Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop

e   Marlboro. Prosastücke, Postskriptum Hannover 1981   Die Verwirrung des Gemüts. Roman, List München 1983    Die blutige Trauer des Buchhalters Michael Dolfinger. Lamento/Roman, Herodot Göttingen 1986; Ausgabe Zweiter Hand: Dielmann 2000   Die Orgelpfeifen von Flandern, Novelle, Dielmann Frankfurtmain 1993, dtv München 2001   Wolpertinger oder Das Blau. Roman, Dielmann Frankfurtmain 1993, dtv München 2000   Eine Sizilische Reise, Fantastischer Bericht, Diemann Frankfurtmain 1995, dtv München 1997   Der Arndt-Komplex. Novellen, Rowohlt Reinbek b. Hamburg 1997   Thetis. Anderswelt. Fantastischer Roman, Rowohlt Reinbek b. Hamburg 1998 (Erster Band der Anderswelt-Trilogie)   In New York. Manhattan Roman, Schöffling Frankfurtmain 2000   Buenos Aires. Anderswelt. Kybernetischer Roman, Berlin Verlag Berlin 2001 (Zweiter Band der Anderswelt-Trilogie)   Inzest oder Die Entstehung der Welt. Der Anfang eines Romanes in Briefen, zus. mit Barbara Bongartz, Schreibheft Essen 2002   Meere. Roman, Marebuch Hamburg 2003 (Bis Okt. 2017 verboten)   Die Illusion ist das Fleisch auf den Dingen. Poetische Features, Elfenbein Berlin 2004   Die Niedertracht der Musik. Dreizehn Erzählungen, tisch7 Köln 2005   Dem Nahsten Orient/Très Proche Orient. Liebesgedichte, deutsch und französisch, Dielmann Frankfurtmain 2007    Meere. Roman, Letzte Fassung. Gesamtabdruck bei Volltext, Wien 2007.

Meere. Roman, „Persische Fassung“, Dielmann Frankfurtmain 2007    Aeolia.Gesang. Gedichtzyklus, mit den Stromboli-Bildern von Harald R. Gratz. Limitierte Auflage ohne ISBN, Galerie Jesse Bielefeld 2008   Kybernetischer Realismus. Heidelberger Vorlesungen, Manutius Heidelberg 2008   Der Engel Ordnungen. Gedichte. Dielmann Frankfurtmain 2009   Selzers Singen. Phantastische Geschichten, Kulturmaschinen Berlin 2010   Azreds Buch. Geschichten und Fiktionen, Kulturmaschinen Berlin 2010   Das bleibende Thier. Bamberger Elegien, Elfenbein Verlag Berlin 2011   Die Fenster von Sainte Chapelle. Reiseerzählung, Kulturmaschinen Berlin 2011   Kleine Theorie des Literarischen Bloggens. ETKBooks Bern 2011   Schöne Literatur muß grausam sein. Aufsätze und Reden I, Kulturmaschinen Berlin 2012   Isabella Maria Vergana. Erzählung. Verlag Die Dschungel in der Kindle-Edition Berlin 2013   Der Gräfenberg-Club. Sonderausgabe. Literaturquickie Hamburg 2013   Argo.Anderswelt. Epischer Roman, Elfenbein Berlin 2013 (Dritter Band der Anderswelt-Trilogie)   James Joyce: Giacomo Joyce. Mit den Übertragungen von Helmut Schulze und Alban Nikolai Herbst, etkBooks Bern 2013    Alban Nikolai Herbst: Traumschiff. Roman. mare 2015.   Meere. Roman, Marebuch Hamburg 2003 (Seit Okt. 2017 wieder frei)
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Siebzehnter Brief nach Triest. (Briefe nach Triest, 20).


Möglichkeiten, Liebste, nur,
Arbeitswohnung, den 7. Dezember 2014,
Somntagsfrühe: 6.02 Uhr;
junge Leute, wohl aus den Clubs, kehren heim und sind
kurz, ein Lachen, auf dem zweiten Hinterhof zu hören,

