Vierundzwanzigster Brief nach Triest. (Briefe nach Triest, 28).
Kaum für länger als sechsunddreißig Stunden, Elbin,
Am Rotlack, dem 15. Dezember 2014,
L‘Épopée tzigane: Camarón, Nana del Caballo grande,
montags 10.37 Uhr,
L‘Épopée tzigane: Camarón, Nana del Caballo grande,
montags 10.37 Uhr,
habe ich die Serie dieser Briefe unterbrochen, und dennoch kommt es mir wie vier Tage vor, wenn nicht, Schönste, wie eine ganze Woche, daß wir voneinander nichts mehr gehört haben. Neue Begegnungen schärften diese Zeit und Wiederbegegnungen mit Menschen aus meinem Leben vor Dir spitzten das Blei ihres Stifts; insofern „wieder“-neu auch sie - eine lange Nacht in Karlsruhe, in der ich allenfalls zwei Stunden geschlafen habe, und auch die nicht am, wie man falscherweise sagt, „Stück“.
Der - von einem vierköpfigen Künstlerkonsortium unterhalten - >>>> „Circus 3000“ benannte kleine Saal ist für Lesungen ein wirklich wundervoller Ort. Du hättest wirklich dabeisein sollen! Solch eine herzliche Aufnahme durch die Gastgeberinnen und -geber, solch gleichermaßen groß- wie freizügige Bewirtung, doch vor allem, Elbin, welch, der Dichtung, hingebungsbereites und kluges Publikum! Ich habe annähernd zwei Stunden vorgetragen, mit einer halben Stunde Pause dazwischen, und imgrunde hätte ich immer noch weiterlesen können. Irgendwann drehte ich wie berauscht geradezu ab, spür noch in meinem rechten Arm, bis heute, bis jetzt, wie ich die Verse mitdirigierte, aus dem Auf und Ab meiner Hand die Rhythmik in meinen Brustkorb ziehend, damit sie als Atem hinausströmen konnten. Ich wagte sogar den Vortrag der >>>> Scelsi-Variationen; sie komplett zu rezitieren, hab ich mir zuvor nicht zugetraut. Nun hörte der Applaus kaum auf, wiederum was mir den Mut gab, zwei Stücke direkt aufeinanderzulegen, die tatsächlich zueinander gehören, jedenfalls in ihrer Entstehungsgeschichte, nämlich die Neunte >>>> Bamberger Elegie und den Epilog >>>> Argos: hören lassen, wie jener eine Vorarbeit zu diesem.
Bis in die Nacht standen wir nachher beeinander und sprachen. Ich habe Dir ja bereits erzählt, daß die junge Dichterin hatte kommen wollen. Das hatte sie getan, war aber schließlich so herzlich in ein Gespräch vertieft, daß ich irgendwann abschiedslos davonzog. Denn unversehens war mir eingefallen, wofür Lenz, als die Lydierin sich wieder von ihm löste, büßen mußte... ich dachte genau dieses Wort: büßen. Dabei ist nicht einmal ausgeschlossen, daß darin sogar der eigentliche, vielleicht sogar ausschließliche Grund für ihren Rückzug gesucht werden muß, bzw. gefunden werden kann.
Ich spreche von Reinheit, Geliebte, einer Lenz verlorenen. (Du wirst Dich erinnern: Ich habe diesen Gedanken schon einmal formuliert). In der Tat hat Lenzens Eremitage in dem Grenzhäuschen, hat auch seine Sehnsucht nach seinem quasi Bauerntum etwas von einem Gelübde, das einer Schuld wegen abgelegt und nach dem fürderhin zu leben versucht wird. Nur daß sie in diesem Fall nicht Lenzens, sondern allein die meine ist, die aber er an meiner Stelle austrägt. Ich meine die Schuld unentwegter sexueller Übertretungen, die es auch begründen werden, daß er sogar, nachdem die Lydierin zu ihm zurückgekehrt ist, kein Kind mehr zeugen kann. Daß es in Wirklichkeit an seinem früheren Leben liegt, dem der so hohlen wie ethisch fragwürdigen Finanzgeschäfte, bildet er sich nur sein – fast notwendigerweise, weil er von mir ja nichts wissen kann und wissen wohl auch nie gewollt hätte: Man gibt sich in deren Metiers zumindest den Anschein moralischer Unantastbarkeit. Daher die replikante Glätte, meistens, der Bankers & Brokers.
Jedenfalls ist Lenz zu büßen bereit, dachte ich, als ich von der Veranstaltung durch die Nacht zu meinem Hotel schritt.
