Neunundzwanzigster Brief nach Triest. (Briefe nach Triest,35).
Was für Hoffnungen, Liebste,
Arbeitswohnung, den 14. Januar 2015,
5.17 Uhr,
Giuseppe Sinopoli, Tambeau d‘armor III (1978),
5.17 Uhr,
Giuseppe Sinopoli, Tambeau d‘armor III (1978),
haben wir gehabt, als wir Wiebke und Gerald entwarfen! Und wie ist das nun ausgegangen! Dabei waren die Voraussetzungen derart vorzüglich. Erinnerst Du Dich? Zwei, die wir für unbelastet meinten, für noch genügend unvorgeprägt, um eines des anderen Atem in sich zu lassen und ihn darin auch zu halten: Dich ein-, aber nie wider ausatmen, Liebste. So haben die zwei es damals gedacht, fast sofort, als sie sich sahen, oder daß Wiebke ihn ein-, Gerald sie ausatmet, bevor e r sie ein- und sie i h n ausatmet, so fortgesetzt bis ins, das haben sie sich wirklich manchmal vorgestellt, hohe Alter, Du weißt schon, das greise Mütterchen, das greise Väterchen auf der Bank an der Spree mit Blick auf die Insel der Jugend. Was sie nicht alles gemeinsam durchgestanden hätten dann! und gingen nun befriedet gemeinsam hinüber.
Auch das aber täuscht, meist stirbt ja einer vor der andren und stirbt ihr schnell, wenn es gutgeht, nur nach. Geht‘s aber langsam, wartet das Heim und verwahrt noch für Jahre, in denen selbst die Erinnerung Fotos gleich ausbleicht, die nicht ausreichend lange im Fixierbecken lagen. Ja, vielleicht würde es Zeiten geben, in denen mal er, mal sie den Blick auf mögliche Andere würfe, und selbst, wenn sie der Versuchung erlägen, so doch immer nur kurz und imgrunde in einer Verzweiflung, aus der nur Wiebke Gerald und er ihr wieder hinaushelfen könnte. Nicht, daß sie sich das wirklich vorstellten, als sie so jung aneinanderlagen, aber etwas in ihnen beiden wußte davon und ahnte doch nicht, wie tief die Verwundungen einschneiden würden. Und Jessir und die Lydierin hätten nie einen Lenz bedacht, der aus der Sicht dieses radikalen Journalisten wirklich das unmöglichste war, das sich hätte voausglauben lassen. Solch eine blasse Type! Und dennoch... - Jedenfalls hätte er, als ihn die Frau dieses Bankers wegen verließ, nicht nur verletzt, nein, weißGott auch beleidigt sein können. Schließlich war nicht zu ahnen gewesen, wie Lenz sich später entwickeln würde, wenn auch nur, wir erzählten es schon, nun e r durch der Lydierin Verlust.
Tatsächlich nahm Jessir die Liaison seiner Gefährtin anfangs nicht sehr ernst, belächelte sie sogar; gut möglich, daß diese Frau sich erst d a s für Lenz wirklich entscheiden ließ. Denn daß Jessir so überhaupt nicht eifersüchtig war, setzte quasi ihren Wert herab, beleidigte also wiederum sie. Zumal hatte der Journalist neuerlich ganz andres um die Ohren, stand quasi schon wieder für seinen nächsten Abflug in den Outdoors. Auf! hieß es - in eins der nächsten Krisengebiete. Auf seine Weise war Jessir durchaus süchtig, man kann auch besessen sagen; seine Präferenzen jedenfalls erhoben seinen Beruf deutlich über die Beziehung, so sehr er seine Lydierin liebte. - „Seine“ Lydierin: das bescheibt schon, wie für ihn diese Lebensgemeinschaft zwar Sicherheit war, daß er die Frau aber nicht als das Ereignis empfand, oder nicht m e h r, das zu sein ihr Lenz das Gefühl gab. Wenn wir ein weiteres Mal psychologisch sind, können wir sogar spekulieren, daß sie es nämlich erst wurde, und zwar, als Lenz sie in dem lydischen Konferenzsaal erstmals ansah. Noch zehn Minuten vorher wäre sie zum Beispiel auf eine Idee wie die mit dem ins Meer geworfenen Ehering gar nie gekommen; vor dieser Begegnung war sie möglicherweise eine ganz normale Person gewesen und nach der Trennung von Lenz wurde sie es wieder. Seine Projektion, gleichsam, erhob sie.
Habe ich Dir, Liebste, von der Realitätskraft der Fiktionen nicht schon erzählt? Daß sie wirklich die Macht haben können, Realitäten grundtief zu verändern? Vielleicht erklärt uns nun das diese Liebe, die derart ihre eigene, aus Jessirs sozusagen sachlicher Sicht, Unwahrscheinlichkeit unterlief. Die Lydierin wurde de facto zur Sìdhe und verhielt sich dann auch so - Lenz gegenüber, nicht aber im Beisein ihres vorherigen Partners; da b l i e b sie Hawwa oder Ashouka oder meinethalben Monika: wie sie halt hieß seit Geburt. Der nüchterne Blick läßt uns nüchtern s e i n, sperrt uns ins Profane: so, wie wir gegenüber unseren Eltern, so lange sie im Besitz ihrer geistigen Kräfte sind, immer das Kind bleiben werden, auch noch mit vierzig; der erhebende hingegen erhebt uns tatsächlich und kann uns, wehren wir seine Macht nicht ab, bis in die Organe verändern. Im Moment eines einzigen Fingerschnippsens fällt alle Kleinheit von uns weg... auch die einer gewissen moralischen Haltung.
Allein mithin, daß Lenz diesen Blick auf sie hatte, der ihr solch eine innere Freiheit gab, machte sie ihm gewogen, und sie revanchierte sich dann mit s e i n e r Befreiung, so daß er aus dieser unguten Ehe, die ihn kleinhielt, herauskam. Bis er halt auch bei der Lydierin versagte, so daß nicht sie, sondern Wiebke die Tochter bekam.
Davon weiß sie natürlich nichts, wird es wohl auch nie erfahren. Die Paare kennen sich ja nicht. Obwohl...