doch zugegeben, auch ich bin gerührt, wenn ich an die beiden Alten denke, die Lydierin und Lenz, Du weißt schon: in dreißig oder vierzig Jahren... (bei Wiebke und Gerald wären es, was meinst Du? fünfzig? sechzig?) - daß etwas so gut wird. Aber ich habe meine Zweifel, hätte sie selbst dann, wenn es gut geworden wäre. Alte Leutchen: Schon in der Regression steckt der Teufel, bloß hat er sich beruhigt. Außerdem, daß die Lydierin zu Lenz zurückkehrt, heißt noch nicht, daß sie für immer bleiben wird, auch nicht, wenn er ihre Schwangerschaft begleitet, ja Zoë mit, wie er später immer wieder betont, eigenen Händen mit auf die Welt bringen wird, ja, der Säugling und noch das Kleinkind schlafen abends bei ihm ein, nicht an ihr, der Mutter, sondern an seiner Schulter, meistens der linken, da kann das Kleine den Herzschlag hören, während er vorsingt.
Was ich sagen will... Eines Tages, Lenz ist zuhause geblieben, die Lydierin hat einen Termin in Mailand (seit einem Jahr arbeitet sie wieder, „Ich muß wieder arbeiten, Lenz!“, so ist der Bauer nun Hausmann: verläßlich, ja, doch ein wenig langweilig auch)... und dort, ja, in Mailand... ein großes Hotel oder eine Galerie, abends dann an der Bar... „Ich habe gedacht, daß hinter mir der Teufel steht“, wird sie später erklären, „wahnsinnig geschmeidig, und allein dieses Lächeln!“ Paolo. Auch hier genügte ein Blick. Das kann nun so und so ausgehen. Nur ist sie, und sie war‘s nie, keine Frau für Affären, für dauernde schon gar nicht. Unbedingt ist sie immer geblieben.
Oder sie wurde nach Lydien gerufen, weil die Mutter schwer erkrankte. Die ganze Familie wieder zusammen, aber auch Freunde der Familie. Man bangt am Krankenbett, und alle, Liebste, wissen, daß es selbst nach der Operation nicht mehr lange gehen wird. Abends sitzen die Engsten zusammen, sind in ein Restaurant gegangen, dessen Fenster in die Wüste schauen. Ferris ist der älteste Sohn einer der besten Freundinnen der kranken Lydierinnenmutter. Hochgewachsen, dunkel und traditionell. Dennoch legt er seinen rechten Arm, weil er trösten möchte, um die Schultern der Lenzfrau. Jetzt geht er da nicht mehr ab - als hätt ihn der waagrechte Grat dieser Schultern erwartet: von seiner, Ferris‘, rechten Achsel, die auf ihrer linken Schulter aufliegt, über seine sich um ihren Nacken biegende Ellenbogenbeuge bis zur seiner rechten, schützend um ihre rechte Schulter gewölbten Hand. Und weil er seinen Arm nicht mehr wegkriegt, dreht er der Lydierin Kinn mit dem gekrümmten linken Zeigefinger, unterstützt von dem Finger dahinter, seinem Gesicht zu.
Sie hebt die Augen, hebt sie in seine. Er legt die seinen hinein.

Um ehrlich zu sein, ist ihr Leben voll von solchen Begegnungen. Lenz wird darunter leiden. Es liegt ihr einfach nicht, etwas zu verheimlichen.