Seltsames Karlsruhe! Hohl unverbundene, vor allem unbelebte lange Straßenzüge; eine Stadt aus trübester Novembertusche. Die verlassenen Baustellen, ihre ausgehobenen Schächte, in denen der Regen sich sammelt, die Menschenlosigkeit vor dem Bahnhof, der selbst aber menschengefüllt war, als ich ankam. Kaum treten die Leute indessen hinaus, lösen sie sich in der Trübigkeit auf. Wie Geister gehen sie in sie ein, die schon ein kleinster Wind zerbläst. Deshalb bleibt, wer noch Gestalt hat, dort besser zuhause.
Tatsächlich waren am Abend nicht wenige Fenster erleuchtet gewesen, und sogar jetzt noch, nachts, beinah frühmorgens, waren sie es, aber hinaus ging offenbar nur, wer nichts mehr zu verlieren hatte.
Dabei war dies die Nacht auf den Sonntag, stell Dir, Liebes, das vor! Andernorts s c h w ä r m e n da die Menschen, egal, ob es regnet. Da hört man Lachen, Gelächter, Gejohle. - Hier war nur Stille. Nur morgens, nach meinen anderthalb, vielleicht zwei Stunden Schlafs, riefen sich quer über den Bahnhofsvorplatz zwei heisere türkische Jungmännerstimmen zu, warnten einander, dachte ich, vor den Geistern. Hab acht! Hab acht! Mir war, als ob mich eine Frau in die Schulter bisse – da Du nicht da warst, mich zu schützen. (Tatsächlich habe ich dort nun ein Zeichen; ich sah es vorhin, als ich über dem Waschbecken die Zähne putzte, im Badezimmerspiegel; deutlich, von Zähnen; noch heute ist die Markierung zu sehen).
Du aber, geliebte Sìdhe, fielst in den selben zweidrei Minuten von mir ab, die meine Karlsruher Einfahrt währte. So war ich unversehens ein nächstes Mal verlassen, auch Dein in mir gebliebenes Du ließ mich allein. Genau das warf mir der blind gewordene Spiegel dieser ganzen trüben Stadt zurück. Sicher spielte auch eine Rolle, daß es derart zeitig dunkel wird, dunkler und früher, will mir scheinen, als je in einem Dezember zuvor, also über das Maß der auch sonst in diesem Monat zu kurzen Tage hinaus: als stiege seine Dunkelheit noch an mit den Jahren und breitete sich aus, bis es eines unvermerkten Jahres im Dezember überhaupt nicht mehr hell werden wird, sondern alles bleibt Nacht und greift von dort aus unerbittlich auf den November und den Januar über, besetzt schließlich das ganze Jahr. So daß es, Geliebte, eines Tages gar nichts anderes mehr geben wird als unentwegte Dunkelheit. In Karlsruhe wurde diese Zukunft, an diesem Abend und in dieser Nacht, schon modellhaft, schien mir, vorprobiert. War ich, ohne es zu wissen – geschweige, daß mich jemand gewarnt hätte , in eine Performance des >>>> ZKMs geraten, in welche die gesamte Stadt integriert war? Es wäre erlösend gewesen, das glauben zu können, wenigstens es anzunehmen. Doch was den Geist anbelangt, der mich biß, war wirklich das Bett komplett aufgewühlt, dem Boden von Schlachtfeldern gleich, nicht nur verwühlt, Geliebte, sondern die Kissen eingerissen, die Decken hälftig abgezogen – sie backten in Ballen zusammengeklebt über die Matratze hinaus, dessen Laken in sie hinein dreiviermal von einem Messer aufgeschnitten war. Als ich das gewahrte, war ich nicht erschreckt, sondern fühllos wie die Stadt Karlsruhe selbst, die es betrachtet. In der Verlassenheit, wenn wir es sind, so verlassen, fühlen wie immer nur sie. Blut allerdings war nirgends zu sehen.
O über die Exzesse! - Ich komme auf die Reinheit zurück, auf die verlorene Unschuld und auf die Buße (wenn es für Reue zu spät ist): Das Scheusal und die Jungfrau. Es geht an ihr verloren, verliert sich an ihr und beichtet schließlich den Steinen - der Mauer vielleicht, die Lenz an meiner Statt errichtet. „Verloren“ heißt, daß wir erst jetzt verstehen, was die Unschuld ist. Wir verlieren sie in dem Moment, da wir sie erkennen, zum ersten Mal die Hand auf Deinem flachen Bauch. Da erst wird sie uns aber eigen - „unser“ im dann schon sofortigen Absturz (: Entzug).
