalls nicht anfangs. Dann beginnt er, der Bauer, zu verstehen, daß d i e s Euer Kind ist und n e b e n Euch Bestand hat, sich nicht verbergen muß, sondern längst für sich allein lebt, ohne die Eltern des Urbilds. Kunst ist Objektivierung.
Jessir tobt, als die Vernissage bekannt wird. Wie soll er das ertragen, so als ein Hahnrei dazustehen? Aber nein, nein, die beiden waren doch getrennt, die Lydierin und er, in ihrer Zeit, die Lenz war. Und dennoch. D u freilich: „Laß ihn. Er ist doch nur erbärmlich.“ Millionen werden bezahlt: für ein einziges abgeschnittenes Ohr. Zur Lebzeit in Packpapier gewickelt, ein Halbpfund Rüben, ein Kilo Kartoffeln. (Du hast schon den Bauch, als Du das einkaufst). Tatsächlich führt Lenz bloß die Traditionslinie fort, keine allerdings gute: Naso in Tomis. - Bitte? Nein, schlag das selbst nach).

Jetzt sind die Blumen Trockenblumen. Ja, auf dem Mitteltisch. Unten, im Wasser, allerdings faulig. Neues Leben, möglicherweise, entsteht dort. Während aber, allein, ist die Mumifizierung. Für den Roman muß ich auch das überdenken.