Erinnere Dich, daß Wiebke und Gerald – es war ihre möglicherweise innigste Zeit - nach Triest gefahren waren und vor der Venusfigur gestanden hatten, im Museo Revoltella, Du weißt schon, nur wenige Schritte vom Yachthafen weg, um den wir beide so oft Hand in Hand herumspaziert sind. Diese Sonnenuntergänge, Sìdhe, in deren glühendem, von blauen und brennend orangenen Streifen durchsetzten Rot sich die Hunderte Filigranmasten wiegten, während langsam der schwarze Samt herunter zu uns sinkt, der zur Nacht werden wird, uns zu umfangen... Wie wir da immer gestanden haben, Du und ich, als Ichdu: Durch Deine Hand, in meine, lief Dein Blut, und meines in Deine. -
So haben auch Wiebke und Gerald damals dagestanden. Liebespaare tun immer dasselbe, nicht nur gleiche, und dennoch sind sie, ein jedes, einzig. So lange es mit ihnen halt währt, weil gegenseitig ihre Erhebung währt. Bis es zum ersten nüchternen Blick kommt und dann schon das Profane, das unsern Alltag aufs Gleis setzt. Die Erhebung wird ins je Innre verschoben und darin verwahrt, von Zeit zu Zeit gucken wir rein und sehen‘s uns, wie eine Erinnerung, an. Da sind wir dann schon alt geworden, egal, ob mit dreißig, vierzig, fünfzig. „Eigentlich ist er anders“, sagen wir uns dann, wenn er wieder einmal unsensibel, vielleicht sogar grob zu uns war. Sogar Brutalitäten, sei es der Seele, sei es körperliche Gewalt, können Frauen ertragen, ertragen sie oft, sofern nur ihr inneres Schatzkästchen keine Risse bekommt. Männer hingegen, Geschäftsmänner, nun ja, stemmen sich in die Fassade. So behält das Gebilde innen und außen die Form, sowohl imaginär wie für die Ökonomie, und für die bürgerliche der Gesellschaft.
Bis ein Lenz kommt, der, was er auslöst, auflöst, vielleicht gar nicht weiß. Denn da wirkt etwas aus ihm und hat die Lydierin bestrahlt, das er selbst vergessen hatte. Es ist doch die Frage, wieso ausgerechnet er, Lenz, in ihr diese Veränderung bewirken konnte. Objektiv spricht alles dagegen: Vergiß nicht, Liebste, welch ein Banker er war, überdies keiner von sonderlicher Stärke; diese, eindeutig, war bei seiner Ehefrau; eine kühle aber, kalkulierend bewußte.
Vielleicht müssen wir bis in Lenzens frühe Kindheit zurück. Da hat ihn irgend ein Erlebnis geprägt, das erst in dem Moment seine Strahlkraft freiwerden ließ, als die Lydierin den Konferenzraum betrat. Erzählte ich schon, daß er, Lenz, diese Frau gar nicht sehen mußte, sondern sie kam ihm im Rücken herein? Trotzdem spürte er sie sofort: wie wenn ein glühender Wind plötzlich anweht; man hat ihn augenblicklich im Nacken. Wäre sie ihm früher erschienen, vor, sagen wir, dreiundzwanzig Jahren, sein gesamtes Leben wäre anders verlaufen. Da hätte es seine Ehe noch gar nicht gegeben.
Die Wirklichkeit wollte es anders, lief auf den queren Mann hinaus, der Briefe ins Nichts im Grenzhäuschen schreibt und Mauern ohne Mauerzweck baut, sehr gealtert bereits. Es gibt Trennungen, die uns in kaum vierfünf Wochen zusammengestauchte Jahre kosten; wir altern quasi über Nacht, und man sieht es uns an. Plötzlich sind da Falten in der fortan nicht mehr glättbaren Haut, und die Mundwinkel haben einen Zug in die Gravitation. Männer kann das schärfen, wir sprechen dann von Markantheit. Frauen allerdings, zumal ohne vorhergegangene Gravidität... So gesehen hat Lenz, als Wiebke vor der Mauer steht, einfach nur Geschlechtsglück. Sie wiederum, als Mutter, hat sich Bitterkeit gar nicht erst erlaubt.
Neben ihr hüpft Dianamaria, sie ist jetzt acht, auf und ab, weil sie über sie, die Mauer, hinweggucken will. Dann pest sie los, die Mauer entlang, um sie herum. „He, paß auf, wohin du läufst!“ - Das nun, daß da draußen jemand Deutsch spricht, zumal mit solch heller lebendiger Stimme, holt Lenz, der dumpfend drinnen am Tisch sitzt und seinen, wie er noch nicht weiß, allerletzten Brief schreibt, aus dem Grübeln. Wir könnten, Innigste, denken, sie, Wiebke, habe gar nicht für die Tochter gerufen, sondern für i h n. Vergiß aber nicht, daß sie ihren Gerald weiterhin liebt. Es wird jetzt etwas geschehen, das viel öfter vorkommt, als wahrgehabt werden soll: daß wir mehrfach lieben können.
Die Liebesgeschichten könnten gesunden, Wiebkes, Lenzens.
Sie, also Wiebke, hatte beschlossen, für eine Woche noch einmal an die alten Plätze zu fahren, aus Berlin, nach Triest, war schon am Vormittag mit der Tochter um den Yachthafen rum, dann ins Ravoltella gegangen, der Venus wegen, die aber, wie ich erzählt habe, längst weggepackt im Magazin stand. Doch es gab unter einer magielosen Nachbildung der Statue eine Tafel, die ihre Geschichte erzählte; selbstverständlich wurde der letterautore erwähnt, in dessen Häuschen sich diese Venus gefunden habe, quasi als sein Nachlaß.
Dann freilich wäre Lenz, wenn das mit der erklärenden Tafel stimmt, schon tot.
Wir meinen also eine andere Venusfigur. Oder Lenz war nach seinem Zusammenbruch durchaus nicht gestorben, sondern ins Krankenhaus gekommen. - Nein, woher diese Figur stamme und wie sie in sein Grenzhäuschen gekommen sei, wisse er nicht. So versicherte er, als man ihn später befragte. Er habe auch gar kein Interesse an ihr, die Bildenden Künste seien ihm fremd. Immerhin war er noch weltlich genug, sich für die Überlassung der Venus einen kleinen Betrag vom Museum auszubedingen.
Mit der Erfahrung eines ersten Herzinfarkts, Herz!, eben, kam er vierfünf Wochen später in sein Grenzhäuschen zurück. Und hörte jetzt, dreivier Jahre später, dieses Rufen. Und sah von diesem allerletzten Brief a u f.
