Vierzehnter Brief nach Triest. (Briefe nach Triest, 16).
... mit Erde schlafen, Innigste,
solch Erde warst Du m i r:
Arbeitswohnung, den 3. Dezember 2014,
Mittwochmorgensstille, 5.34 Uhr.
Mittwochmorgensstille, 5.34 Uhr.
- dies dachte ich gestern noch meinem Brief hinterher und hatte auch schon angesetzt, Dir weiterzuschreiben, als mich ein Anruf (nicht im metaphorischen Sinn des meinen, der diesen Brief beginnt, keine, also Anrufung) zu meiner quasi-Familie hinüberbat; ob ich zu Abend mitessen möge. Spaghetti, rein aus Zucchini, mit einer leichten Tomatensauce, ich war davon wie bezaubert, auch weil sich in Gegenwart von Kindern Trübsal nicht mehr blasen läßt. Wenn es auf dieser Welt etwas gibt, das mir Zuversicht schenkt, dann sind es sie und daß eines von ihnen tatsächlich „meines“ ist, ich meine: wirklich von mir, aus meinen Säften, meinen Genen, die sich mit denen eines anderen Menschen ebenso wirklich vereinigt haben. Alles sonstige dagegen fällt ab. Deshalb doch meine Sehnsucht, noch einmal zum Teil solchen Wunders zu werden; ich erlebte es wie eine Segnung. Noch einmal diesen Daumen auf der Stirn, der auf sie das Heilszeichen malt. Versteh doch bitte meine Verzweiflung. Denn ich hatte, ohne daß ich suchte, gefunden, und sie, die Frau, fand mich. Da saßen wir, wußten und staunten.
Dieses aneinanderStaunen, einanderAnstaunen, ständig, daß wir es beide nicht faßten, hat unsere derart kurze, doch tief gemeinsame Zeit permanent begleitet. Erzähl mir das n i c h t, ich hätt das allein so empfunden! Einsamkeit war nicht bei uns. Da sind nun diese Briefe wie ein Exorzismus, der, was mir doch wohltat, aus mir heraustreibt, damit ich nicht für mich in einer Hölle zurückbleibe, die sich unversehens aus dem Himmel hervorgebrannt hat. Daß ich so weinte, als Du an diesem dann furchtbaren Sonnabendmorgen nach Triest zurückgeflogen warst, wollte die Flammen löschen; daher die S t ü r z e Wassers.
Ich weiß nicht, ob Lenz so weinen wird, dann, Du weißt schon, wenn es auch für ihn schließlich vorbei ist. Sondern ich stelle mir vor, daß er starr ist, eisesstarr, und stundenlang vor sich hinblickt. ‚Getötet‘, denkt er, ‚sie hat mich getötet.‘ Ein paar Tage später wird er denken, daß sie ihn abgetrieben habe. In meinen Briefen treibe ich, in dem ich Dich mir austreibe, das Kind ab, das wir hätten geschenkt bekommen können, nein, hätten. Mein Abschied von Dir geht über Dich hinaus (: Du mußt in dem Satz das „über‘ betonen; ich möchte seine Schlichtheit durch keine Sperrung zerstören. Das kennst Du aus meinen Büchern, daß ich Wörter sperre, wo betont werden soll; Kursivierungen hingegen heben hervor, besondere Bedeutungen. - Ach, Bücher! Es sind von Menschen mit G e i s t e r n die Kinder. So gebierst Du mir immerhin dieses.)
Wird er kommen, der Tag, an dem ich Dir ganz selbstverständlich schreibe, als meiner ständigen Frau um mich herum? Und keine Klage ist mehr dabei, nur noch die Sicherheit Deines Daseins, weil Du Dich aus meinen Gedanken, die nicht einmal mehr Erinnern sind, ja von Dir, der wirklichen Frau, restlos gelöst hast, gestaltet und erfüllt in mir selbst? Da kann ich andre Frauen haben, vielleicht auch wieder eine reale Gefährtin, doch dieses Dein Du, das ich in jedem neuen Text ansprechen werde – es müssen dann längst nicht nur Briefe mehr sein – , ist innerst zu dem meinen geworden und ich berate mich mit ihm? So gehen manchmal die Menschen zu Gräbern und sprechen mit ihren Vertrauten darin, die ihnen tatsächlich raten; die können schon jahrelang tot sein und sind doch gegenwärtiger als jedermann sonst, jedefrau. Derart, Liebste, Erde! Derart, Wunderbare, Frau...