Mein Leben lang bin ich gegen den Begriff der Reinheit angerannt. Jetzt ward sie mir und schlug mich. Karlsruhe war die, volkschristlich gesprochen, Hölle, die meine Zukunft sein wird; heidnisch also: „Auferstehung w i r d nicht!“
Die >>>>Veranstaltung, Herz, gewährte mir nur einen vorübergehenden Unterstand gegen den Sturm. So las ich ausschließlich Dichtung aus meinem Leben v o r Dir. (Es war gar nicht ich, der dort auftrat, sondern die mich beinah rührende Kunstfigur einer seit langem vergangenen, u n t e rgegangenen Zeit. So leicht, deshalb, wurde mir alles!)
(Dieses Ahos Fagottkonzert ist das mit Abstand eindrücklichste, das ich von ihm bisher kenne:
Der - von einem vierköpfigen Künstlerkonsortium unterhalten - >>>> „Circus 3000“ benannte kleine Saal ist für Lesungen ein wirklich wundervoller Ort. Du hättest wirklich dabeisein sollen! Solch eine herzliche Aufnahme durch die Gastgeberinnen und -geber, solch gleichermaßen groß- wie freizügige Bewirtung, doch vor allem, Elbin, welch, der Dichtung, hingebungsbereites und kluges Publikum! Ich habe annähernd zwei Stunden vorgetragen, mit einer halben Stunde Pause dazwischen, und imgrunde hätte ich immer noch weiterlesen können. Irgendwann drehte ich wie berauscht geradezu ab, spür noch in meinem rechten Arm, bis heute, bis jetzt, wie ich die Verse mitdirigierte, aus dem Auf und Ab meiner Hand die Rhythmik in meinen Brustkorb ziehend, damit sie als Atem hinausströmen konnten. Ich wagte sogar den Vortrag der >>>> Scelsi-Variationen; sie komplett zu rezitieren, hab ich mir zuvor nicht zugetraut. Nun hörte der Applaus kaum auf, wiederum was mir den Mut gab, zwei Stücke direkt aufeinanderzulegen, die tatsächlich zueinander gehören, jedenfalls in ihrer Entstehungsgeschichte, nämlich die Neunte >>>> Bamberger Elegie und den Epilog >>>> Argos: hören lassen, wie jener eine Vorarbeit zu diesem.
Bis in die Nacht standen wir nachher beeinander und sprachen. Ich habe Dir ja bereits erzählt, daß die junge Dichterin hatte kommen wollen. Das hatte sie getan, war aber schließlich so herzlich in ein Gespräch vertieft, daß ich irgendwann abschiedslos davonzog. Denn unversehens war mir eingefallen, wofür Lenz, als die Lydierin sich wieder von ihm löste, büßen mußte... ich dachte genau dieses Wort: büßen. Dabei ist nicht einmal ausgeschlossen, daß darin sogar der eigentliche, vielleicht sogar ausschließliche Grund für ihren Rückzug gesucht werden muß, bzw. gefunden werden kann.
Ich spreche von Reinheit, Geliebte, einer Lenz verlorenen. (Du wirst Dich erinnern: Ich habe diesen Gedanken schon einmal formuliert). In der Tat hat Lenzens Eremitage in dem Grenzhäuschen, hat auch seine Sehnsucht nach seinem quasi Bauerntum etwas von einem Gelübde, das einer Schuld wegen abgelegt und nach dem fürderhin zu leben versucht wird. Nur daß sie in diesem Fall nicht Lenzens, sondern allein die meine ist, die aber er an meiner Stelle austrägt. Ich meine die Schuld unentwegter sexueller Übertretungen, die es auch begründen werden, daß er sogar, nachdem die Lydierin zu ihm zurückgekehrt ist, kein Kind mehr zeugen kann. Daß es in Wirklichkeit an seinem früheren Leben liegt, dem der so hohlen wie ethisch fragwürdigen Finanzgeschäfte, bildet er sich nur sein – fast notwendigerweise, weil er von mir ja nichts wissen kann und wissen wohl auch nie gewollt hätte: Man gibt sich in deren Metiers zumindest den Anschein moralischer Unantastbarkeit. Daher die replikante Glätte, meistens, der Bankers & Brokers.
Jedenfalls ist Lenz zu büßen bereit, dachte ich, als ich von der Veranstaltung durch die Nacht zu meinem Hotel schritt.