Doch wichtiger ist etwas anderes.
Ich habe Dir gestern von dem d r i t t e n Paar erzählt, dem jungen. Wiebke und Gerald (seine Freunde nennen ihn Jerry; „Tom und Jerry“ haßt er bis heute). Sie zwanzig, er drei Jahre älter. Hübsches Mädchen, aber auch von ihm weiß ich die Haarfarbe nicht. Entscheiden wir uns für brünett. Ein bißchen drall ist sie vielleicht, aber das kommt einem nur so vor, weil die Beine etwas kurz sind. Doch diese Augen, das Lächeln! (Um von den Zähnen zu schweigen). Er bleibt wie angenagelt stehen. Sie ganz genauso.
Erste Party an der Uni.
Doch dann das Problem. Nein, Geliebte, nicht das der beiden - sondern unsres: das der Erzählung. Daß sie sich verlieben, steht nicht infrage. Zwei Tage später küssen sie sich. Zwischen diesen Zähnen seine Zunge, es ist nicht zu fassen. Noch weniger, daß sie an ihr lutscht. Wir wissen, welche „Bewegung“ das ist: den Speichel abstreifen, in sich hineinnehmen, nichts, gar nichts hinauslaufen lassen. (In einem Porno, da war ich noch sehr jung, sah ich eine mythische Szene von solcher Erdengewalt, daß ich sie nie vergaß. Ein andermal werde ich Dir von ihr erzählen; hier genügt die Andeutung.)
Wir also wissen. Aber diese beiden nicht. Sie tun nur, genauer: folgen ihren Instinkten. Und hier nun die Frage, auf die es uns ankommt: Können die beiden jungen Leute, was mit ihnen geschieht, schon als mythisch erleben? Oder braucht das eben Erfahrung, wiederholte, erneuerte, stete Erfahrung, um überhaupt zu begreifen, wo etwas über Pheromone hinausgeht? Wir unterdessen wissen sehr wohl, Verliebtheit und Trieb zu unterscheiden und diese von Liebe, der werdenden, gewordenen, die sich entwickelt hat, und einer plötzlichen, gonghaft – habe ich von dem Gong schon gesprochen? Den jemand, zwei Männerarme umfassen ihn nicht, schlägt, und noch minutenlang wummert der Klang? Als wir uns ansahn.
Diese Kraft rührt doch gerade daher, daß sie zumindest über Tage fast alles andre übertönt. Da muß das andre doch d a sein! Was aber ist bei den Kindern? Denn das sind sie ja noch, Wiebchen und Jerry, auch wenn sie denken, schon alles zu kennen, was es gibt auf der Welt. Auch wenn Wiebchen bereits eine wirklich bittere Geschichte hinter sich hat (bis achtzehn, um das Mäßigste zu nennen, trug sie dicke Zylindergläser; erst die Kontaktlinsen befreiten sie von dem ständigen Hohn: da erst blühte sie auf).
Was ich fragen will: Wissen schon Kinder? Denn auch das, siehe Wiebke, ist doch nicht wahr, daß sie noch unbeschrieben seien. Auch sie folgen längst schon den Siegeln. Mythisch wäre, wenn sie da etwas herausreißt, das jede Prägung wie ein Stellwerk umlegt, ein Neustell-Werk. Daß wenigstens die Möglichkeit aufscheint, wahnsinnig grell, man muß die Lider zusammenpetzen, Semele vor Jupiter (so entstand der Wein: auch er ein Kind der Verbrennung). Und alles, was war, fällt weg - bis man das Wegfallen abwehrt und sozial, sich zivilisierend, normal wird - gefaßtes Ich und Vornahme wieder, wo Es, wird Ich: daß Es aber w a r, gegen unsre Erfahrung, daß wir es spürten, dies Ich ward Es, liegt nicht eben darin die Mythik? Wir müssen Ich schon geworden sein, durch einen langen, langen Prozeß der Erfahrung, um sie zu begreifen und also überhaupt wahrzunehmen. Da, genau da liegt das Problem der jugendlichen Liebesgeschichten, daß junge Leute das noch nicht können. Ohne Zeit ist Zeitlosigkeit nicht zu begreifen, auch nicht zu fühlen, vielleicht.
Verstehst Du, Innige, was ich meine? Wir kommen um die Unmöglichkeit des Möglichen gar nicht herum: gerade aus ihr speist sich das Blicken, ihm verdankt es sich und verlangt, es mit ihr aufzunehmen. Wer das nicht tut, der hält nicht, und es wendet sich ab.
Oder nicht? Kann es, Geliebte, sein, daß es sich denkt, ich gönn ihnen mal eine Atempause? Sollen sie prüfen, was hält und was nicht und wie lange es, hält es denn, hält! Und wo sie eigentlich stehen und ob sie mich, meine Urkraft, mit der gewachsnen Beharrung bedecken, egal, ob sie Projektion ohne Leinwand. All sowas steht für Wiebke und Jerry noch lange nicht an. Zudem kann es gut sein, daß sie einfach, wie den Pheromonen, ihren Mustern folgen, weil noch gar nichts ist, aus dem sie hinausspringen könnten – oder doch, aber etwas – i Capuleti e i Montecchi –, das in ihnen das Feuer eigentlich schürt. Was wohl geschähe, fiele es weg? wäre geschehen?

Muster, Geliebte, sind die Pheromone der Sozialität, im weiteren Sinn: der Kultur.

Alban
*

(10.35 Uhr.)
Noch einmal, Frau: Zu wem spreche ich hier? Es gibt doch für mich schon lange kein konkretes Du mehr. Aber selbstverständlich hab ich ein Bild, - wogegen, wenn ich „Liebe Leserin“ schriebe (was ich immer mal tat), die Leere schon auf der Hand liegt: Behauptung. Nun ist das anders, hier greif ich auf eine Geschichte zurück, die immerhin war. Als solche ist sie und bleibt. Du als mein Du bist Person, auch wenn der Duft aus dem Hemdchen allmählich heraus ist, fast (: Es duftet noch in Spuren).

Bewegung des Kursivierten: musikalische Phrasierungen, kurze, sich rhythmisch akzentuierende Bögen (Wie ich Dich liebe, die Frau eines andren, hier so – in diesem Wellen der Kommata auch – die meine: Dein NichtDu).