Deines, Geliebte, ist es denn n i c h t?
Auch dieses frage ich, weiß ich, ins Leere. Denn so unwahrscheinlich es insgesamt ist, daß Du hier mitliest, so gänzlich, daß Du‘s von dort tust. Mein iPhone hat mich schon gestern erinnert und heute früh erneut: Die Sìdhe in Barcelona. Du weißt doch, wir hatten geplant... Jetzt sind die alten Freunde um Dich. Ob Du von mir erzählen wirst? Auch vielleicht von den Briefen? - Unwahrscheinlich.
Deshalb benenne ich diesen Brief auch nicht um, obwohl ich wirklich erst „Erster Brief nach Barcelona“ schreiben wollte, ihn freilich dennoch als „Briefe nach Triest, 20“ rubrizieren. Morgen wär‘s dann der zweite Brief nach Barcelona geworden, übermorgen der dritte. Danach, sogleich, wollte ich wieder nach Triest fliegen. So hatten wir es ausgemacht vor Deinem Rückzug und dem dann währenden Schweigen. Oder nein! War‘s nicht so, daß ich v o r Deinem Barcelonaflug nach Triest kommen wollte und danach wieder Du nach Berlin? Und nach Neapel wollten wir, jeder dem andren, die Lieblingsstadt zeigen, Du mir die Deine, ich Dir die meine. Dazwischen hat sich nun Lydien geschoben. Dort noch waren sie, die Lydierin und Lenz, auf die Idee mit dem Berg gekommen, aber, glaubst Du‘s?, am M e e r. Mit dem Auto sind‘s von der lydischen Hauptstadt anderthalb Stunden. Ihrer beider erste Zeit, komplett aus Magie. Deine schmalen langen Füße im zyklisch letzten Lecken der Wellen, die langen Zehen versinken jedesmal, wenn das Wasser zurückläuft, im sich entnässenden Sand, jedes Mal ein kleines Gurgeln. Kurze Zyklen sind es, zehnsekündig: die breite Wellenzunge kommt und verläuft sich, wird zurückgezogen, streckt sich erneut aus dem Meermund. Sie kriegt es, die See, einfach nicht hin, von Deinen Füßen zu lassen. (Wie Du gelacht hast, als ich Dir so die Gezeiten erklärte..!)
Ich selbst, an Lenzens Stelle dort, hätte Dich gebeten, die Bikinihose auszuziehen. „Wie? Aber hier doch, Alban, nicht!“ Hättest Du wirklich gedacht, ich wolle mit Dir schlafen, öffentlich am Strand? Klar hätt ich gewollt, aber nicht in den Blicken, schon gar nicht der Kinder, die überall spielten. Ich wollte vielmehr etwas anderes sehen, etwas, das sich mir hätte völlig diskret zeigen lassen. Einfach, im Sitzen, das Höschen über Deinen Jungenarsch streifen, das Hauchchen Textil dann die Beine entlang. Die Füße, je, schlupfen durch. „Jetzt öffne bitte die Beine.“ Und dann. Wie die See geht. „Rutsch etwas mehr ins Wasser.“ Die Füße tauchen nun ganz ein. Die Wellenzungen indes klopfen nun an. Zehnsekündlich. Und Du schließt die Augen. Das ist noch nicht, was ich sehen möchte. Sondern wie sich die Möse ihm öffnet, dem Anklopfen öffnet, das schon nicht mehr nur klopft, sondern hineinläuft, und wie es wieder herausläuft. Und abermals hinein. Die inneren Labien, zwei feine, beinah transparente Flügel von Feen, werden zu Säumen, die in in dem zyklischen Strömen willenlos wallen; zieht die See sich zurück, jedes Mal, wirklich, zieht sie leicht an ihnen. Und Dein ganzes Geschlecht, da Du dies zuläßt, zieht in sich Blut, wird zur fast überreifen Feige, die meine beiden Hände (eine – mit den Daumennägeln – Spalte in die Mitte ritzend) aufgebrochen haben. Doch es ist nur das Meer.
Freilich sitzen nicht wir dort und lassen uns umspülen, sondern er und sie. Fantasien wie diese lagen ihm, Lenzens Ich vor allem von damals, völlig fern. Es hätte s i e sein müssen, ihn zu dergleichen zu verführen. „Was tust du?“: Fast ein bißchen erschrocken. Sie hatte das Bikinihöschen abgestreift. Dabei saßen überall Leute herum. Aber hochfahrend sie: „Sei nicht so prüde!“ Dann öffnet sie die Beine: „Schau, die See“.
Lenz ist nervös, aber weiß, er darf jetzt nicht fahrig herumgucken; ihm haben die Leute egal zu sein. Schicht für Schicht seines Wohlverhaltens schält die Lydierin ab. Gestern der in die See geworfene Ring, heute die der See zur Durchdringung – zu einer, kann man sagen, Eröffnung – dargereichte Spalte. La mer: l‘origine du monde. „Kennst du das Bild von Courbet?“ - Er weiß nicht, was sie meint, schon gar nicht versteht er ihre Bemerkung, daß sie sich – wen denn meint sie mit sie? – wenigstens hätte rasieren können. „Na, sein Modell doch!“ Lenz verstand immer noch nicht, obwohl, was die Lydierin rügte, nun wirklich blank vor seinen Augen lag - eben in völligem Gegensatz zu Courbets Modell, von dessen sogar Identität bis heute nur spekuliert wird: Sie ist, läßt sich sagen, genauso versteckt wie unter ihrem Schamhaar das Geschlecht. Wobei allerdings, wie dort der Lydierin am Meer, etwas durchblinzelt, das einer, in Blaßrot, länglichen Pupille ähnelt. Anders aber als deren ist diese nicht erregt.
Die Lydierin mag nicht erklären.
Lenz betrachtet ihre Spalte, die sich bei jedem nächsten Wellenumspielen öffnet und, zieht die Tide es wieder zurück, wieder - wenn auch zunehmend weniger – schließt. Die Lydierin, auf den Unterarmen aufgestützt, legt den Kopf in den Nacken, blößt und streckt den Hals für den Biß. Dein Bikini-Oberteil hat da etwas Absurdes. Aber sowieso wird Lenz noch erfahren, wie konzentriert, wenn sie erregt ist, sie auf ihre Möse ist, fast wie ein Mann auf den Schwanz. Doch einmal, sein zweiter Besuch in Triest, spielt sein Daumen an ihrer Rosette. Er drückt wirklich nur ganz leicht. Dennoch dringt der Daumen ein: als würde an ihm gesogen. Dieser Sog langt bis zur Daumenwurzel - ein Geheimnis ihres sibyllinischen Körpers, dessen viertes und schließlich letztes Verstehen mir nunmehr für immer versagt ist.