Seltsames Karlsruhe! Hohl unverbundene, vor allem unbelebte lange Straßenzüge; eine Stadt aus trübester Novembertusche. Die verlassenen Baustellen, ihre ausgehobenen Schächte, in denen der Regen sich sammelt, die Menschenlosigkeit vor dem Bahnhof, der selbst aber menschengefüllt war, als ich ankam. Kaum treten die Leute indessen hinaus, lösen sie sich in der Trübigkeit auf. Wie Geister gehen sie in sie ein, die schon ein kleinster Wind zerbläst. Deshalb bleibt, wer noch Gestalt hat, dort besser zuhause.
Tatsächlich waren am Abend nicht wenige Fenster erleuchtet gewesen, und sogar jetzt noch, nachts, beinah frühmorgens, waren sie es, aber hinaus ging offenbar nur, wer nichts mehr zu verlieren hatte.
Dabei war dies die Nacht auf den Sonntag, stell Dir, Liebes, das vor! Andernorts s c h w ä r m e n da die Menschen, egal, ob es regnet. Da hört man Lachen, Gelächter, Gejohle. - Hier war nur Stille. Nur morgens, nach meinen anderthalb, vielleicht zwei Stunden Schlafs, riefen sich quer über den Bahnhofsvorplatz zwei heisere türkische Jungmännerstimmen zu, warnten einander, dachte ich, vor den Geistern. Hab acht! Hab acht! Mir war, als ob mich eine Frau in die Schulter bisse – da Du nicht da warst, mich zu schützen. (Tatsächlich habe ich dort nun ein Zeichen; ich sah es vorhin, als ich über dem Waschbecken die Zähne putzte, im Badezimmerspiegel; deutlich, von Zähnen; noch heute ist die Markierung zu sehen).
Du aber, geliebte Sìdhe, fielst in den selben zweidrei Minuten von mir ab, die meine Karlsruher Einfahrt währte. So war ich unversehens ein nächstes Mal verlassen, auch Dein in mir gebliebenes Du ließ mich allein. Genau das warf mir der blind gewordene Spiegel dieser ganzen trüben Stadt zurück. Sicher spielte auch eine Rolle, daß es derart zeitig dunkel wird, dunkler und früher, will mir scheinen, als je in einem Dezember zuvor, also über das Maß der auch sonst in diesem Monat zu kurzen Tage hinaus: als stiege seine Dunkelheit noch an mit den Jahren und breitete sich aus, bis es eines unvermerkten Jahres im Dezember überhaupt nicht mehr hell werden wird, sondern alles bleibt Nacht und greift von dort aus unerbittlich auf den November und den Januar über, besetzt schließlich das ganze Jahr. So daß es, Geliebte, eines Tages gar nichts anderes mehr geben wird als unentwegte Dunkelheit. In Karlsruhe wurde diese Zukunft, an diesem Abend und in dieser Nacht, schon modellhaft, schien mir, vorprobiert. War ich, ohne es zu wissen – geschweige, daß mich jemand gewarnt hätte , in eine Performance des >>>> ZKMs geraten, in welche die gesamte Stadt integriert war? Es wäre erlösend gewesen, das glauben zu können, wenigstens es anzunehmen. Doch was den Geist anbelangt, der mich biß, war wirklich das Bett komplett aufgewühlt, dem Boden von Schlachtfeldern gleich, nicht nur verwühlt, Geliebte, sondern die Kissen eingerissen, die Decken hälftig abgezogen – sie backten in Ballen zusammengeklebt über die Matratze hinaus, dessen Laken in sie hinein dreiviermal von einem Messer aufgeschnitten war. Als ich das gewahrte, war ich nicht erschreckt, sondern fühllos wie die Stadt Karlsruhe selbst, die es betrachtet. In der Verlassenheit, wenn wir es sind, so verlassen, fühlen wie immer nur sie. Blut allerdings war nirgends zu sehen.
[Kalevi Aho, Konzert für Kontrafagott und Orchester
(2004/5)]
(2004/5)]
O über die Exzesse! - Ich komme auf die Reinheit zurück, auf die verlorene Unschuld und auf die Buße (wenn es für Reue zu spät ist): Das Scheusal und die Jungfrau. Es geht an ihr verloren, verliert sich an ihr und beichtet schließlich den Steinen - der Mauer vielleicht, die Lenz an meiner Statt errichtet. „Verloren“ heißt, daß wir erst jetzt verstehen, was die Unschuld ist. Wir verlieren sie in dem Moment, da wir sie erkennen, zum ersten Mal die Hand auf Deinem flachen Bauch. Da erst wird sie uns aber eigen - „unser“ im dann schon sofortigen Absturz (: Entzug).