Weshalb war wohl Liebe im Auge der Macht immer ein Dorn? Sie ist nicht regulierbar. Wiederum Wiebke und Gerald, wer sagt uns denn, daß ihre Blicke nicht nur eine Verliebtheit sind, die sie auf den Schienen ihrer Muster geradewegs festfahren wird? Sie selber, noch, können es nicht wissen. Es ist auch gar nicht die Frage, die sich ihnen stellt; zum mythischen Blicken gehört vielleicht der Konflikt, den er auslöst. Es verlangt von uns etwas.
Wir gehen, Frau, und auch ich tu‘s, von falschen Voraussetzungen aus, vermeinen immer, es seien wir selbst, die entscheiden. Wir nennen das Autonomie. Die ist aber gar nicht, sondern allenfalls eine regulative Idee. (Ich umkreise weiter das EinanderErkennen und ob wir es zulassen können). Weshalb, zum Beispiel, wurde Lenz derart weich, anstatt sich an ihr, der Lydierin, aufzurichten und überhaupt erst zu w e r d e n? Das ist doch ein gräßliches Trauerspiel! Kaum vorstellbar, daß sie ihn andernfalls verlassen hätte, auch nicht für Jessir. Sondern sie hätte von dessen Anruf erzählt, der unversehenen Todesnot ihres Exfreunds, und wie sie sich sorge. Er, Lenz, hätte Anteil genommen; vielleicht hätten sie den Mann, als er Göttinseidank zurückkam, gemeinsam vom Flughafen abgeholt, die beiden, Jessir und Lenz, sich zum ersten Mal, endlich, die Hände gereicht. Genügend Reife vorausgesetzt, hätten sie Freunde werden können. Utopisch, Geliebte? Mag sein. Doch immerhin einander Bekannte, die über sie, die Lydierin, verbunden bleiben werden. So tief hat ja keine Verletzung gereicht, die Jessir seiner Gefährtin, als sie es noch gewesen war, beigebracht hatte. Er hätte, als sie sich damals das Becken brach (ein Autounfall, sie war an dem nicht mal schuld) - also n i e hätte er gesagt, in die Klinik mußt du aber allein. Hör mir auf, das schaffst du schon. Ich habe einen Termin, der geht vor. So daß sie mit allem Tatü und Tata allein da hingefahren wäre - vor allem in dieser Angst vor der Querschnittslähmung - und er sogar vergessen hätte, sie abends anzurufen. - So etwas hätte Lenz in der Tat nie vergeben, wäre er denn Mann geworden an seiner Liebe.
Mann wurde er mit dem Verlust. Wäre die Lydierin nicht wieder gegangen, er wäre geblieben, was er war. Aber weshalb, frag ich, war er‘s? - Wieder müssen wir die Ziele ansehen, die er vorher gehabt hat, die Werte auch. Oberflächen alles und darunter beinahe nichts, außer einiger Sentimentalität. Deshalb mußte der Schein so gewahrt sein; er brauchte den Protz, brauchte ihn existentiell. Aus sich selbst war er nichts. Man kann sagen, daß er den Protz durch die Frau ersetzt hat, die ihn liebte. Imgrunde blieb es bei den hohlen Mustern. Auch deshalb ging die Lydierin wieder. Auch deshalb konnte er sie nicht schwängern. Er konnte nicht, eben, war dem mythischen Blicken nicht gewachsen, zwar wich ihm nicht aus, wehrte nicht ab, aber verbrannte darin zu dem, was er war: Schlacke.
Und dann die Katastrophe. Die Lydierin ging. Verstehst Du, Geliebte? Durch Katastrophen lernen wir, fast n u r durch Katastrophen. Katastrophisch ist auch das mythische Blicken, durch alle Lust und Nähe hindurch, selbst durch die unwiderlegbare Wärme.

Der Schnitt in Deine Achselkapellen, links erst, dann rechts.
Die Spannung, zwischen den Beckenknochen, der Haut. (Darunter die Erwartung).
Schon gleichfalls, eben dort, das Skalpell angesetzt. Und klar der Aufschnitt in die Leere dan a c h.

Wie, mein Herz, soll das ausgehn?

