Siebter Brief nach Triest. (Briefe nach Triest, 8).
Lenz hat gestern tatsächlich,
Vertraute,
Arbeitswohnung, den 25. November 2014,
dienstags, 15.32 Uhr,
dienstags, 15.32 Uhr,
versagt.
(Ich muß Dir das nun doch heute schon schreiben, auch wenn Du es erst morgen liest. Es drängt mich; beim Schwimmen dachte ich dauernd darüber nach. Was geschehen war. Was geschieht. Was geschehen wird, geschehen könnte. Sicher ist nur: Es g i n g nicht.
Schwimmen als Meditation, je anderthalb Stunden alleine mit sich und dem Wasser, und um einen wieseln die Krauler, denen es, anders als mir, um Leistung getan ist. Leisten tu ich beim Kraftsport, zu schwimmen für mich heißt, nur die Bewegung zu spüren, aus der meine Gedanken fließen.)
Versagt, es läßt sich anders nicht nennen. Wobei? Aber das hab ich Dir doch erzählt, gestern im Brief, was für Dich nun >>>> vorgestern ist: daß ich fremdgehn, ins Fremde gehen müsse, vielleicht sogar in es eindringen. Obwohl ich, das ist fast ein Prinzip, nur dann penetriere, wenn ich mir ein gemeinsames Kind vorstellen kann und es auch möchte; Präservative sind keine Option.
Jedenfalls kam sie, Amélie, her und tat mit und an Lenz alles, was viele Männer sich nur wünschen. Doch obwohl ich in einer, sexualobjektiv, besseren Situation war als er, ging es nicht. Eine dreiviertel Stunde zwar spielte er erregt mit ihr, nahm sich, kannst Du sagen, an meiner Kälte ein Beispiel, die ich als Distanzierungen in meine BDSM-Spiele schiebe, weil sie die Erregung beider erhöhen. Wobei es unwahrscheinlich ist, daß er, Lenz, das überhaupt könnte. Doch selbst, wenn wir es ihm zugestehen, funktionierte es nicht. Spätestens auf der Couch, als sie schließlich lagen, stiegst Du so in mir auf. Hier hatte ich, Geliebte, doch zuletzt mit D i r gelegen, das konnte gar nicht sein, daß jetzt eine andere Deinen Platz einnahm. Das war völlig unmöglich, fast hätte ich geweint.
Amélie spürt es, spürt Lenzens völlige Abwesenheit,versucht, ihn zurückzuholen, vergeblich. So liegt sie an ihm, den Kopf halb auf seiner Brust, ihre rechte Hand durchstreicht zweidrei Zentimeter seines Brusthaars, drei Finger nur, hin, her, hin; er hat die Augen geschlossen, weil er nicht zur Decke starren will. Tatsächlich denkt er: Entweihung. Die beiden liegen aber anders herum auf der Couch, als wir es zuletzt taten. Unter den Füßen, denkt er, denkt er immerzu, und unter der Überdecke, der Decke darunter und unter noch dem Kissen liegt ihr Hemdchen, i h r e s, nicht ihrs, das immer noch, aber nur noch wenig, nach Dir duftet. Wir dürfen hier nicht liegenbleiben! Ich zerstöre sonst alles, nehme den Zauber aus dem Bett. Und sie, Amélie, sagt, das ist an der Situation fast das schlimmste: „Jetzt liegen wir wie Freunde.“
Aufstehen, sofort aufstehen!
„Lassen Sie uns noch einen Wein trinken. Dann möchte ich allein sein.“
Versagt, denkt er wieder und meint, daß seine Abwehrkräfte versagten, seine Selbstermächtigungskräfte.
„Es war noch zu früh“, sagt sie. „Ich hatte mich sowieso gewundert, daß Sie schon wollten. Als Ihre SMS mich erreichte.“ (Also es stimmt nicht, daß Lenz telefoniert hat).
Sie ist klug, ist traurig, einfühlsam, ist so klug und „kam“ deshalb genau so wenig wie er - obwohl er sich, so muß ich‘s wohl nennen, bemüht hat. Aber es war ein Schaudern in ihm gewesen, als er sich vorstellte, sie zu lecken. So nahm er die Finger. Daß er sie nicht schmecken wollte, auf gar keinen Fall, war die wohl härteste Demütigung, die sie aushalten mußte.
(Ich bin für niemanden da als für Dich, habe Dich wie ein Rauschgift getrunken.)
(Entzug).