Mein Leben lang bin ich gegen den Begriff der Reinheit angerannt. Jetzt ward sie mir und schlug mich. Karlsruhe war die, volkschristlich gesprochen, Hölle, die meine Zukunft sein wird; heidnisch also: „Auferstehung w i r d nicht!“
Die >>>>Veranstaltung, Herz, gewährte mir nur einen vorübergehenden Unterstand gegen den Sturm. So las ich ausschließlich Dichtung aus meinem Leben v o r Dir. (Es war gar nicht ich, der dort auftrat, sondern die mich beinah rührende Kunstfigur einer seit langem vergangenen, u n t e rgegangenen Zeit. So leicht, deshalb, wurde mir alles!)
(Dieses Ahos Fagottkonzert ist das mit Abstand eindrücklichste, das ich von ihm bisher kenne:
Wie gerne ließe ich`s Dich mithören, Deinen Kopf an meiner Brust; wir atmeten wie E i n e s. Verloren. Verloren alles das.
19.50 Uhr.
Alban)
*
19.50 Uhr.
Alban)
ICE, den 16. Dezember 2014,
dienstagmorgens 8.55 Uhr,
Kalevi Aho, Konzert für Kontrafagott und Orchester,
dienstagmorgens 8.55 Uhr,
Kalevi Aho, Konzert für Kontrafagott und Orchester,
Gestern, Frau, konnte ich nicht mehr weiterschreiben, war nach dem „Verloren“ erschöpft – alles nun, Geliebte, erschöpft sich mir – n i c h t alles, nein, aber doch vieles. Und nun sitz ich bereits wieder im Zug und habe die vier Stunden für Dich Zeit, die er bis Berlin brauchen wird (umsteigen in Spandau, vier Minuten mit der Regionalbahn bis Jungfernheide, dann mit der SBahn noch weitere vierzehn oder fünfzehn bis zur Prenzlauer Allee). Gegen 13 Uhr, so es nicht zu Verspätungen kommt, werde ich die Arbeitswohnung wieder betreten und als erstes, so nehm ich‘s mir vor, Deinen verrotteten Blumenstrauß entsorgen. Das ist nicht ohne Aggressivität, mein Herz. Doch kann ich Dir versichern, daß meine Impotenzängste (Du weißt schon: Buße & Strafe) sich seit gestern quasi selbst widerlegt haben. Nicht dafür, aber es war eine Folge, habe ich meinen fernberliner Aufenthalt um einen Tag verlängert. Deshalb auch verlangt dieser Brief einen weitere Aufschub, bevor er Dir zugestellt werden kann. - Ach, „zugestellt“, „verlangt“: in unsere Liebe geraten ungute Töne. Das liegt an ihrer Tiefe und der Tiefe ihres Wegschnitts, für mich im speziellen am Wiederverlust meiner durch Dich gewonnenen Unschuld; daß ich von „wieder“gewonnen nicht schreiben kann, sagte ich bereits, und weshalb nicht. Ich mag nicht wiederholen.
Dennoch ist über Unschuld weiterzudenken: Was ist mit ihr gemeint?
Unser Staunen.
Meine Hand auf Deinem Bauch.
Daß dieses mir so völlig genügte wie Lenz, aber nicht für Zeugung und Empfängnis u n s, das wird sich auf ihn - doch ohne meine Gründe (e r, deshalb, ist schuldlos) - übertragen. So leiden wird er unter mir und im Ergebnis, keinem eben, die Lydierin auch. Ich stehe ihrem Glück im Weg; was ich gelebt habe, wird es den beiden verstellen. So wird meine Schuld durch den Wiederverlust Deines Segens, der meine, durch Dein Erscheinen, unversehene Unschuld gewesen, schwerer als zuvor. Vielleicht ist aber Schuld so erst geworden? Ich hatte doch v o r Dir so lange Zeit keinen Vergleich mehr, fast jahrzehntelang nicht, und tat, was ich getan, aus guter, oft auch wohlüberlegter Überzeugung und gegen den Willen der Frauen gewiß nie. Im Gegenteil, sie baten mich. Ihr „ich will“ war mir seit jeher Bedingung. Das, indem ich nun derartig unschuldig wurde, hätte ich mißachten müssen, gerade weil ich unschuldig wurde? Spürst Du, Herz, meine Verzweiflung am Meergrund dieser Frage?