A.

*

(17.11 Uhr.)
Mein Sohn spielt Cello. Er hat, Geliebte, einen plötzlichen, fast unfaßbaren Sprung in den letzten drei Wochen gemacht; Du hast ihn noch vorher, hier bei mir, nein, bei uns gehört. Und kam vorgestern und fragte, ob er den Schlagzeugunterricht aufgeben dürfe: der bringe ihm nichts mehr, außerdem, da war ich sprachlos, behindere der Umgang mit den Schlägern die gute Bogenhaltung; man werde zu steif in den Handgelenken. Und nun bewegt er schon das rechte Handgelenk in sich. Wie ich, Nahe, staunte, als ich das eben sah! Und begriff, wie sehr es sich gelohnt hat, ihn all die Jahre unterrichten zu lassen. Viele geben die Instrumente auf, wenn die Pubertät einsetzt; er tut es nicht, ja entdeckt sein Instrument mit ihr überhaupt erst.
Glück eines Vaters, Geliebte.

Dennoch, ich habe mich >>>> geärgert. Aber der Grund gehört nicht hierher, deshalb nur der Link. Doch der Ärger war so groß und die Vorwürfe waren derart abfällig, daß mir die Luft ausging, ich einfach, was ich doch wollte, an diesem Brief nicht weiterschreiben, schon gar nicht mir darin Gedanken über den Fortgang der Erzählung machen konnte. Vielleicht werde ich die Briefe morgen auch aussetzen, den Sechzehnten erst übermorgen verfassen und statt dessen auf die >>>> Ersten Überlegungen den nun z w e i t e n theoretischen Beitrag folgen lassen.(Erst um 21.30 Uhr werde ich mit Amélie essen gehen. Vielleicht also beruhige ich mich wieder und setze meinen Brief doch gleich noch fort; Zeit wäre ja genug. Nichts aber, Frau, könnte mich nur annähernd so beruhigen wie ein Blick aus Deinen Augen, ein Lächeln, eine Nähe und vielleicht sogar, ach gäbst Du ihn mir!, Dein Hals: und dort meine Stirn in der Beuge. Meine Kraft reicht gerade nicht hin, es mir so sinnlich vorzustellen, daß es auch ist. Daß ich mich aber verwundbar halte, >>>> von allem Anfang an, erlaubt mir, so zu schreiben, wie ich‘s tue, mit aller Nähe, die mir gelingt.

A.)
*

albannikolaiherbst meinte am 2014/12/04 09:16:
(Kurz erwogen,
die Antwortbriefe mir selbst zu schreiben - also ihm, dem Autor der Briefe. Gleich aber wieder verworfen.
Dennoch: In den "tatsächlichen" Briefen widersprach sie ihm oft. Jedes Nein indessen war Kuß. Das läßt sich nicht imitieren, darf nicht imitiert sein. Müßte ganz so aus dem Spontanen kommen, wie die Briefe selbst ihre Energie aus der Nichtdistanz spreisen, einer, eben!, Nochnichtdistanz. Deshalb die Eile ihres Entstehens.)
[Arbeitsnotat.]