Hat >>>> der da, Geliebte, wohl recht? Meine Gegner wissen, wie sie mich treffen. (Es ist auch nicht sonderlich schwer). Nein, Schönste, nein, ich habe nicht seine, nun ja, „Meinung“ über meine Dichtung im Blick; da ließe sich ihm einiges entgegnen, nur bin ich dessen müde geworden. Sondern das, was er zum Alter schreibt, geht mir nach, meinem, dem Altern vielleicht an sich, aller Männer. Es ging mir längst voran, schon, seit ich die ersten Pläne zum Sterbebuch hatte. (Ein bißchen, Liebste, ist es aber schon langweilig, daß meinen Gegnern nichts anderes, um mir wehzutun, einfällt als das, was ich selbst längst vorformulierte; sie sehen‘s und treten noch nach. Ach, laß mich das vergessen!)
Die Tür fiel zu.
Nicht mehr noch einmal Vater werden. Da liegt der Schmerz. Spürtest Du voraus, vielleicht, wie er uns verband? Daß es nicht möglich ist, außerhalb der Welt, und gingst d arum? Aber die Lydierin verläßt ihren Lenz, weil er nicht kann. Sie ist doch noch jung, hat noch viel Zeit. Ich aber wurd nun zu ihm, wurde zu Lenz gestern abend, wie ich zu >>>> Lanmeister werden mußte, wenn da auch erst, bevor ich ihn schreiben konnte. Hier denk ich ihn mir - und bin‘s schon, „real“.
(Mich mit ihm aufeinanderlegen. Kann sein, daß auch das ein Impuls ist der Nähe: werden und sein, was Du liebst. Ein doppelter Verlust also gleich, der präsente u n d der noch kommt. Wie ich Dir wünschte, daß es mein einziger bleibe - einzig meiner!)
Arbeitswohnung, den 26. November 2014,
Mittwochmorgen, 7.31 Uhr.
Mittwochmorgen, 7.31 Uhr.
Ich habe den Brief unterbrechen müssen, nehm ihn erst jetzt wieder auf. (Allerdings war das so auch geplant; nur wann nicht und wie). - Ein früher Elternabend an der Schule meines Sohns, der jeden Tag nach Dir fragt. Hast du von der Sìdhe was gehört? Nein, sag ich, Frauen, wenn sie einmal entschieden, sind konsequent. Ich wiederholte den Satz bei लक्ष्मी, mit der ich nachher lange noch Wein trinken war und sprach. Auch sie hat gefragt. „Es war solch Harmonie zwischen euch, sie stand wie Schwingung. in der Luft. Jeder konnte das körperlich spüren, gleich unentwegten warmen Böen.“ Frauen, sag ich, halten viel aus, weitaus mehr als Männer. Die wären längst zerstört, wenn Frauen noch halten. Aber entscheiden sie sich, ziehen sie das radikal durch. Grausam, wenn‘s sein muß: in ihrer Konsequenz. An die reicht kein Mann, ob im Guten oder Bösen, ob gegen oder für sich, ob für sich selbst.
Es war ein Gespräch, das nicht aufhören mochte. Erinnerst Dich an den Gemüsehändler, bei dem Du die beiden Granatäpfel gekauft hast? Dort kaufte nun sie nachts noch ein, Kleinigkeiten für morgens, Milch und Obst für die Kleinen, ein Finnbrot, makrobiotisch. Ich sagte, hier hat zuletzt die Sìdhe eingekauft. Die Gemüse, in der bereits empfindlich kalten Nacht, die Melonen, Kürbisse, Äpfel g l ä n z t e n unter der Markise, ja sie leuchteten; es ist falsch zu sagen, sie wurden beleuchtet. „Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte“, sagte लक्ष्मी.
Wir sprachen, sie in mich eingehakt, auf dem Rückweg über >>>> Meere.
„Ich habe damals nicht verstanden, bin zu jung gewesen, zu verletzt. Ich sah nicht, war wie in Panik.“ Ich hatte ihr von diesen Briefen erzählt, auch über die Vorwürfe gesprochen, die ich wieder hinnehmen mußte und weiter hinzunehmen habe. „Und“, fragte ich, „w e n n du sie zurückdrehst? Gäbest du die erste, originale Fassung frei?“ „Ja“, sagte sie, „sofort.“ „N i c h t sofort“, sagte ich, „laß uns noch auf das Traumschiff warten.“ Und erklärte, warum.