„Guten Tag“, sagte Wiebke, als er zur Holztür heraustrat. Vor allem das Töchterchen, von dem er nicht wußte, daß es, auf sozusagen elbische Weise, seines und der Lydierin war, war von dem fremden kantigen und seltsam dunklen Mann wie hypnotisiert. „Sowas tut sie sonst n i e“, sagte Wiebke, als Dianamaria sich völlig umstandslos auf Lenzens Schoß setzte, sich sogar anschmiegte.
Er hatte die beiden hereingebeten. Zum ersten Mal, während Wiebke einigermaßen fassungslos auf die mit den Briefen vollgekleisterten Wände starrte, war sein, so empfand er das plötzlich, Wahn ihm peinlich. So daß er froh war, sich erheben und das im Kessel brodelnde Teewasser von der Gasflamme nehmen zu dürfen. „Läßt mich mal aufstehn?“ Das zu Dianamaria.
„Sie sind Schweizer?“ fragte Wiebke.
„Nein, nur in der Schweiz verheiratet gewesen.“
So viel Weltlichkeit plötzlich, Leichtigkeit vor allem.
„Und Sie? Wo leben S i e?“
„In Berlin.“ Und obwohl sie überhaupt nicht wußte weshalb, erzählte sie: „Auch ich bin geschieden. Trotzdem, ich liebe meinen Mann.“
Etwas später, Lenz war Hand in Hand mit seiner kleinen Tochter hinaus, um ihr den Garten zu zeigen, schritt Wiebke die Wände ab und las, was sich lesen noch ließ. Lenz nie, auch später nicht, doch sie, in diesen Minuten, begriff, weshalb man die Statue ausgerechnet hier gefunden hatte.
Beide liebten sie in ein Nichts. So etwas verbindet. Vielleicht ist eine solche Parallelität sogar die Voraussetzung dafür, sich auf etwas Neues einzulassen. Seelenparallelen. Unwahrscheinlich freilich, daß sie, Wiebke und Lenz, schon an diesem Tag... auch an den folgenden Tagen nicht. Sowieso ging Wiebkes Kurzurlaub zuende, Dianamaria mußte in die Schule.
Ganze zwei Monate, Geliebte, verstrichen. Aber man hielt den Kontakt übers Cellulare. Das war ein bißchen teuer, aber das Grenzhäuschen hatte ja keinen Festnetzanschluß. An sich wäre es nun an Lenz gewesen, nach Berlin zu fliegen, um auch zu ergreifen, was sich bot. Doch blieb er zu sehr Eigenbrötler. So daß dann abermals Wiebke es ist, vor seiner Tür zu stehen, ohne die Tochter diesmal. Die ist mit dem Vater an der Ostsee.
Es gibt Vereinigungen aus Trauer. Nur dann sind sie gut, wenn b e i d e trauern. Ich weiß, meine Fernste, sehr genau, wovon ich hier schreibe. Es tut mir weh, es zu schreiben. Es tut der anderen weh, dem anderen. Doch in diesem Fall war der Liebesakt wahr, körperliche Liebkosung als ein gegenseitiges Trösten. Sie wußten es auch, beide. Wiebke wußte, als er sie leckte, daß zwar sie auch gemeint war, doch ebenso war die Lydierin gemeint; gleichsam war sie, Wiebke, von ihr ganz erfüllt, mehr fast als Lenz: - war sie, war sie m i t. Und er, als ihre Lippen über seine Eichel glitten, war zugleich Gerald. So daß schließlich beider Orgasmus – es ist so bezeichnend wie emphatisch wahr, daß er kein Kondom nahm, obwohl Wiebke ein Päckchen in der Handtasche hatte, nun ja, jenseits des Verfalldatums schon -, so daß dieser sich geradezu verschießende Höhepunkt deshalb derart vulkanisch wurde, weil es nicht nur einer von zweien war, sondern zweier P a a r e, eines konkreten und eines imaginären, jenes in dieses, unablösbar überkreuz, hineingeschmiegt. Die Größe beider Vereinten wie ihrer Vereinigung selbst liegt in ihrer selbstermächtigten Freiheit: nicht einmal auf die Idee zu kommen, daß man gar nicht gemeint sei. Denn wenn wir, Geliebte, lieben, lieben wir die Geschichte unserer Liebsten mit, und also auch ihrer Lieben, ob die nun waren oder noch sind. Und ob sie bleiben.
Alban
*
(11.08 Uhr.)
Ich sehe Dich, Sìdhe, in dem Triester Café sitzen, in das Du mich bei meinem ersten Besuch geführt hast. Du weißt schon, im Tommaseo, wo Du von uns das Selfie geschossen hast, bevor Du es an Giulia MMStest. Die carta di visità liegt rechts neben mir genau so auf dem Schreibtisch, wie dort neben Dir auf dem Tischchen Dein iPhone. Ich habe sie immer hier liegen lassen, wie auch die Serviette, auf der als Deiner mein Nachname steht, mit dem Signora davor. Du hattest in der Oper einen Pausentisch reserviert, doch nicht Deinen, sondern eben meinen Namen genannt. Also nahm die Bedienung an, Du seist meine Frau. Wie glücklich mich das gemacht hat! Eine Möglichkeit, unversehens, die aus dem Himmel auf meine Bereitschaft herabfiel – ein Zeichen, dachte ich, ein weiteres von alleden vielen, die unsere Wochen so auffällig begleitet haben.
Ja, ich glaubte an sie und glaube sie immer noch, vielleicht. Ich kann mit der Zeit so schlecht rechnen, gerate immer wieder in Panik, auch wenn sie unterdessen milder geworden ist, abgeklärt, kannst Du sagen: ein anderes Wort für fast resigniert.
Man glaubt sich im Tommaseo nicht in Italien. Du stützt beide Ellenbogen auf die glänzende runde Platte, und Dein unterer Kopf liegt in Deinen flachen Händen; die Spitzen beider kleinen Finger liegen an den Augenwinkeln. Halb fällt Dein Haar rechts über die Hand, und genau in der Höhe beider Handtellerenden lächelt Dein Mund. Es sind melancholische Lippen. Was mich aber besonders anrührt, ist, daß die sich in Höhe der oberen Augenlider je rechts und links hinfortbiegende Linie jenes Scheibschrift-Y ergibt, das für das schematische Zeichen des weiblichen Geschlechtes gilt. - Ja, ich glaube an Zeichen.