Barcelona. Ich erinnere mich. Die feurige Rose, >>>> „Barcelonas“. Als Du in Berlin warst, hab ich das Buch Dir mitgegeben. Nun streifst Du dort, mit den Freunden, herum. „Nur alte Freunde“ sagtest Du. Aber stimmt das? Kann es, Liebste, wohl sein, daß Du in Wahrheit anders bist, als Du vorgabst und mir erschienst? Mein Gott, Du bist kein Backfisch mehr und kennst Deine Bedürfnisse! So daß Du vielleicht gewollt hast, daß ich Dich schwängerte. Und zogst Dich zurück, eben weil ich es n i c h t tat (und auch nicht konnte ohne Dein gesagtes Ichw i l l)? (So zergrab ich mein Hirn.)
Sondern Du nimmst Dir, was Du brauchst? Ganz wie die Lydierin tat?
Sie sah und sie nahm. Lenz zerfloß und alles, was er gewesen. Die ganze Konvention dahin. Seine Ehe schließlich dahin. Schon der Prozeß verloren. Wenn sie, die Lydierin dort am Strand, ihn dazu aufgefordert hätte, hätte er sein Gesicht in ihrer Vulva vergraben, zyklisch von ihr und das Meerwasser trinkend, wenn es wieder geflutet kam, zehnsekündig: Kunde. Da wären die Leute egal gewesen, die um sie herum lagen, lasen, Sandburgen bauten. Er hätte diesen Mut gehabt. Doch hätte sie eben fordern müssen: ihren Willen sagen.
Sie indes erwartete, daß er sie nahm: ohne zu fragen auch nur zu denken.
Meine Güte, Du wußtest doch, als Du herkamst, wo Du schlafen würdest! Gibt es denn klarere Zeichen zu deuten? - Da also schon eine kleine Verachtung? Schon der erste Riß, den aber beide nicht merkten?

Was bleibt mir, Geliebte? Zerknirschung.
Die.
Und aber dieser Roman. Ich bin die Wellenzungen, denen Du Dich öffnetest, er indes ist das Meer insgesamt. So dringt es schließlich in Dich ein, und dann s t ö ß t es - s o, daß ich zeuge. (Bis ich gezeugt haben werde).

Alban
*

(11.05 Uhr,
John Cage, Freeman Etudes, 1977.)