Seltsam, es wäre eine Art Triumph gewesen, man kann das so sehen. War‘s nicht. Zu sehr verstand ich ihr Leid und verstehe auch Deines und fühl es. „Warum bist du nicht froh?“ fragte die Löwin am Telefon, die ich so spät nachts noch anrief. So vertraut sind wir einander geblieben, obwohl Du, Herz, mit dieser ganzen, fast alles übrige überblendenden Helle in mir auferschienen bist. Obwohl Dein Licht in mir weiterleuchtet, da Du die Sonne nun ausgeknipst hast. Dennoch. „Das ist doch ein Erdrutsch, wenn das geschieht!“
Meere und meine Briefe nach Triest: Deine Meere, Geliebte. - Wie es hier aussieht? Wie in mir.
Nächste Kohle muß ich heraufholen, noch immer steht der Blumenstrauß, das Vasenwasser wird schon faul. Im Hemdchen nur noch die Ahnung von Duft, die aber deutlich. Immer legtest Du's Dir über die Augen, wenn Du einschlafen wolltest. Auf dem Schreibtisch wühlt sich unerledigte Arbeit in Tabakflusen und neben den Ascher gefallene Asche. Manchmal, wenn sie den Blick stört, pust ich sie weg: Konzentration nur auf den einzigen Text, Briefe um Briefe um Briefe. „So findet sie“, schrieb mir der Freund, „dich nicht schwach. Das ist gut.“ Doch Lenzens Schwäche ward die meine, wiewohl sie bei ihm nicht organisch ist. Die beiden haben Liebesnächte, nicht zu beschreiben! D o c h zu beschreiben, nur noch nicht jetzt: Es tät noch zu weh. Trotzdem wird die Lydierin nicht schwanger. Bei jeder nächsten Menses schneidet sich ein feiner Zug, der hinabweist, unter ihre Lippenwinkel. Dreizehn wartet sie ab. Dann geht sie, weiblich und stolz. Was Lenz und die Lydierin möglich gemacht hat, wird zu dem, was ihre Liebe wieder durchstreicht. - Elbin, ja, wie recht Du hast! Ich spreche schon viel zu viel von dem Ende. Sieh es mir nach, ich habe noch nicht Abstand genug.
„Ihr wäret“, sagte लक्ष्मी, „als ein Paar ideal gewesen, aber hattet z u wenig Zeit. Ihr hättet euch verheimlichen müssen, offen Eingeweihten nur, parallel zu dem andern. Die eine Welt neben der zweiten.“ Und! Wie erstaunlich! „Du hattest nicht genug Zeit, um sie zu verletzen. Darum konnte sie nicht prüfen, weder sich noch dich, wie sie fühlt.“ „Sie hätt es nicht gekonnt“, sagte ich, „zwei Männer lieben.“ „Aber das geht“, sagte sie und sah mich so an, daß ich‘s umfassend nennen muß, „eigentlich ist es sogar die natürliche Regel.“ „Wahrscheinlich“, hat Amélie gesagt, „ist für uns Menschen Monogamie nicht die richtige Lebensform.“ Und wieder die Löwin: „Sie muß das wissen, daß du sexuell nicht treu bist, doch anders bist du‘s bis ins Mark.“
Dein Ohr und Deine Achselhöhlen. Ich habe ganz vergessen, von Deinen Achselhöhlen zu schreiben. Welch eine Nachlässigkeit! Ich habe sie meine Kapellen genannt. In ihnen die feinen Verwerfungen sind tatsächlich Fresken. Statt dessen >>>> schrieb ich von der Lydierin Brüsten. „Brüste sind keine Muskeln“, wandte die Löwin ein, „gerade das sind sie nicht.“ „Aber manche sehen so aus.“ Es wird an der Hautspannung liegen.
Kapellen.
Links sah ich die Fingerspitzen sich berühren, nicht nur „fast“, nein: tatsächlich. Nicht Michelangelo hat das gemalt, noch malen lassen. Und liebe wie ein Jugendlicher. Auch darum versagt‘ ich wie Lenz. Und weil sie, Amélie, nicht gemeint war. Doch ich hatte gemeint, den nötigen Auskühlungsprozeß auch schon körperlich werden lassen zu können – es sogar zu müssen. „Ich hätte gedacht, heute wären Sie grausam zu mir. Nun liegen wir wie Freunde.“ Ihre Hand auf meiner Brust, unter unseren Füßen Dein Hemdchen. Amélie hat fast der Lydierin Brüste, nur hier sind die Spitzen zu blaß, die Höfe zu klein, fast eines Mädchens. Die Deinen, wenn es dunkel war, haben violett geglommen; ein anderes, Elbin, Licht brauchte es nicht, damit ich mich zurechtzufand. Es schaltete sich ein, sowie Dein Körper erregt war. „Leib“ ist aber das bessere Wort.