Deine Augen sind halb geschlossen; es mag falsch sein, sie halb geöffnet zu nennen; sie sind auch zu dunkel dafür. Samten dunkel: Das hat mich von unserer ersten Begegnung an nicht mehr freigelassen. Es würde Zeit, von Deinen Augenbrauen zu schreiben, fein, klar konturiert, nicht künstlich dünn. Ich spüre das leichte Kitzeln, wenn meine Lippen sie berührten, keines aus Widerstreben, sondern wie feine Gegen- oder Zurückküsse, hundertfache. Darüber die klare ovale Stirn, darunter die Nase, über deren Steg ich scherzte, weil er seltsam flach ist. „Wie eine kleine Skischanze“, habe ich damals und später oft noch gesagt und ließ meinen Zeigefinger drauf Abfahrt nehmen. „Es gibt keine“, schreibt Edgar Poe, „hochrangige Schönheit ohne ein gewisses Mißverhältnis in ihren Proportionen.“
Der Satz begleitet mich seit meiner Jugend, ich habe ihn hier und dort bereits zitiert. Schon seinethalben habe ich recht, Dich eine Hohe Frau zu nennen. Wenn Du magst, kannst Du sagen: dich dazu zu machen – so, wie Lenz die Lydierin zur Sìdhe werden ließ. Indem ich es tat – und mich dem beugte, völlig – , b i s t Du es geworden, warst es jedenfalls, so lange es uns als Uns g a b. Und wurdest auch selbst zur Literatur, bereits in unserer Realität, so daß diese Briefe imgrunde davon nur das nachträgliche Zeugnis sind, des Geschehens objektivierte Bezeugung. Wir waren so einig in allem, nur in meiner Notwendigkeit nicht, dem Leben mit Dichtung zuleibe zu rücken, ihr Versprechen also einzulösen, anstelle es quasireligiös im Imaginären zu belassen.
Deine Brüste, übrigens, waren die meinen zum ersten Mal, als ich eines der Trägerchen Deines BHs erblickte. Es war, unter der Blusenschulter hervor, ein wenig in Richtung Deines rechten Oberarmes gerutscht und deshalb zu sehen; von „erblickte“ schreibe ich, weil, meine Sìdhe, in dem Wort das Ausmaß meiner Berührung spürbarer wird, auch sie erscheinungshaft. Sicher wirst Du noch wissen, wie auch d a ich staunte, über die Filigranität dieses Trägerchens nämlich und seine, zugleich, klassische Verspieltheit; es gab ein ganz zweckloses Schleifchen daran, ein Schmuckschleifchen zwar, ohne indes ein pures Ornament zu sein. Sondern gewissermaßen war dieses Schleifchen die Seele des BHs und damit die, spürte ich sofort, der Brüste selbst, von denen ich im übrigen keine Vorstellung hatte. Das überraschte mich, weil ich sie normalerweise sehr genau weiß und spüre, ja schon in der Hand habe, ohne sie tatsächlich gesehen zu haben. Gemeinhin reicht mir ein Blick auf den verhüllten Oberkörper und seine Haltung, und mein Instinkt schließt vom Hals und den Händen, sowie von deren Gelenken, auf nahezu alle übrige Anatomie. Hier erkannte ich Zartheit über das Schleifchen allein. Und ebenfalls anders als sonst hatte ich gar kein Begehren, sie nunmehr wirklich anzufassen, sondern beließ sie, als folgte ich Deiner Bewegung, in meiner ätherischen Imagination. Mein Ansehn war seltsam unsexuell, wie wenn man die Flügel eines Schmetterlings nicht berühren mag, um nicht den feinen, ihm lebensnotwendigen Staub von ihnen wegzunehmen.
Selbstverständlich wußte ich, daß es dabei nicht bleiben würde, nicht bei einem wie mir und vor allem nicht einer Frau gegenüber, die Frau eben i s t, nicht etwa, für das nun Du m i c h nimmst, tatsächlich nur Literatur. Übrigens fand das Geschehen auch in Facetime statt, Angesicht zu Angesicht zwar, aber doch in einem räumlichen Entferntsein, das ich durch meinen ersten Besuch in Triest zu wirklicher Nähe gemacht habe, so daß wir da schon – wie schnell Du aus den Jeans kamst! - Leib wurden an Leib. Das hohe Glück, Du Hohe Frau, bestand darin, daß wir einander schön gefunden haben; Du schriebst es mir später sogar.
Nein, ich habe Deine Briefe weiterhin nicht wiedergelesen, erzähle Dir meine pure erinnerte und so konkrete Gegenwart, wie mir meine Visionen konkret sind, wenn ich Dich auf der Straße sehe, zuletzt auf der unteren Prenzlauer Alle. Du weißt schon, als ich vom Training kam. Und obwohl mir spätestens am Tag darauf völlig klar war, mich getäuscht zu haben, habe ich gestern, kann man das sagen?, recherchiert. Nämlich bin ich zur Humboldt-Uni geradelt und mir, was gegen Ende eines Semesters ein bißchen Aufwand ist, das Vorlesungsverzeichnis besorgt. Ich kam mir, glaub mir, selbst ein bißchen irre dabei vor. Was soll eine italienische Germanistin, die nicht berühmt, vielleicht nicht einmal bekannt in Berlin ist, an diese Lehranstalt bringen? Zumal mit dem Schwerpunkt mediavistischer Germanistik und Deiner Lieblingsorchidee Minne. Vor allem, ich meine, Lehraufträge.... keiner, finanziell, würde den Aufwand lohnen, ein- oder zweimal wöchentlich von Triest nach Berlin zu fliegen.
Ich fand Deinen Namen auch nicht. Doch weil ich nun einmal dabei war, „recherchierte“ ich in Triest weiter; übers Netz geht das ganz gut. Und tatsächlich! Ich weiß jetzt sogar die Nummer des Raums, in dem Du unterrichtest. (Typischerweise sind die Vorlektüren, die Du erwartest, heftig; in Deutschland würde sich kaum jemand einschreiben, wenn ihm solche Staffeln den Weg in den Seminarraum verstellen: Punkte lassen sich mit deutlich weniger Aufwand erlangen.)