Auch das der Prozeß dieser Briefe. Die Hinwendung bleibt. Aber die Erde treibt sie sich aus. Es ist entsetzlich perfide, daß ich sie, der sie so sehr will, verleugnen muß, um sie zu halten. Wir gehen ja nicht mehr ins Freie hinaus (das Freie entgegen den Städten), um in dem Baum den Geist zu ehren, der in ihm wohnt, oder in Wiesen die Geister. Wir stellen es uns, wenn wir sentimental gestimmt sind, vor, das vielleicht, aber wirklich noch glauben tut‘s keiner von uns. Auch ich glaub Dich nicht, nicht länger, Geliebte, und meine Dir täglich geschriebenen Seiten sind nichts als ein melancholischer Schein, der mich über den Schmerz hinwegschimmern soll. Manchmal, stell Dir nur vor, gelingt mir das auch. Dann werde ich tatsächlich ruhig. Manchmal, dann, lächel ich sogar und werde ganz vernünftig. Ist doch nur ein Baum, ist nur ein Stein, nichts ist dahinter, noch ist was drunter. Die reine Faktizität. Aber plötzlich bricht neu der Wille aus mir heraus, eines kleinen Prometheus, den Menschen (erst einmal freilich mir selbst) das Aufladungsfeuer zu bringen, den Um-, nämlich Einsturz der Profanität; dann muß nur noch ihr Schutt beiseitegeräumt, das Trümmerfeld freigelegt werden, schon kommt darunter das Licht vor (auch dieses, das „Bild“, zeigt‘s: eben n i c h t von oben, sondern aus der Erde unten) -
Früh bin ich hoch heute morgen, ein Viertel vor fünf. Das Display des Ifönchens rief zum Flug, ja, zu Deinem: „Sìdheflug“ hatte ich eingestellt. Seltsam, an einem Mittwoch? Es lag wohl an der Zeit, samstags, ja richtig, 4.45, um 7.35 hobst Du ab – (ich sehe Dich noch hinter der Sicherheitssperre, Dein aller-, wirklich allerletztes Lächeln, das mir, Deinem „Du!“, galt; ich ging nicht, bevor man Euch, die Passagiere, aufrief, stand und stand am Glas, bis ich Dich nicht mehr sah; dann verirrte ich mich; bis heute bin ich, wenn Du es recht betrachtest, aus diesem Labyrinth nicht heraus. Doch habe zwei Führer gefunden, eine Vergilin und einen Vergil, die mich, die Lydierin und Lenz, mit sich aufsteigen lassen. Dabei will ich doch gar nicht hinauf! Oben, Geliebte, ist Leere, nur unten, immer unten sind Schöpfung und Geschöpftes. Es hat seinen Grund, daß ich den Körper so ehre und dem Geist immer die Krücke anseh.
(Ein Brot bäckt im Ofen, , das „ä“ ist gewollt, und es duftet. Die Rinde mit heißem Wasser eingestrichen, von Zeit zu Zeit, damit sie bräunt. Bisweilen klopfe ich gegen den Laib, mit dem Knöchel meines Mittelfingers: klingt es hohl, ist das Brot reif. Dennoch habe ich einen Fehler begangen. Der Teig ging wunderbar auf, doch ließ ich ihn zu lange stehen, nämlich über die Nacht. Da ist er wieder zusammengefallen, das Brot nun recht flach. Wir lernen aus Fehlern. Nächstes Mehl kaufen heute: Erde.)
(7.01 Uhr.)
Das Schlimmste am Alter ist, daß man zurückschaut. Je höher es ist, desto weniger gibt es ein Vorne. Da ist nur Vorbei, Vergangenheit selbst, vorne wie hinten, doch hinten eine gefüllte. Deshalb der ständige Rückblick. In den >>>> Elegien begann ich damit und dachte indes, eine Zwischenbilanz. Noch lief der >>>> Andersweltzyklus, deutliche Bücher der Zukunft, wie hart auch immer gefaßt,; dennoch, Geschichten der werdenden Kinder. Noch >>>> Die Fenster von Sainte Chapelle waren so, gegenwärtig, zeitgenössisch, mit solchen Zügen Vorans! und der Hoffnung. Darum nahm ich das Pfingstwunder auf. Aber der „Held“ da ist bereits von ihm ausgeschlossen. Dann kam das Traumschiff. Und abermals nun ist alles ein Rückblick, selbst Lenz und seine Lydierin oder sie und ihr er, weil deren beider Geschichte als unser Spiegel konstruiert ist und schon darum von allem Anfang an den Verlust in sich trägt, unhintergehbar Vergeblichkeit.
Vielleicht brauchen wir deshalb, ich meine: für den Roman, noch ein drittes Paar neben uns, also neben der Sìdhe und dem Faun, der Lydierin und Lenz, - eines, das dem Blicken folgen auch k a n n. Das eben n i c h t bereits so vorgeprägt wurde und in Verhältnisse gebunden, die ihm den Sprung nicht erlauben. So viele Jahre der Ehe! Die solln nun durchgestrichen werden? Wie, ich bitte Dich!, kann das denn angehn? Wer gäbe das für etwas Unüberprüfbares auf? Gewiß keine Frau, die Mutter werden möchte und einen, Geliebte, Mann doch hat, an den sie immer noch Hoffnung bindet, innnigst, innigst, wenn auch darüber kaum was hinaus. Aber man kennt den Geruch, ist so oft Kind miteinander gewesen, und immer dann war es gut. Während Lenz, der alles dies Seine einfach so hinwirft, nun wirklich kein Pfahl der Verläßlichkeit ist. Das sollte die Lydierin nicht denken? Zumal sie, da können sie vögeln auf Teufelkommraus, einfach nicht schwanger werden will. Der Mann ist einfach zu weich geworden. Und eines Nachts rief Jessir an, weinend, in Panik, er werde beschossen. „Ich weiß nicht, weiß nicht“, ruft er in sein Handy, „ob ich hier heil wieder herauskomme, überhaupt herauskomme! Da will ich dir nur sagen, daß ich dich liebe. Anders kann ich nicht gehn.“ Er ist aber kaum zu verstehen. Sie hört die schnellen hohlen Knattergarben von Maschinengewehren, weiß, er ist in Pakistan. „Hörst du mich? Kannst du mich noch hören? Ich sterbe vielleicht. Und will nur, wo immer du jetzt bist und egal, mit wem, daß du es weißt. Daß ich dich - “ Die Verbindung bricht ab. Und als er dann doch wieder heimkommt...