Wie sich die Bilder füllen, immer mehr füllen! Denn das ist wohl klar, daß die Szene nicht in Lenzens Blockhütte spielt. Sondern zum Beispiel in Zürich. Wegen der Kapellen könnte es auch Rom sein. Er bestellt sie sich ein, diese Frau. Escort wahrscheinlich: In seinen geschäftlichen Jahren hat er die Adresse manchmal für seine Kunden genutzt. „Wie Freunde“: Nachher will sie kein Geld. Seltsam. „Ich lasse mich“, sagt sie, „nicht für Trauer bezahlen.“ Auch sie: so stolz, so Frau.
Das Hotel schaut auf die Piazza Barberini. Es regnet unentwegt. Nirgendwo sonst kann es so kalt sein wie im Süden. „Non sono acquistato per il lutto”. Härter sogar, schärfer: “per il funerale”. - Statte ich unser Begräbnis aus?
Ich wähle den Stein und das Blumengebinde. Und bemale den Stein. Male in Deine Achselhöhlen. Kann mich nicht, Innigste, entscheiden, rechts, links, wieder rechts. Pinselstriche mit der Zunge. Bei Dir habe ich zum ersten Mal die Hand auf einen Frauenbauch gelegt. Wie noch hätte ich da dominant bleiben können? wenn einem sowas passiert mit knapp sechzig? So daß ich, gegenüber Amélie, meine sexuelle Dominanz noch nicht einmal mehr spielen konnte. Na gut, einige Zeit lang schon, doch dann stieg die Wahrheit. Sie stieg wie ein Grundwasser auf, dunkel und warm, und zog mich an meiner Eichel hinab. „Jetzt liegen wir wie Freunde.“
(9.02 Uhr.)
Etwas anderes, Geliebte, geht in mir um, auch wenn es mich bewußt kaum erreicht. Es muß mich aber erreichen. Ich darf nicht vergessen, daß diese Briefe zugleich jeder auch ein Arbeitsjournal sind.
(Bitte heb noch einmal den Arm, egal welchen. Laß mich die Beuge nur ansehn. Du schicktest mir, weißt es, davon ein Bild. Ich könnt es mir jetzt auf das iPad laden, aber will es als jetzt nur als werdendes Innen in Literatur.)
Also was mich beschäftigt. Klärung, wenn, ist nicht vor morgen, dem Donnerstag also. Immer noch, wegen des Hörstücks, kein Vertrag. Ich rätsle um die Hintergründe. Unterdessen denke ich, daß mich wer blockt. Es liegt definitiv nicht an meiner Redakteurin. Sondern ein Mächtiger aus dem Literaturbetrieb hat gesagt: „Jetzt versuchen wir seit Jahren, diesen schrecklichen Menschen aus der Gegenwart zu drängen, ihn endlich, endlich zum Schweigen zu bringen. Ihr aber beschäftigt ihn weiter. Laßt das sein! Wenn ihr ihm immer noch Aufträge gebt, verstummt er doch nie!“ - Jedenfalls habe ich noch immer nicht das Sprecherstudio bestellen können. Eine Chance für Aufnahmen nach dem 17. Dezember besteht vielleicht noch, für vorher jedoch, wie ich‘s geplant und abgesprochen habe, nicht mehr; es wär ja die nächste Woche schon. Nun wird es sogar vielleicht erst der Januar werden. Das ist mehr als ärgerlich. Aber ich kann gar nichts tun. Du weißt, Geliebte, wie schwer mir das fällt: passiv zu sein, geschehen zu lassen, mich zu ergeben.
Ergab mich. Ergeb mich. Versagte.
Noch immer (schon wieder?) steht Lenz in der Tür und lauscht auf den Wald. Es ist für den Aufbruch noch lang nicht die Zeit. Die Tropfen fallen Dir auf die Schulter, sagen wir, die rechte. Sie fallen und fallen. Lenz hört sie auf das Dach der Kapelle trommeln, in die er sich geflüchtet hat, als das Unwetter losbrach. Er legt den Kopf in den Nacken und sieht die Fresken an. Feine, derart feine! Erhebungen, Risse, Sehnen.
Sich sehnen. In eine Deiner Achselhöhlen - welche der beiden auch immer Du höhlst.
Alban
(11.37 Uhr.)