Jedenfalls war nun bewiesen, daß meine Vision eine war, es sei denn, Du wärest - jenseits von mir, Deinem Faun - wirklich noch Sidhe und an die Gebote der menschlichen Zeiten und Räume somit nicht gebunden. Dein schattender Blick im Tommaseo, leicht nach links hinab, legt sie zwar nahe, diese zweite Deiner Existenzen, ein schubertsches Feesein neben der Realität - dem Zwie- und Zwischencharakter dieses der italienischen Gegenwart geradezu restlos enthobenen Cafés völlig gemäß -, aber da habe ich bei Dir gesessen, Dir nah gegenüber, und diese Wahrheit zumindest mitbewirkt, eben als der Faun, der auch ich nur bei Dir bin und der jetzt aber zum Sport geht:
Dein
Πάν
*
>>>> Dreißigster Brief nach Triest
Achtundzwanzigster Brief nach Triest <<<<
Auch das aber täuscht, meist stirbt ja einer vor der andren und stirbt ihr schnell, wenn es gutgeht, nur nach. Geht‘s aber langsam, wartet das Heim und verwahrt noch für Jahre, in denen selbst die Erinnerung Fotos gleich ausbleicht, die nicht ausreichend lange im Fixierbecken lagen. Ja, vielleicht würde es Zeiten geben, in denen mal er, mal sie den Blick auf mögliche Andere würfe, und selbst, wenn sie der Versuchung erlägen, so doch immer nur kurz und imgrunde in einer Verzweiflung, aus der nur Wiebke Gerald und er ihr wieder hinaushelfen könnte. Nicht, daß sie sich das wirklich vorstellten, als sie so jung aneinanderlagen, aber etwas in ihnen beiden wußte davon und ahnte doch nicht, wie tief die Verwundungen einschneiden würden. Und Jessir und die Lydierin hätten nie einen Lenz bedacht, der aus der Sicht dieses radikalen Journalisten wirklich das unmöglichste war, das sich hätte voausglauben lassen. Solch eine blasse Type! Und dennoch... - Jedenfalls hätte er, als ihn die Frau dieses Bankers wegen verließ, nicht nur verletzt, nein, weißGott auch beleidigt sein können. Schließlich war nicht zu ahnen gewesen, wie Lenz sich später entwickeln würde, wenn auch nur, wir erzählten es schon, nun e r durch der Lydierin Verlust.
Tatsächlich nahm Jessir die Liaison seiner Gefährtin anfangs nicht sehr ernst, belächelte sie sogar; gut möglich, daß diese Frau sich erst d a s für Lenz wirklich entscheiden ließ. Denn daß Jessir so überhaupt nicht eifersüchtig war, setzte quasi ihren Wert herab, beleidigte also wiederum sie. Zumal hatte der Journalist neuerlich ganz andres um die Ohren, stand quasi schon wieder für seinen nächsten Abflug in den Outdoors. Auf! hieß es - in eins der nächsten Krisengebiete. Auf seine Weise war Jessir durchaus süchtig, man kann auch besessen sagen; seine Präferenzen jedenfalls erhoben seinen Beruf deutlich über die Beziehung, so sehr er seine Lydierin liebte. - „Seine“ Lydierin: das bescheibt schon, wie für ihn diese Lebensgemeinschaft zwar Sicherheit war, daß er die Frau aber nicht als das Ereignis empfand, oder nicht m e h r, das zu sein ihr Lenz das Gefühl gab. Wenn wir ein weiteres Mal psychologisch sind, können wir sogar spekulieren, daß sie es nämlich erst wurde, und zwar, als Lenz sie in dem lydischen Konferenzsaal erstmals ansah. Noch zehn Minuten vorher wäre sie zum Beispiel auf eine Idee wie die mit dem ins Meer geworfenen Ehering gar nie gekommen; vor dieser Begegnung war sie möglicherweise eine ganz normale Person gewesen und nach der Trennung von Lenz wurde sie es wieder. Seine Projektion, gleichsam, erhob sie.
Habe ich Dir, Liebste, von der Realitätskraft der Fiktionen nicht schon erzählt? Daß sie wirklich die Macht haben können, Realitäten grundtief zu verändern? Vielleicht erklärt uns nun das diese Liebe, die derart ihre eigene, aus Jessirs sozusagen sachlicher Sicht, Unwahrscheinlichkeit unterlief. Die Lydierin wurde de facto zur Sìdhe und verhielt sich dann auch so - Lenz gegenüber, nicht aber im Beisein ihres vorherigen Partners; da b l i e b sie Hawwa oder Ashouka oder meinethalben Monika: wie sie halt hieß seit Geburt. Der nüchterne Blick läßt uns nüchtern s e i n, sperrt uns ins Profane: so, wie wir gegenüber unseren Eltern, so lange sie im Besitz ihrer geistigen Kräfte sind, immer das Kind bleiben werden, auch noch mit vierzig; der erhebende hingegen erhebt uns tatsächlich und kann uns, wehren wir seine Macht nicht ab, bis in die Organe verändern. Im Moment eines einzigen Fingerschnippsens fällt alle Kleinheit von uns weg... auch die einer gewissen moralischen Haltung.
Allein mithin, daß Lenz diesen Blick auf sie hatte, der ihr solch eine innere Freiheit gab, machte sie ihm gewogen, und sie revanchierte sich dann mit s e i n e r Befreiung, so daß er aus dieser unguten Ehe, die ihn kleinhielt, herauskam. Bis er halt auch bei der Lydierin versagte, so daß nicht sie, sondern Wiebke die Tochter bekam.
Davon weiß sie natürlich nichts, wird es wohl auch nie erfahren. Die Paare kennen sich ja nicht. Obwohl...