: So schwere wie zerrissene und immer weiter zerreißende Wolken überm nordhessischen Hügelland: trübe, vergeblich schmuckgemeinte Dörfer, Lehmfelder, schüttere fröstelnde Haine, lehmbraune Wasserläufe: mein mürbe gewordenes Herz (kurz vor Kassel-Wilhelmshöhe, Kalevi Ahos Minea von 2008, 9.42 Uhr) -
- also zurück noch einmal in die Karlsruher Nacht. Ich hatte endlich den Mauersaum der weiten Tiergartenanlage erreicht, die schräg gegenüber dem Bahnhofsvorplatz beginnt. Es war fast schon vier Uhr morgens gewesen. Heiser riefen Krähen einander von Wipfel zu Wipfel. Als aus einem, als wär er eine Tür, Winkel dieser Mauer ein Wesen heraustrat, das ich noch lange für eine Frau halten sollte. Erst jetzt, da ich zurückdenke, verstehe ich, wer sie war. (Jedes, sagen wir, „Himmels“geschöpf hat eine Entsprechung der Hölle, ihren, kann man das nennen, negativen Abdruck.)
„Helfen Sie mir“, flüsterte sie, aber gedrängt, es war deutlich ein Geist, eine Geistin – indessen eine, die weggelaufen war und vielleicht Mensch werden wollte. Auch das ahne ich aber jetzt erst. In dieser Nacht hielt ich sie für eine Obdachlose, die einen Obulus erbittet. Sie sah wie eine auch aus, jedenfalls anfangs, und nahm erst allmählich die Form Deines Negativs an – psychoanalytisch gesprochen die eines menschlichen Übergangsobjektes, das gerade deshalb an Dich erinnerte, weil es sich in seiner, ich muß sagen Gewalthaftigkeit von Dir unterschied, in der rücksichtslosen Gewalt seines Begehrens, ja seiner Gier. Wiederum genau deswegen entsprach es mir, meiner, um im Bild zu bleiben, radikalen Schuldhaftigkeit, um nicht sogar von Verdorbenheit zu sprechen. Kurz, ich nahm die dunkle Elbe mit auf mein Zimmer, schummelte sie am Tresen des Empfangs vorbei; hinter der Milchglaswand, die den Tresen von einem kleinen Hintereckchen trennte, war der Nachtportier ohnedies engeschlummert. Freilich mußte ich ihn meines Zimmerschlüssels wecken, aber da war die Schwarzalbe bereits eine halbe Treppe hinauf. Trotzdem schob ich ihm, damit er im Fall eines Falles schwieg, einen Zwanziger über die Schreibmatte hin.
Ich hatte die Zimmernummer 6, Schloßhotel; das alles läßt sich nachprüfen.
Ich gab dem Nachtmar einen Stoß, und er fiel auf das Bett.
„Zieh dich aus“, befahl ich.
„Aber doch gerne“, zischelte er und wand sich herum, Rücken zu mir, die Knie schon wieder auf dem Boden, vorgebeugt den Oberkörper übers Bett. So nestelte das Ding mit beiden Händen hinten den BH auf, der je die Fledermausflügel mit den vorstehenden Schmalen Deiner Schulterpfannen verband und dort festhielt. Und diese Endnacht begann.
Ich wußte nichts von dem Messer, mit dem die Albe die Matratze zerschnitt, als ich morgens im Bad war. Als ich herauskam, war das Biest weg; übrigens auch einiges Geld. Ich gönnte es ihm, so nach meinem alten Geschmack warn unsre bösen Spiele gewesen. Außerdem war ich viel zu zerschlagen, um noch sonderlicher Regungen fähig gewesen zu sein. Wirklich schlafen können hatte ich mit diesem Geschöpf aber auch nicht, obwohl ich jetzt weiß, daß ich genau das eigentlich gewollt hatte, und zwar einfach – nun ja, „einfach“–, um die Hemmung zu durchbrechen, zu der mich erst der Sterberoman, dann die mir fremde Unschuld verdammte – ja, seit ich sie wieder, und nun denn auch wirklich, verloren hatte, schien mir sie, diese Hemmung, für den ganzen Rest meines Lebens über mir als Verhängnis wie ein Stab gebrochen worden zu sein, mit dem sich das Urteil besiegelt.
Übrigens hat die Wunde, ich meine in meiner Achselbeuge den Biß, zu eitern begonnen. Lenz, restlos irritiert, befühlt sie, versteht nicht, kann auch gar nicht verstehen. An ihm erscheint sie wie ein Stigma. Erst Wochen später, als die Lydierin zurückgekommen ist, wird sie heilen. Es braucht nicht mehr als einen Kuß – nein, sie leckt einmal drüber. „Was hast du da?“ „Ich weiß es nicht. Das brach plötzlich auf, nichts hat geholfen, keine Wundcreme, kein Pflaster.“ „Du warst mit einem bösen Nachtgeist zusammen.“ „Ich habe keinerlei Erinnerung, war keusch, seit du fortwarst.“ (Allein das Wort „keusch“ aus seinem Mund... derart hilflos ist er wieder.)