Einige Zeit noch bleibt Lenz der selbstsichere Geschäftsmann, auch wenn er nach dem ersten Blicken, Eurem, hätte schon ahnen müssen. Daß er sich restlos verlieren würde. Aber das ist zu ungewohnt für einen wie ihn. Er hält das, wie später fast alle anderen tun werden, für eine Projektion. Wahrscheinlich denkt er sich, wenn ich sie erstmal im Bett habe, wenn ich sie erstmal – ja, so seine Begriffe – gevögelt haben werde, legt sich diese, wie soll ich sie nennen? Benommenheit?
Selbstverständlich läßt sich die Lydierein darauf nicht ein, nicht so schnell. Auch sie muß überprüfen, was in ihr vorgeht. Wobei... nein, nein, Geliebte. Nicht einmal das will sie eigentlich. Sondern nachdem auf den Vertrag angestoßen worden ist, vor allem aber nach dem Empfang in der Botschaft abends (fällt Dir ein Name für die lydische Hauptstadt ein?), will sie eigentlich weg, und zwar, so schnell es geht. Sie hat sogar schon dieses Mäntelchen an, das sie nur trägt, weil es chic ist; ist auch nur ein Hauch von Mantel, eine Vorstellung Mantel. Wir dürfen nicht vergessen, wo das alles stattfindet. Andererseits, es wird in Wüsten nachts ziemlich kalt. Es könnte also doch ein etwas festerer Mantel sein.
Jedenfalls hat sie nicht gemerkt – oder sie tut so, auch vor sich selber – , daß er ihr zur Garderobe gefolgt ist, spürt plötzlich seinen Atem, fast schon intim, in ihrem Nacken. „Sie wollen schon fort?“ Vielleicht auch charmant, ohne daß er bgreifen kann, was er da sagt: „Sie wollen mich jetzt schon verlassen?“ Sie dreht sich zu ihm um. „Ich muß allein sein, muß noch gehen, einfach nur gehen.“ „Dann werde ich Sie begleiten.“ Völlig sicher, noch. Das gefällt ihr.
Sie schreiten durch die tatsächlich kühl gewordene Nacht. Tags steht hier die Hitze. Lydiens Hauptstadt ist synthetisch-modern, nicht gewachsen, sondern seit den Ölfunden überwölbt aus der Erde geschossen: Glas, Stahlträger, selbst die Fahrbahnen scheinen aus Stahl zu sein. Gefrorenes Kapital. Eiswüste repräsentierter Macht (viele Frauen gehen verschleiert, aber nur, sowieso, tagsüber).
Sie erzählen. Er verschweigt, daß er verheiratet ist, hat es nicht anders gelernt. Doch sie sieht, selbstverständlich seinen Ring... nein, jetzt nicht, aber hat ihn während der Verhandlung gesehen. „Sie tragen Ihre Ehering nicht mehr“, sagt sie. Und erstmals ist er offen, wirklich offen. „Ich habe ihn abgelegt, vorhin, im Hotel.“ „Ach. Und weshalb?“ „Weil ich Sie wiedersehen würde.“
In dem Moment, da er das gesteht, begreift er.
Vielleicht. Denn „gestehen“ ist das richtige Wort.
(Hast Du mir Fernste gesehen, wie ich >>>> das nunmehr dritte Gedicht verändert habe? Nur leicht, aber jetzt könnte es stimmen. Indessen werd ich wie an allem, Du kennst mich, auch hieran noch wochenlang herumfeilen.)
Sie küssen sich, mehrmals, während dieses ersten stundenlangen Spaziergangs. Es dämmert bereits, als er sie in ein Taxi setzt, das er auch bezahlt, vorausbezahlt. Das gefällt ihr ebenfalls sehr. Ihr rechter winkender Arm, die Hand, das Wehen ihrer Finger: ihr um die Ecke Wehen und aus der Sicht.
Dann steht er allein. Hat weder ihre Adresse noch ihre Telefonnummer. Auf den Gedanken, sie zu fragen, ob er sie nicht auf ihr Hotel begleiten dürfe, ist er gar nicht gekommen. So viel zum Vögeln. Es ging nicht darum.
(18.38 Uhr)
Der Taxiszene, Geliebte (ich komme grad wieder vom Sport, dann kam mein Sohn fürs Cello und aber erst für seinen Nachmittags-Espresso, zu dem wir plauderten; er nahm vier Scheiben vom neuen Ciabatta, das erste habe ich heute früh restlos aufgegessen...