 
albannikolaiherbst meinte am 2014/12/04 17:06:
Faschistoides. (Arbeitsjournal-Kommentar außerhalb der Triestbriefe:)
Wie mir das zusetzt, daß ich immer wieder mit einem Dreck beworfen werde, dessen Grund ganz offensichtlich in meiner Herkunft besteht. Man kann fast die Uhr danach stellen, daß, wenn jemand mich beschimpfen will, der „Ribbentrop“ verwendet wird, ein Umstand, der mir eine faschistoide Gesinnung unterstellen will. Heute ist das wieder >>>> dort und durch jemanden geschehen, den ich frei davon gehalten hätte. (Der Link verweist auf eine Bemerkung Phyllis Kiehls, die als Administratorin die entsprechenden Kommentare, aber auch meine aus Verletzung wütenden Repliken gelöscht hat- Verletzt sollte ich werden. - Ja, ist gelungen, lieber Herr Soundso.)
Einmal abgesehen davon, daß ich zur Zeit schmerzhaft dünnhäutig bin und mich solche Anwürfe deshalb verstärkt treffen, scheint den Leuten nicht klarzusein, daß faschistoid nicht ist, die und die Herkunft zu haben (Gesinnung vererbt sich nicht über Gene), sondern Herkunft als eine objektive Ursache für faschistoides Gedankengut und Verhalten auszugeben; das heißt, wenn jemand faschistoid ist, dann sind es wohl diejenigen, die es jemandem vorwerfen, weil er einen bestimmten Namen trägt. Das Schlimme daran ist "nur", daß der Vorwurf immer hängenbleibt, nämlich an den mit dem Dreck Beworfenen, nicht aber jenen, die werfen, und daß man sich dagegen nicht wehren kann. Tut man es, heißt es sofort, nur der getroffene Hund belle. Es ist also tatsächlich noch viel Faschismus in dieser Gesellschaft, aber nicht so sehr vielleicht bei denen, die ihn anderen vorwerfen, sondern tief in den Vorwerfern selbst.
Auch aber jenseits der laut und nahezu immer, selbstverständlich, anonymen Vorwürfe immer wieder die vorgehaltenen Hände und Gewisper: „Ist das nicht ein Ribbentrop? Na, dann wissen wir ja bescheid.“ Und das quer durch die Literaturbetriebe. (In der „freien“ Wirtschaft übrigens auch, aber da gilt solch ein Name. das ist nicht minder widerlich, als Auszeichnung – sofern man, selbstverständlich, sich anpaßt. Nichtangepaßtheit führt hier wie dort zu einer Wut, die durchaus pathologische Formen annehmen kann.) 
diadorim antwortete am 2014/12/04 18:29:
ich hingegen denke nicht selten, ach, ist das nicht eigentlich ein alexander, ein ausgesprochen schöner name, ich kenne auch nur alexanders, die ich mag. 
albannikolaiherbst antwortete am 2014/12/04 19:05:
@diadorim zum "Alexander".
Ich erinnere mich, mit diesem Namen tatsächlich nie ein Problem gehabt zu haben, im Gegenteil, ich mochte ihn - auch wenn die Übersetzung, "Männerbezwinger", nicht ganz unpikant ist. Ihn dann abzulegen, war einfach eine Konsequenz (mein zweiter Vorname, obendrein, "Michael" - Erzengel also, männerbezwingender Erzengel, nun ja).
Es gab in den letzten Jahren immer mal wieder, doch selten, jemanden aus früheren Zeiten, der bzw. die diesen Namen verwendet hat. Tatsächlich fühle ich mich überhaupt nicht mehr angesprochen; es ist, als wäre ein Fremder, den man in einem vorigen Leben gekannt hat, gemeint. (Zweifelsfrei traf es meinen jüngeren, doch längst umgekommenen Bruder schlimmer: "Hagen Markwart" und d a n n noch Ribbentrop. Was denken sich Eltern???? - Auf da Namensproblem kam ich >>>> in den Triestbriefen schon vorgestern zu sprechen. Es wird die Briefe noch einige Zeit lang begleiten.)

[Bei Anouar Brahem, Astrakan Café (2000).]

 
diadorim antwortete am 2014/12/04 20:22:
ich sehe in dir auch keinen alexander, sondern einen alban, wäre für mich auch komisch, dich anders zu nennen. alexander mag ich trotzdem, wäre die frage, warst du unter dem namen ein gänzlich anderer? ich frage mich bei manchen namen, was die eltern wohl bezwecken wollten. hagen makwart ist schon krass. ich mochte meinen zweiten namen nie, theresa, heute finde ich ihn fast schöner als den ersten, aber eigentlich, eine theresa bin ich auch nicht, das wäre ein viel vergeistigteres wesen als ich bin. 

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