Sie nähert der Stelle ihren Mund, berührt sie, leckt die Wunde einfach ab: in beiderlei Sinn. Leckt drüber, sie schließt sich, verschwunden. Unschuld des Glaubens. (Die Liebe als Dienst an den Göttern: Euer allerheiligstes Sakrament.)
Die Cava grande bei Sgonica, Provincia di Trieste: Tropfsteinhöhle Mutterbauch. Die Lydierin, durch ihre Scheide, führte Lenz den vaginalen Gang hinab in sie selbst. Als sie unten angelangt waren, faltete sie sich, ohne daß er das bemerkte, aber konnte ihn so in die Seitenkapelle ihrer Achselhöhle führen, worin sie den Uterus auftat. Lenz indessen versagte.
Sie gab noch nicht auf, flog nach Zürich, versuchte es ein zweites Mal. Und abermals, derart voll Unschuld, konnte er nicht. (Ich konnte nicht. Doch gestern hab ich den Fluch durchbrochen, hab ich die Unschuld durchbrochen. Darum fahre ich heute erst heim.
Wiederselbstermächtigung, Sìdhe.
11.37 Uhr, hinter Braunschweig:
Alban)
*
Dennoch ist über Unschuld weiterzudenken: Was ist mit ihr gemeint?
Unser Staunen.
Meine Hand auf Deinem Bauch.
Daß dieses mir so völlig genügte wie Lenz, aber nicht für Zeugung und Empfängnis u n s, das wird sich auf ihn - doch ohne meine Gründe (e r, deshalb, ist schuldlos) - übertragen. So leiden wird er unter mir und im Ergebnis, keinem eben, die Lydierin auch. Ich stehe ihrem Glück im Weg; was ich gelebt habe, wird es den beiden verstellen. So wird meine Schuld durch den Wiederverlust Deines Segens, der meine, durch Dein Erscheinen, unversehene Unschuld gewesen, schwerer als zuvor. Vielleicht ist aber Schuld so erst geworden? Ich hatte doch v o r Dir so lange Zeit keinen Vergleich mehr, fast jahrzehntelang nicht, und tat, was ich getan, aus guter, oft auch wohlüberlegter Überzeugung und gegen den Willen der Frauen gewiß nie. Im Gegenteil, sie baten mich. Ihr „ich will“ war mir seit jeher Bedingung. Das, indem ich nun derartig unschuldig wurde, hätte ich mißachten müssen, gerade weil ich unschuldig wurde? Spürst Du, Herz, meine Verzweiflung am Meergrund dieser Frage?
: So schwere wie zerrissene und immer weiter zerreißende Wolken überm nordhessischen Hügelland: trübe, vergeblich schmuckgemeinte Dörfer, Lehmfelder, schüttere fröstelnde Haine, lehmbraune Wasserläufe: mein mürbe gewordenes Herz (kurz vor Kassel-Wilhelmshöhe, Kalevi Ahos Minea von 2008, 9.42 Uhr) -
- also zurück noch einmal in die Karlsruher Nacht. Ich hatte endlich den Mauersaum der weiten Tiergartenanlage erreicht, die schräg gegenüber dem Bahnhofsvorplatz beginnt. Es war fast schon vier Uhr morgens gewesen. Heiser riefen Krähen einander von Wipfel zu Wipfel. Als aus einem, als wär er eine Tür, Winkel dieser Mauer ein Wesen heraustrat, das ich noch lange für eine Frau halten sollte. Erst jetzt, da ich zurückdenke, verstehe ich, wer sie war. (Jedes, sagen wir, „Himmels“geschöpf hat eine Entsprechung der Hölle, ihren, kann man das nennen, negativen Abdruck.)