…) - der Taxiszene entspricht eine andere von vor mehr als einem Jahr. Sie war wirklich überaus ähnlich, auch wenn sie in einer anderen Stadt vor sich ging und die beiden erst eine Straße überqueren mußten, um den Wagen anzuhalten. Nacht war es aber auch da. Sie waren, die beiden (selbstverständlich spreche ich wieder von der Lydierin und Lenz) nach der Oper in ein Touristenlokal eingekehrt, das sich anbot. Normalerweise hätten sie es gemieden. Doch es ist spät gewesen, sie hatten keine Lust gehabt, länger zu suchen. Und sprachen nun, einander zum Entsetzen nahe. Die Lydierin klagte um Intensität: Kaum jemand traue sich mehr! Kleinmut, wohin sie nur schaue!
Zweidrei Wochen vorher aber, noch in der lydischen Hauptstadt, gibt es eine weitere bemerkenswerte Szene. Du weißt, Herz, ich hab es oben erzählt, daß Lenz so wenig der Lydierin Telefonnummer hat wie ihre Adresse. Aber natürlich kann er bei seinen Geschäftspartnern fragen, wer diese Fremdsprachenkorrespondentin s e i; ob man etwas dagegen habe – denn ihre kundige Art habe ihm ausgesprochen gefallen – , wenn auch er sie gelegentlich in Dienst nehmen würde? Er wisse, sie sei Freelancerin; jemanden abzuwerben, liege ihm selbstverständlich fern.
Gut, das nimmt er sich, als er seinerseits in einem Taxi sitzt, vor, legt sich jedes Wort zurecht, merkt dabei, oder sein Instinkt sagt es ihm, daß der Fahrer einen ziemlichen Umweg fährt; ist ja ein fremder Fahrgast und scheint Geld zu haben. Acht Kinder zuhause sind ein berechtigter Grund. Den kann Lenz verstehen; schon da merkt er nicht, was für ein neues Weiches von ihm Besitz nimmt. Er lächelt, als sie ankommen, und legt auf den völlig überzogenen Preis noch einiges drauf, will nicht mal eine Quittung. - Gut, Geliebte, Du hast recht: Letzteres ist unwahrscheinlich. Also die Quittung, Spesen halt, läßt er sich s c h o n ausstellen.
Das ist das Bemerkenswerte aber noch gar nicht. Sondern am nächsten Morgen ruft sie ihn an. „Wann geht Ihr Flug? Ah, erst am Abend. Das ist gut. Haben Sie am späten Mittag Zeit?“ - Er spürt seine Handflächen feucht werden, wenn auch nur leicht. Sein Atem zittert etwas. „Und bringen Sie doch bitte Ihren Ehering mit.“
„Haben Sie ihn dabei?“: Gleich, sogar als erstes, als sie sich treffen.
Ein ziemlich, vor allem von Kindern und männlichen Jugendlichen, belebter Steinstrand, gleich hinter dem riesigen Boulevard.
„Was dabei?“
„Den Ring. Sie tragen ihn nicht.“
„Nein, ich...“ Er fingert ihn aus der Hemdbrusttasche.
„Geben Sie ihn mir.“
„Ihnen?“
„Wem sonst?“
Er tut‘s.
Sie nimmt ihn, sieht ihn nicht mal an, sondern läuft auf die ein- und ausfließenden, durch die Steinchen fast klirrenden Wellenzungen zu, holt aus und wirft den Ring in die See.
Lenz schweigt, teils bedrückt, teils berauscht. Jeder andere und vor der Lydierin Erscheinen er selbst hätte das für eine Unverschämtheit gehalten, einen Übergriff, wenn nicht sogar für Infamie. Doch er erlebt nur Tatsächlichkeit: etwas, das genau so sein muß.
Und die Oper? Ja, die Lydierin liebt sie wie Du und ich. Lenz allerdings hat keine Ahnung. Er hatte die Frau dahin eingeladen, weil das zur, meint er, Etikette gehört. Übrigens in Triest, nicht schon in Lydien. Aber davon werd ich Dir morgen erzählen. Von meiner Sehnsucht. Und von den Schuhen: Schlangenlederschuhen. Außerdem von Kontaktlinsen, wenn Lenz sich richtig erinnert. Dabei weiß er nicht einmal die Haarfarbe mehr.
Bleibe, mein Herz, von mir fern. Denn näher kannst Du als so mir nicht kommen, oder ich löste mich auf. Wohin denn sollt ich dann fließen?
A.