Es ist schon, Geliebte, ein bißchen (falsch verwendet das Wort hier) pervers, wenn ich zurückdenke und mich erinnere, was Frauen oft an mich gezogen, nämlich Distanz, und wieder abgeschreckt hat, intensive Nähe nämlich, und nicht selten gleich schon zu Anfang vertrieben. So wurde es nun auch mit Dir. Ich komme auf unsre Strukturen zurück, den uneingestandenen, ja uneingestehbaren Wunsch nach Verletzung: daß sie uns bindet. Nach Jessirs nicht zuletzt durch die quasi Nahtoderfahrung ausgelöste Wandlung, und dadurch, daß ihn die Lydierin sofort wieder annimmt, ist es durchaus denkbar, daß er gar nicht wirklich sterben muß, um sie ihn abermals verlassen zu lassen; wir können uns Hollywood sparen. Es genügt, daß nun fehlt, worunter sie vorher gelitten: seine Rigorosität zum Beispiel. Das wäre schlimm, weil sie nun doch nicht Mutter würde; Lenz, bei dem sie‘s noch einmal versucht, ist kein Ausweg. Zwar ist er nun tatsächlich Mann, aber, sie muß ihm nur nah sein, fällt in die alte Weichheit zurück. Er schmilzt ihr gleichsam in die Haut, als würde er selbst zu ihr. So fehlt die Differenz, die uns Lust erleben überhaupt läßt. Kein Wunder, daß sich sein Schwanz da nicht mehr hebt. Es gibt einen Aspekt am Verletztwerdenmüssen, der einen physischen Sinn hat.
In diesen Nexus gehört imgrunde auch, daß lange währenden Beziehungen der Sexualreiz einschläft, nein, sich nicht wandelt und in sich selbst nicht milder wird. Doch richtet er sich nun nach außen. Für das Konzept der Monogamie ist das verheerend und für die Liebe entsetzlich, wenn sie zugleich weiter besteht und auf der körperlichen Treue beharrt. So sind wir, wenn wir nicht ausdörren wollen, aufs Heimliche verwiesen. Ansonsten schützt uns - einigermaßen - Getrennheit: - getrennte Betten, getrennte Wohnungen, auch die, zum Beispiel, Entfernung zwischen zwei Städten. (Die Löwin, in ihrem Wien, weiß sehr gut, wovon ich hier spreche). Wir bekommen, mein Herz, bei allzu naher Vertrautheit kein Erregtsein mehr hin – e s bekommt sie nicht länger hin, als bedeutete unser uns Nahsein genetisch schon den Inzest. Dann doch besser, der Mann schlägt mal zu, verbal selbstverständlich: Man ist ja zivilisiert. Und auch die Frau, sie sogar meist perfekt, weiß ihre Worte zu führen, rasiermesserscharf. (Wann habe ich mir angewöhnt, zu Dir „mein Herz“ zu sagen?

: ein Ausrufezeichen, besser noch zwei -)