„Helfen Sie mir“, flüsterte sie, aber gedrängt, es war deutlich ein Geist, eine Geistin – indessen eine, die weggelaufen war und vielleicht Mensch werden wollte. Auch das ahne ich aber jetzt erst. In dieser Nacht hielt ich sie für eine Obdachlose, die einen Obulus erbittet. Sie sah wie eine auch aus, jedenfalls anfangs, und nahm erst allmählich die Form Deines Negativs an – psychoanalytisch gesprochen die eines menschlichen Übergangsobjektes, das gerade deshalb an Dich erinnerte, weil es sich in seiner, ich muß sagen Gewalthaftigkeit von Dir unterschied, in der rücksichtslosen Gewalt seines Begehrens, ja seiner Gier. Wiederum genau deswegen entsprach es mir, meiner, um im Bild zu bleiben, radikalen Schuldhaftigkeit, um nicht sogar von Verdorbenheit zu sprechen. Kurz, ich nahm die dunkle Elbe mit auf mein Zimmer, schummelte sie am Tresen des Empfangs vorbei; hinter der Milchglaswand, die den Tresen von einem kleinen Hintereckchen trennte, war der Nachtportier ohnedies engeschlummert. Freilich mußte ich ihn meines Zimmerschlüssels wecken, aber da war die Schwarzalbe bereits eine halbe Treppe hinauf. Trotzdem schob ich ihm, damit er im Fall eines Falles schwieg, einen Zwanziger über die Schreibmatte hin.
Ich hatte die Zimmernummer 6, Schloßhotel; das alles läßt sich nachprüfen.
Ich gab dem Nachtmar einen Stoß, und er fiel auf das Bett.
„Zieh dich aus“, befahl ich.
„Aber doch gerne“, zischelte er und wand sich herum, Rücken zu mir, die Knie schon wieder auf dem Boden, vorgebeugt den Oberkörper übers Bett. So nestelte das Ding mit beiden Händen hinten den BH auf, der je die Fledermausflügel mit den vorstehenden Schmalen Deiner Schulterpfannen verband und dort festhielt. Und diese Endnacht begann.
Ich wußte nichts von dem Messer, mit dem die Albe die Matratze zerschnitt, als ich morgens im Bad war. Als ich herauskam, war das Biest weg; übrigens auch einiges Geld. Ich gönnte es ihm, so nach meinem alten Geschmack warn unsre bösen Spiele gewesen. Außerdem war ich viel zu zerschlagen, um noch sonderlicher Regungen fähig gewesen zu sein. Wirklich schlafen können hatte ich mit diesem Geschöpf aber auch nicht, obwohl ich jetzt weiß, daß ich genau das eigentlich gewollt hatte, und zwar einfach – nun ja, „einfach“–, um die Hemmung zu durchbrechen, zu der mich erst der Sterberoman, dann die mir fremde Unschuld verdammte – ja, seit ich sie wieder, und nun denn auch wirklich, verloren hatte, schien mir sie, diese Hemmung, für den ganzen Rest meines Lebens über mir als Verhängnis wie ein Stab gebrochen worden zu sein, mit dem sich das Urteil besiegelt.
Übrigens hat die Wunde, ich meine in meiner Achselbeuge den Biß, zu eitern begonnen. Lenz, restlos irritiert, befühlt sie, versteht nicht, kann auch gar nicht verstehen. An ihm erscheint sie wie ein Stigma. Erst Wochen später, als die Lydierin zurückgekommen ist, wird sie heilen. Es braucht nicht mehr als einen Kuß – nein, sie leckt einmal drüber. „Was hast du da?“ „Ich weiß es nicht. Das brach plötzlich auf, nichts hat geholfen, keine Wundcreme, kein Pflaster.“ „Du warst mit einem bösen Nachtgeist zusammen.“ „Ich habe keinerlei Erinnerung, war keusch, seit du fortwarst.“ (Allein das Wort „keusch“ aus seinem Mund... derart hilflos ist er wieder.)
Sie nähert der Stelle ihren Mund, berührt sie, leckt die Wunde einfach ab: in beiderlei Sinn. Leckt drüber, sie schließt sich, verschwunden. Unschuld des Glaubens. (Die Liebe als Dienst an den Göttern: Euer allerheiligstes Sakrament.)
Die Cava grande bei Sgonica, Provincia di Trieste: Tropfsteinhöhle Mutterbauch. Die Lydierin, durch ihre Scheide, führte Lenz den vaginalen Gang hinab in sie selbst. Als sie unten angelangt waren, faltete sie sich, ohne daß er das bemerkte, aber konnte ihn so in die Seitenkapelle ihrer Achselhöhle führen, worin sie den Uterus auftat. Lenz indessen versagte.
Sie gab noch nicht auf, flog nach Zürich, versuchte es ein zweites Mal. Und abermals, derart voll Unschuld, konnte er nicht. (Ich konnte nicht. Doch gestern hab ich den Fluch durchbrochen, hab ich die Unschuld durchbrochen. Darum fahre ich heute erst heim.
Wiederselbstermächtigung, Sìdhe.
11.37 Uhr, hinter Braunschweig:
Alban)
albannikolaiherbst - Dienstag, 16. Dezember 2014, 19:45- Rubrik: Arbeitsjournal
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