*
Einige Zeit noch bleibt Lenz der selbstsichere Geschäftsmann, auch wenn er nach dem ersten Blicken, Eurem, hätte schon ahnen müssen. Daß er sich restlos verlieren würde. Aber das ist zu ungewohnt für einen wie ihn. Er hält das, wie später fast alle anderen tun werden, für eine Projektion. Wahrscheinlich denkt er sich, wenn ich sie erstmal im Bett habe, wenn ich sie erstmal – ja, so seine Begriffe – gevögelt haben werde, legt sich diese, wie soll ich sie nennen? Benommenheit?
Selbstverständlich läßt sich die Lydierein darauf nicht ein, nicht so schnell. Auch sie muß überprüfen, was in ihr vorgeht. Wobei... nein, nein, Geliebte. Nicht einmal das will sie eigentlich. Sondern nachdem auf den Vertrag angestoßen worden ist, vor allem aber nach dem Empfang in der Botschaft abends (fällt Dir ein Name für die lydische Hauptstadt ein?), will sie eigentlich weg, und zwar, so schnell es geht. Sie hat sogar schon dieses Mäntelchen an, das sie nur trägt, weil es chic ist; ist auch nur ein Hauch von Mantel, eine Vorstellung Mantel. Wir dürfen nicht vergessen, wo das alles stattfindet. Andererseits, es wird in Wüsten nachts ziemlich kalt. Es könnte also doch ein etwas festerer Mantel sein.
Jedenfalls hat sie nicht gemerkt – oder sie tut so, auch vor sich selber – , daß er ihr zur Garderobe gefolgt ist, spürt plötzlich seinen Atem, fast schon intim, in ihrem Nacken. „Sie wollen schon fort?“ Vielleicht auch charmant, ohne daß er bgreifen kann, was er da sagt: „Sie wollen mich jetzt schon verlassen?“ Sie dreht sich zu ihm um. „Ich muß allein sein, muß noch gehen, einfach nur gehen.“ „Dann werde ich Sie begleiten.“ Völlig sicher, noch. Das gefällt ihr.
Sie schreiten durch die tatsächlich kühl gewordene Nacht. Tags steht hier die Hitze. Lydiens Hauptstadt ist synthetisch-modern, nicht gewachsen, sondern seit den Ölfunden überwölbt aus der Erde geschossen: Glas, Stahlträger, selbst die Fahrbahnen scheinen aus Stahl zu sein. Gefrorenes Kapital. Eiswüste repräsentierter Macht (viele Frauen gehen verschleiert, aber nur, sowieso, tagsüber).
Sie erzählen. Er verschweigt, daß er verheiratet ist, hat es nicht anders gelernt. Doch sie sieht, selbstverständlich seinen Ring... nein, jetzt nicht, aber hat ihn während der Verhandlung gesehen. „Sie tragen Ihre Ehering nicht mehr“, sagt sie. Und erstmals ist er offen, wirklich offen. „Ich habe ihn abgelegt, vorhin, im Hotel.“ „Ach. Und weshalb?“ „Weil ich Sie wiedersehen würde.“
In dem Moment, da er das gesteht, begreift er.
Vielleicht. Denn „gestehen“ ist das richtige Wort.
(Hast Du mir Fernste gesehen, wie ich >>>> das nunmehr dritte Gedicht verändert habe? Nur leicht, aber jetzt könnte es stimmen. Indessen werd ich wie an allem, Du kennst mich, auch hieran noch wochenlang herumfeilen.)
Sie küssen sich, mehrmals, während dieses ersten stundenlangen Spaziergangs. Es dämmert bereits, als er sie in ein Taxi setzt, das er auch bezahlt, vorausbezahlt. Das gefällt ihr ebenfalls sehr. Ihr rechter winkender Arm, die Hand, das Wehen ihrer Finger: ihr um die Ecke Wehen und aus der Sicht.
Dann steht er allein. Hat weder ihre Adresse noch ihre Telefonnummer. Auf den Gedanken, sie zu fragen, ob er sie nicht auf ihr Hotel begleiten dürfe, ist er gar nicht gekommen. So viel zum Vögeln. Es ging nicht darum.
(18.38 Uhr)
Der Taxiszene, Geliebte (ich komme grad wieder vom Sport, dann kam mein Sohn fürs Cello und aber erst für seinen Nachmittags-Espresso, zu dem wir plauderten; er nahm vier Scheiben vom neuen Ciabatta, das erste habe ich heute früh restlos aufgegessen...