Aber auch mit Gerald und Wiebke ist es nicht so einfach, wie wir dachten. Von wegen „Unschuld“! Die Zeiten sind lange vorbei (doch hat es sie einmal gegeben), daß Männer erigierten, weil unter dem Bauschen langer Röcke eine Wade sichtbar wurde, meine Güte! derart weiß! – doch unabsichtlich, selbstverständlich. Manchmal, als Frau, m u ß man den Stoff halt raffen, wenn zum Beispiel eine Bordsteinkante erschritten werden will. Natürlich guckt frau nicht hin zu dem Mann, dem sie es vorführt. Nein, alles ohne Zweck. Der reine Zufall. Daß Sie sich also, meine Herren, nur jetzt nichts einbilden! Wir tragen tiefe Decolletés doch nicht, damit man in sie reinguckt...
Wiebke und Gerald, - was ich Dir erzählen möchte. Wenn er seine Jungmanneshand zum ersten Mal auf ihren jungen Frauenbauch legt, hat er zwar das nicht, doch alles andere, das folgt, schon hundertmal gesehen. Ich meine, er hat doch ein Smartphone und kann damit ins Netz. Da stehen die Jungs dann zusammen, schon zehn Jahre vorher, sagen wir mit zwölf, und schauen Filmchen bei Youporn (die Mädchen, meinst Du, schauten da n i c h t? Jeder Besuch einer Damentoilette belehrt eines Bessren). Ich habe ziemlich gelacht, als mich mein Junge vor zwei Jahren darum bat, ihn vom schulischen Aufklärungsunterricht freizustellen - „zu befreien“ sagte er und meinte das zurecht emphatisch. „Das kenn ich doch längst alles!“ Da ich ihn nicht beschämen wollte, fragte ich nicht, woher. Aus der Anschauung allerdings so oder so. Freilich ist „kennen“ etwas andres, als bloß gesehen zu haben. Konfrontiert ihn, daß er fühlt, werden die vorgeprägten Bilder versagen. Was er sieht, wird ihn nur nicht schockieren, noch wird er auf den Gedanken jemals mehr kommen, daß an Körpern etwas Schmutziges sei, das nicht genannt und über das schon gar nicht gesprochen werden dürfe. In meiner eigenen Jugend gab es noch das Tabu; ich erlebte die Zeit seines Bruchs. Schon in der Deinen, Geliebte, war er Geschichte. Woher nun also, aber, bei Wiebke und Gerald erotische Unschuld? Wiebchen und Jerry...
Und trotzdem, es fühlt sich so an. Nun, da sie zum ersten Mal beisammenliegen. Theoretisch wissen sie alles. Aber dann die, tja, Praxis? (: Die Wörter, die Wörter!) Das ist schon anders, zum ersten Mal eine Eichel im Mund... ich meine, falls die junge Dame sich traut. Wie das den Gaumen sprengt! Auch scheut man ein wenig vor dem Geschlechtsduft. Außerdem sind die beiden mit AIDS aufgewachsen, das hat ihre Sexualität viel weitergehend ernüchtert als irgend ein Gerammelfilm. Kondome obligat: Selbst ganz junge Mädchen, noch vor der Defloration, haben sicherheitshalber welche in ihrer Handtasche, quasi wie Tampons. Schließlich kann man nie wissen und will es sich nicht verderben, daß, wenn es „passiert“, wie es sollte: unvorgenommen, aus der Umarmung allein... also daß man da sachlich werden muß, und sei es nur kurz, als Mädel von sechzehn, vielleicht fünfzehn. Die meisten, mit denen ich darüber sprach, waren beim ersten Mal noch um einiges jünger -. (Wieso habe ich das eigentlich nicht auch von D i r wissen wollen? Wohl, weil das Thema aufgekommen wäre, Du weißt schon, Geliebte: Kondome. Auch aber das, daß Du nicht einmal fragtest, zeigte Deine Bereitschaft.)
Dennoch also das Wunder der Hand auf dem Bauch. Gerald schaut, Wiebke schließt die Augen. Er steift langsam über den Schamberg. Auch sie rasiert sich schon: in meiner Jugend undenkbar. Als ich vom Marmor von Porphyr las, als Vergleich für die Glätte und Weiße eines weiblichen Geschlechts, sausten mir die Ohren: - solch wundervolle Übertretung war das. Geradezu besetzt bin ich von ihr worden; das hat sich bis heute nicht geändert. Nur daß Wiebke einen dünnen Streifen Haars stehen-, ihn wie aus der Spalte aufsteigen läßt. Das ist sogar raffiniert, weil er sich zu beiden Seiten des Schambergs in je einen schmalen gebogenen Flügel spaltet: gleichsam die Hinaufprojektion ihrer Eierstöcke. Die Figur ist dabei so randscharf, daß man meinen könnte, sie sei mit Kajal aufgemalt – einem hellen, allerdings; Wiebke ist blond, schon ihr Name legt das nahe.
An Raffinesse jedenfalls ist sie, die drei Jahre Jüngere, um mindestens zehn dem Freund voraus. - Ach wenn er doch die Zunge nähme! So frei ist sie denn doch noch nicht, daß sie ihm bittend zuhauchen könnte, geschweige denn fordernd.
Seine Berührung ist scheu, als zwei seiner Finger die Clitoris suchen. In derselben Scheuheit sucht s i e nach dem Phallus. Dabei, wirklich, kennen sie doch alles... Nie vorher hätte sie gedacht, wie schön solch ein Schwanz ist, egal, wie oft sie schon einen im Film sah, - von welcher eben auch ästhetischen Perfektion. (Natürlich denkt sie nicht in diesen Begriffen, aber sie fühlt sie).
Jetzt muß sie bald fragen... (wegen des Kondoms). Vielleicht kommt aber er selbst drauf. Außerdem fürchtet sie sich ein bißchen vor dem Schmerz. Besser aber das, als an das Blut zu denken. Während durch seinen Kopf, ganz wie seinerzeit durch meinen, der Ratschlag zieht, eine Jungfrau kurz vor dem Eindringen heftig in den Hals zu beißen, dann merke sie es unten nicht. Oder doch viel weniger.
Unsicherheiten, heute nicht anders als damals und beide Male aus wogender Verliebtheit. Und Nichtglaubenkönnen: nicht fassen können, daß dies alles genau jetzt geschieht.

(Genauso fassungslos lag auch ich, fassungslos staunend, zum ersten Mal an Dir, umhöhlt von Triest.

A.)
12.47 Uhr.
*

>>>> Achtzehnter Brief nach Triest
Sechzehnter Brief nach Triest <<<<

albannikolaiherbst meinte am 2014/12/07 10:06:
"La mer: l'origine du monde":



(Carlos Querales, L'origen és el mar, 1983,
>>>> MACBA, Barcelona)


[Zum Vergleich >>>> dort Courbet.]
 

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