Erinnere Dich, daß Wiebke und Gerald – es war ihre möglicherweise innigste Zeit - nach Triest gefahren waren und vor der Venusfigur gestanden hatten, im Museo Revoltella, Du weißt schon, nur wenige Schritte vom Yachthafen weg, um den wir beide so oft Hand in Hand herumspaziert sind. Diese Sonnenuntergänge, Sìdhe, in deren glühendem, von blauen und brennend orangenen Streifen durchsetzten Rot sich die Hunderte Filigranmasten wiegten, während langsam der schwarze Samt herunter zu uns sinkt, der zur Nacht werden wird, uns zu umfangen... Wie wir da immer gestanden haben, Du und ich, als Ichdu: Durch Deine Hand, in meine, lief Dein Blut, und meines in Deine. -
So haben auch Wiebke und Gerald damals dagestanden. Liebespaare tun immer dasselbe, nicht nur gleiche, und dennoch sind sie, ein jedes, einzig. So lange es mit ihnen halt währt, weil gegenseitig ihre Erhebung währt. Bis es zum ersten nüchternen Blick kommt und dann schon das Profane, das unsern Alltag aufs Gleis setzt. Die Erhebung wird ins je Innre verschoben und darin verwahrt, von Zeit zu Zeit gucken wir rein und sehen‘s uns, wie eine Erinnerung, an. Da sind wir dann schon alt geworden, egal, ob mit dreißig, vierzig, fünfzig. „Eigentlich ist er anders“, sagen wir uns dann, wenn er wieder einmal unsensibel, vielleicht sogar grob zu uns war. Sogar Brutalitäten, sei es der Seele, sei es körperliche Gewalt, können Frauen ertragen, ertragen sie oft, sofern nur ihr inneres Schatzkästchen keine Risse bekommt. Männer hingegen, Geschäftsmänner, nun ja, stemmen sich in die Fassade. So behält das Gebilde innen und außen die Form, sowohl imaginär wie für die Ökonomie, und für die bürgerliche der Gesellschaft.
Bis ein Lenz kommt, der, was er auslöst, auflöst, vielleicht gar nicht weiß. Denn da wirkt etwas aus ihm und hat die Lydierin bestrahlt, das er selbst vergessen hatte. Es ist doch die Frage, wieso ausgerechnet er, Lenz, in ihr diese Veränderung bewirken konnte. Objektiv spricht alles dagegen: Vergiß nicht, Liebste, welch ein Banker er war, überdies keiner von sonderlicher Stärke; diese, eindeutig, war bei seiner Ehefrau; eine kühle aber, kalkulierend bewußte.
Vielleicht müssen wir bis in Lenzens frühe Kindheit zurück. Da hat ihn irgend ein Erlebnis geprägt, das erst in dem Moment seine Strahlkraft freiwerden ließ, als die Lydierin den Konferenzraum betrat. Erzählte ich schon, daß er, Lenz, diese Frau gar nicht sehen mußte, sondern sie kam ihm im Rücken herein? Trotzdem spürte er sie sofort: wie wenn ein glühender Wind plötzlich anweht; man hat ihn augenblicklich im Nacken. Wäre sie ihm früher erschienen, vor, sagen wir, dreiundzwanzig Jahren, sein gesamtes Leben wäre anders verlaufen. Da hätte es seine Ehe noch gar nicht gegeben.
Die Wirklichkeit wollte es anders, lief auf den queren Mann hinaus, der Briefe ins Nichts im Grenzhäuschen schreibt und Mauern ohne Mauerzweck baut, sehr gealtert bereits. Es gibt Trennungen, die uns in kaum vierfünf Wochen zusammengestauchte Jahre kosten; wir altern quasi über Nacht, und man sieht es uns an. Plötzlich sind da Falten in der fortan nicht mehr glättbaren Haut, und die Mundwinkel haben einen Zug in die Gravitation. Männer kann das schärfen, wir sprechen dann von Markantheit. Frauen allerdings, zumal ohne vorhergegangene Gravidität... So gesehen hat Lenz, als Wiebke vor der Mauer steht, einfach nur Geschlechtsglück. Sie wiederum, als Mutter, hat sich Bitterkeit gar nicht erst erlaubt.
Neben ihr hüpft Dianamaria, sie ist jetzt acht, auf und ab, weil sie über sie, die Mauer, hinweggucken will. Dann pest sie los, die Mauer entlang, um sie herum. „He, paß auf, wohin du läufst!“ - Das nun, daß da draußen jemand Deutsch spricht, zumal mit solch heller lebendiger Stimme, holt Lenz, der dumpfend drinnen am Tisch sitzt und seinen, wie er noch nicht weiß, allerletzten Brief schreibt, aus dem Grübeln. Wir könnten, Innigste, denken, sie, Wiebke, habe gar nicht für die Tochter gerufen, sondern für i h n. Vergiß aber nicht, daß sie ihren Gerald weiterhin liebt. Es wird jetzt etwas geschehen, das viel öfter vorkommt, als wahrgehabt werden soll: daß wir mehrfach lieben können.
Die Liebesgeschichten könnten gesunden, Wiebkes, Lenzens.
Sie, also Wiebke, hatte beschlossen, für eine Woche noch einmal an die alten Plätze zu fahren, aus Berlin, nach Triest, war schon am Vormittag mit der Tochter um den Yachthafen rum, dann ins Ravoltella gegangen, der Venus wegen, die aber, wie ich erzählt habe, längst weggepackt im Magazin stand. Doch es gab unter einer magielosen Nachbildung der Statue eine Tafel, die ihre Geschichte erzählte; selbstverständlich wurde der letterautore erwähnt, in dessen Häuschen sich diese Venus gefunden habe, quasi als sein Nachlaß.
Dann freilich wäre Lenz, wenn das mit der erklärenden Tafel stimmt, schon tot.
Wir meinen also eine andere Venusfigur. Oder Lenz war nach seinem Zusammenbruch durchaus nicht gestorben, sondern ins Krankenhaus gekommen. - Nein, woher diese Figur stamme und wie sie in sein Grenzhäuschen gekommen sei, wisse er nicht. So versicherte er, als man ihn später befragte. Er habe auch gar kein Interesse an ihr, die Bildenden Künste seien ihm fremd. Immerhin war er noch weltlich genug, sich für die Überlassung der Venus einen kleinen Betrag vom Museum auszubedingen.
Mit der Erfahrung eines ersten Herzinfarkts, Herz!, eben, kam er vierfünf Wochen später in sein Grenzhäuschen zurück. Und hörte jetzt, dreivier Jahre später, dieses Rufen. Und sah von diesem allerletzten Brief a u f.
„Guten Tag“, sagte Wiebke, als er zur Holztür heraustrat. Vor allem das Töchterchen, von dem er nicht wußte, daß es, auf sozusagen elbische Weise, seines und der Lydierin war, war von dem fremden kantigen und seltsam dunklen Mann wie hypnotisiert. „Sowas tut sie sonst n i e“, sagte Wiebke, als Dianamaria sich völlig umstandslos auf Lenzens Schoß setzte, sich sogar anschmiegte.