…) - der Taxiszene entspricht eine andere von vor mehr als einem Jahr. Sie war wirklich überaus ähnlich, auch wenn sie in einer anderen Stadt vor sich ging und die beiden erst eine Straße überqueren mußten, um den Wagen anzuhalten. Nacht war es aber auch da. Sie waren, die beiden (selbstverständlich spreche ich wieder von der Lydierin und Lenz) nach der Oper in ein Touristenlokal eingekehrt, das sich anbot. Normalerweise hätten sie es gemieden. Doch es ist spät gewesen, sie hatten keine Lust gehabt, länger zu suchen. Und sprachen nun, einander zum Entsetzen nahe. Die Lydierin klagte um Intensität: Kaum jemand traue sich mehr! Kleinmut, wohin sie nur schaue!
Zweidrei Wochen vorher aber, noch in der lydischen Hauptstadt, gibt es eine weitere bemerkenswerte Szene. Du weißt, Herz, ich hab es oben erzählt, daß Lenz so wenig der Lydierin Telefonnummer hat wie ihre Adresse. Aber natürlich kann er bei seinen Geschäftspartnern fragen, wer diese Fremdsprachenkorrespondentin s e i; ob man etwas dagegen habe – denn ihre kundige Art habe ihm ausgesprochen gefallen – , wenn auch er sie gelegentlich in Dienst nehmen würde? Er wisse, sie sei Freelancerin; jemanden abzuwerben, liege ihm selbstverständlich fern.
Gut, das nimmt er sich, als er seinerseits in einem Taxi sitzt, vor, legt sich jedes Wort zurecht, merkt dabei, oder sein Instinkt sagt es ihm, daß der Fahrer einen ziemlichen Umweg fährt; ist ja ein fremder Fahrgast und scheint Geld zu haben. Acht Kinder zuhause sind ein berechtigter Grund. Den kann Lenz verstehen; schon da merkt er nicht, was für ein neues Weiches von ihm Besitz nimmt. Er lächelt, als sie ankommen, und legt auf den völlig überzogenen Preis noch einiges drauf, will nicht mal eine Quittung. - Gut, Geliebte, Du hast recht: Letzteres ist unwahrscheinlich. Also die Quittung, Spesen halt, läßt er sich s c h o n ausstellen.
Das ist das Bemerkenswerte aber noch gar nicht. Sondern am nächsten Morgen ruft sie ihn an. „Wann geht Ihr Flug? Ah, erst am Abend. Das ist gut. Haben Sie am späten Mittag Zeit?“ - Er spürt seine Handflächen feucht werden, wenn auch nur leicht. Sein Atem zittert etwas. „Und bringen Sie doch bitte Ihren Ehering mit.“
„Haben Sie ihn dabei?“: Gleich, sogar als erstes, als sie sich treffen.
Ein ziemlich, vor allem von Kindern und männlichen Jugendlichen, belebter Steinstrand, gleich hinter dem riesigen Boulevard.
„Was dabei?“
„Den Ring. Sie tragen ihn nicht.“
„Nein, ich...“ Er fingert ihn aus der Hemdbrusttasche.
„Geben Sie ihn mir.“
„Ihnen?“
„Wem sonst?“
Er tut‘s.
Sie nimmt ihn, sieht ihn nicht mal an, sondern läuft auf die ein- und ausfließenden, durch die Steinchen fast klirrenden Wellenzungen zu, holt aus und wirft den Ring in die See.
Lenz schweigt, teils bedrückt, teils berauscht. Jeder andere und vor der Lydierin Erscheinen er selbst hätte das für eine Unverschämtheit gehalten, einen Übergriff, wenn nicht sogar für Infamie. Doch er erlebt nur Tatsächlichkeit: etwas, das genau so sein muß.
Und die Oper? Ja, die Lydierin liebt sie wie Du und ich. Lenz allerdings hat keine Ahnung. Er hatte die Frau dahin eingeladen, weil das zur, meint er, Etikette gehört. Übrigens in Triest, nicht schon in Lydien. Aber davon werd ich Dir morgen erzählen. Von meiner Sehnsucht. Und von den Schuhen: Schlangenlederschuhen. Außerdem von Kontaktlinsen, wenn Lenz sich richtig erinnert. Dabei weiß er nicht einmal die Haarfarbe mehr.
Bleibe, mein Herz, von mir fern. Denn näher kannst Du als so mir nicht kommen, oder ich löste mich auf. Wohin denn sollt ich dann fließen?
A.
albannikolaiherbst - Mittwoch, 26. November 2014, 19:26- Rubrik: Arbeitsjournal
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