Er hatte die beiden hereingebeten. Zum ersten Mal, während Wiebke einigermaßen fassungslos auf die mit den Briefen vollgekleisterten Wände starrte, war sein, so empfand er das plötzlich, Wahn ihm peinlich. So daß er froh war, sich erheben und das im Kessel brodelnde Teewasser von der Gasflamme nehmen zu dürfen. „Läßt mich mal aufstehn?“ Das zu Dianamaria.
„Sie sind Schweizer?“ fragte Wiebke.
„Nein, nur in der Schweiz verheiratet gewesen.“
So viel Weltlichkeit plötzlich, Leichtigkeit vor allem.
„Und Sie? Wo leben S i e?“
„In Berlin.“ Und obwohl sie überhaupt nicht wußte weshalb, erzählte sie: „Auch ich bin geschieden. Trotzdem, ich liebe meinen Mann.“
Etwas später, Lenz war Hand in Hand mit seiner kleinen Tochter hinaus, um ihr den Garten zu zeigen, schritt Wiebke die Wände ab und las, was sich lesen noch ließ. Lenz nie, auch später nicht, doch sie, in diesen Minuten, begriff, weshalb man die Statue ausgerechnet hier gefunden hatte.
Beide liebten sie in ein Nichts. So etwas verbindet. Vielleicht ist eine solche Parallelität sogar die Voraussetzung dafür, sich auf etwas Neues einzulassen. Seelenparallelen. Unwahrscheinlich freilich, daß sie, Wiebke und Lenz, schon an diesem Tag... auch an den folgenden Tagen nicht. Sowieso ging Wiebkes Kurzurlaub zuende, Dianamaria mußte in die Schule.
Ganze zwei Monate, Geliebte, verstrichen. Aber man hielt den Kontakt übers Cellulare. Das war ein bißchen teuer, aber das Grenzhäuschen hatte ja keinen Festnetzanschluß. An sich wäre es nun an Lenz gewesen, nach Berlin zu fliegen, um auch zu ergreifen, was sich bot. Doch blieb er zu sehr Eigenbrötler. So daß dann abermals Wiebke es ist, vor seiner Tür zu stehen, ohne die Tochter diesmal. Die ist mit dem Vater an der Ostsee.
Es gibt Vereinigungen aus Trauer. Nur dann sind sie gut, wenn b e i d e trauern. Ich weiß, meine Fernste, sehr genau, wovon ich hier schreibe. Es tut mir weh, es zu schreiben. Es tut der anderen weh, dem anderen. Doch in diesem Fall war der Liebesakt wahr, körperliche Liebkosung als ein gegenseitiges Trösten. Sie wußten es auch, beide. Wiebke wußte, als er sie leckte, daß zwar sie auch gemeint war, doch ebenso war die Lydierin gemeint; gleichsam war sie, Wiebke, von ihr ganz erfüllt, mehr fast als Lenz: - war sie, war sie m i t. Und er, als ihre Lippen über seine Eichel glitten, war zugleich Gerald. So daß schließlich beider Orgasmus – es ist so bezeichnend wie emphatisch wahr, daß er kein Kondom nahm, obwohl Wiebke ein Päckchen in der Handtasche hatte, nun ja, jenseits des Verfalldatums schon -, so daß dieser sich geradezu verschießende Höhepunkt deshalb derart vulkanisch wurde, weil es nicht nur einer von zweien war, sondern zweier P a a r e, eines konkreten und eines imaginären, jenes in dieses, unablösbar überkreuz, hineingeschmiegt. Die Größe beider Vereinten wie ihrer Vereinigung selbst liegt in ihrer selbstermächtigten Freiheit: nicht einmal auf die Idee zu kommen, daß man gar nicht gemeint sei. Denn wenn wir, Geliebte, lieben, lieben wir die Geschichte unserer Liebsten mit, und also auch ihrer Lieben, ob die nun waren oder noch sind. Und ob sie bleiben.
Alban
(11.08 Uhr.)
Ich sehe Dich, Sìdhe, in dem Triester Café sitzen, in das Du mich bei meinem ersten Besuch geführt hast. Du weißt schon, im Tommaseo, wo Du von uns das Selfie geschossen hast, bevor Du es an Giulia MMStest. Die carta di visità liegt rechts neben mir genau so auf dem Schreibtisch, wie dort neben Dir auf dem Tischchen Dein iPhone. Ich habe sie immer hier liegen lassen, wie auch die Serviette, auf der als Deiner mein Nachname steht, mit dem Signora davor. Du hattest in der Oper einen Pausentisch reserviert, doch nicht Deinen, sondern eben meinen Namen genannt. Also nahm die Bedienung an, Du seist meine Frau. Wie glücklich mich das gemacht hat! Eine Möglichkeit, unversehens, die aus dem Himmel auf meine Bereitschaft herabfiel – ein Zeichen, dachte ich, ein weiteres von alleden vielen, die unsere Wochen so auffällig begleitet haben.
Ja, ich glaubte an sie und glaube sie immer noch, vielleicht. Ich kann mit der Zeit so schlecht rechnen, gerate immer wieder in Panik, auch wenn sie unterdessen milder geworden ist, abgeklärt, kannst Du sagen: ein anderes Wort für fast resigniert.
Man glaubt sich im Tommaseo nicht in Italien. Du stützt beide Ellenbogen auf die glänzende runde Platte, und Dein unterer Kopf liegt in Deinen flachen Händen; die Spitzen beider kleinen Finger liegen an den Augenwinkeln. Halb fällt Dein Haar rechts über die Hand, und genau in der Höhe beider Handtellerenden lächelt Dein Mund. Es sind melancholische Lippen. Was mich aber besonders anrührt, ist, daß die sich in Höhe der oberen Augenlider je rechts und links hinfortbiegende Linie jenes Scheibschrift-Y ergibt, das für das schematische Zeichen des weiblichen Geschlechtes gilt. - Ja, ich glaube an Zeichen.
Deine Augen sind halb geschlossen; es mag falsch sein, sie halb geöffnet zu nennen; sie sind auch zu dunkel dafür. Samten dunkel: Das hat mich von unserer ersten Begegnung an nicht mehr freigelassen. Es würde Zeit, von Deinen Augenbrauen zu schreiben, fein, klar konturiert, nicht künstlich dünn. Ich spüre das leichte Kitzeln, wenn meine Lippen sie berührten, keines aus Widerstreben, sondern wie feine Gegen- oder Zurückküsse, hundertfache. Darüber die klare ovale Stirn, darunter die Nase, über deren Steg ich scherzte, weil er seltsam flach ist. „Wie eine kleine Skischanze“, habe ich damals und später oft noch gesagt und ließ meinen Zeigefinger drauf Abfahrt nehmen. „Es gibt keine“, schreibt Edgar Poe, „hochrangige Schönheit ohne ein gewisses Mißverhältnis in ihren Proportionen.“
Der Satz begleitet mich seit meiner Jugend, ich habe ihn hier und dort bereits zitiert. Schon seinethalben habe ich recht, Dich eine Hohe Frau zu nennen. Wenn Du magst, kannst Du sagen: dich dazu zu machen – so, wie Lenz die Lydierin zur Sìdhe werden ließ. Indem ich es tat – und mich dem beugte, völlig – , b i s t Du es geworden, warst es jedenfalls, so lange es uns als Uns g a b. Und wurdest auch selbst zur Literatur, bereits in unserer Realität, so daß diese Briefe imgrunde davon nur das nachträgliche Zeugnis sind, des Geschehens objektivierte Bezeugung. Wir waren so einig in allem, nur in meiner Notwendigkeit nicht, dem Leben mit Dichtung zuleibe zu rücken, ihr Versprechen also einzulösen, anstelle es quasireligiös im Imaginären zu belassen.
Deine Brüste, übrigens, waren die meinen zum ersten Mal, als ich eines der Trägerchen Deines BHs erblickte. Es war, unter der Blusenschulter hervor, ein wenig in Richtung Deines rechten Oberarmes gerutscht und deshalb zu sehen; von „erblickte“ schreibe ich, weil, meine Sìdhe, in dem Wort das Ausmaß meiner Berührung spürbarer wird, auch sie erscheinungshaft. Sicher wirst Du noch wissen, wie auch d a ich staunte, über die Filigranität dieses Trägerchens nämlich und seine, zugleich, klassische Verspieltheit; es gab ein ganz zweckloses Schleifchen daran, ein Schmuckschleifchen zwar, ohne indes ein pures Ornament zu sein. Sondern gewissermaßen war dieses Schleifchen die Seele des BHs und damit die, spürte ich sofort, der Brüste selbst, von denen ich im übrigen keine Vorstellung hatte. Das überraschte mich, weil ich sie normalerweise sehr genau weiß und spüre, ja schon in der Hand habe, ohne sie tatsächlich gesehen zu haben. Gemeinhin reicht mir ein Blick auf den verhüllten Oberkörper und seine Haltung, und mein Instinkt schließt vom Hals und den Händen, sowie von deren Gelenken, auf nahezu alle übrige Anatomie. Hier erkannte ich Zartheit über das Schleifchen allein. Und ebenfalls anders als sonst hatte ich gar kein Begehren, sie nunmehr wirklich anzufassen, sondern beließ sie, als folgte ich Deiner Bewegung, in meiner ätherischen Imagination. Mein Ansehn war seltsam unsexuell, wie wenn man die Flügel eines Schmetterlings nicht berühren mag, um nicht den feinen, ihm lebensnotwendigen Staub von ihnen wegzunehmen.
Selbstverständlich wußte ich, daß es dabei nicht bleiben würde, nicht bei einem wie mir und vor allem nicht einer Frau gegenüber, die Frau eben i s t, nicht etwa, für das nun Du m i c h nimmst, tatsächlich nur Literatur. Übrigens fand das Geschehen auch in Facetime statt, Angesicht zu Angesicht zwar, aber doch in einem räumlichen Entferntsein, das ich durch meinen ersten Besuch in Triest zu wirklicher Nähe gemacht habe, so daß wir da schon – wie schnell Du aus den Jeans kamst! - Leib wurden an Leib. Das hohe Glück, Du Hohe Frau, bestand darin, daß wir einander schön gefunden haben; Du schriebst es mir später sogar.
Nein, ich habe Deine Briefe weiterhin nicht wiedergelesen, erzähle Dir meine pure erinnerte und so konkrete Gegenwart, wie mir meine Visionen konkret sind, wenn ich Dich auf der Straße sehe, zuletzt auf der unteren Prenzlauer Alle. Du weißt schon, als ich vom Training kam. Und obwohl mir spätestens am Tag darauf völlig klar war, mich getäuscht zu haben, habe ich gestern, kann man das sagen?, recherchiert. Nämlich bin ich zur Humboldt-Uni geradelt und mir, was gegen Ende eines Semesters ein bißchen Aufwand ist, das Vorlesungsverzeichnis besorgt. Ich kam mir, glaub mir, selbst ein bißchen irre dabei vor. Was soll eine italienische Germanistin, die nicht berühmt, vielleicht nicht einmal bekannt in Berlin ist, an diese Lehranstalt bringen? Zumal mit dem Schwerpunkt mediavistischer Germanistik und Deiner Lieblingsorchidee Minne. Vor allem, ich meine, Lehraufträge.... keiner, finanziell, würde den Aufwand lohnen, ein- oder zweimal wöchentlich von Triest nach Berlin zu fliegen.
Ich fand Deinen Namen auch nicht. Doch weil ich nun einmal dabei war, „recherchierte“ ich in Triest weiter; übers Netz geht das ganz gut. Und tatsächlich! Ich weiß jetzt sogar die Nummer des Raums, in dem Du unterrichtest. (Typischerweise sind die Vorlektüren, die Du erwartest, heftig; in Deutschland würde sich kaum jemand einschreiben, wenn ihm solche Staffeln den Weg in den Seminarraum verstellen: Punkte lassen sich mit deutlich weniger Aufwand erlangen.)
Jedenfalls war nun bewiesen, daß meine Vision eine war, es sei denn, Du wärest - jenseits von mir, Deinem Faun - wirklich noch Sidhe und an die Gebote der menschlichen Zeiten und Räume somit nicht gebunden. Dein schattender Blick im Tommaseo, leicht nach links hinab, legt sie zwar nahe, diese zweite Deiner Existenzen, ein schubertsches Feesein neben der Realität - dem Zwie- und Zwischencharakter dieses der italienischen Gegenwart geradezu restlos enthobenen Cafés völlig gemäß -, aber da habe ich bei Dir gesessen, Dir nah gegenüber, und diese Wahrheit zumindest mitbewirkt, eben als der Faun, der auch ich nur bei Dir bin und der jetzt aber zum Sport geht:
Dein
Πάν
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albannikolaiherbst - Mittwoch, 14. Januar 2015, 12:49- Rubrik: Arbeitsjournal
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