Laß uns hoffen, daß sie n u n schwanger wird, in einer Nacht, die sie ausbleibt. Dann wär doch alles gut. Auch wenn an Schlaf nicht zu denken ist, nun ja, vielleicht für sie, parasympathikoton danach, für Lenz aber nicht. Denn natürlich waren sie verabredet - wie für jeden Abend, mindestens abends, seit die Lydierin mit ihm zusammen. Heute kommt sie nicht, so denkt er das, heim. Sie ruft auch nicht an, um abzusagen. Bleibt einfach weg. Daß Jessir zurück ist, weiß er nicht. Auch von dem Telefonat hat sie ihm nichts erzählt, aber wirkt seltsam fahrig, ja nervös, kaut sogar an den Fingernägeln und blickt, das ist das schlimmste, durch Lenz hindurch. Ihre Augen bleiben nicht mehr ineinander, wenn sie sich ansehn. Die Brücke, die ihre Blicke immer gewesen, ist eingefallen. Das spürt er sehr wohl. „Was ist denn?“ „Nichts.“ Aber du hast doch was!“ „Ich sag dir, n i c h t s ist!“ Das Essen rührt sie trotzdem nicht an, starrt auf den Teller. Ist sich bewußt geworden, wie vieles d o c h sie an Jessir noch hält, selbst über ihrer beider Trennung hinaus. Egal, wie verletzt er sie hat. Ihn niemals wiedersehen? Wie könnte sie das? Und m u ß es vielleicht, es aushalten, falls er da nicht herauskommt. Aber er kommt ja heraus! Vier Tage später die SMS, typisch für ihn nüchtern: „bin okay. mittwoch wieder in triest.“
Lenz sagt sie davon nichts. Ruft in der Redaktion an. Welcher Flieger? Steht hinterm Ausgang, baggage claim, als sich die Tür zur Seite schiebt. Wild sieht er aus. Herrlich wild und männlich. Menschlich, nicht mythisch ist das Umfangen. Die Sìdhe spürt das und flieht, schwirrt aus ihr, der Lydierin, panisch flatternd heraus, auch dies Exorzismus. Zurück bleibt die Frau, einfach Frau, die umarmt wird und, als Jessir sie küßt, an Lenz nicht mehr denkt. So wenig Überhöhung hat diese einfache Szene.
Deshalb b r a u c h e n wir, Geliebte, dieses dritte Paar, wenn der Roman keiner werden soll, der, wie fast alle Liebesromane vor ihm, die Vergeblichkeit idealisiert und den Schmerz, immer nur den Schmerz, zu seinem Movens macht. Es stimmte dann auch formal, erinnere Dich: drei mal dreizehn Briefe; hier nun wird die Drei geerdet. So wird es da endlich, ich meine das Kind. Wir müssen nur, um seinetwillen, auf die Voraussetzungen schauen. Da dürfen noch keine gewordenen Bindungen sein, keine Geschichten, die genügend Zeit gehabt haben, sich in die Seelen zu wurzeln, und die man nur mit Gewalt, so unter Schmerzen, und mit der Sense der Verlogenheit jätet oder mit dem Verdrängungsspaten erst köpft und dann aushebt, als wäre es Unkraut gewesen. War Leben doch, Leben! - Du glaubst das wirklich, Herz, daß ich Dich nicht verstünde? Ich versteh Dich zu s e h r, Geliebte, viel zu sehr! Versteh doch aber, bitte, auch mich. Verstehe die Not in diesen Briefen! Es ist so furchtbar schwer, sich der Endgültigkeit zu stellen. Auch daher meine Liebe zu Kindern. Sie machen einen Strich durch die Siegel.
Also nehme ich meinen Sohn und lasse ihn beides, zugleich, erleben: unser mythisches Blicken und die Freiheit, ihm zu folgen. Er kann das, ist noch ungebunden. Sagen wir, in sieben oder acht Jahren. Da steht dann e r vor der Frau. Sie haben beide nichts zu verlieren und alles zu gewinnen. Keiner von beiden läßt eine oder einen zurück, nur die Eltern, und das ist so richtig. Die Allegorie hat sich hier, um zu werden, nicht wie bei uns geirrt. Diesmal hat sie klug gewählt, nicht gegen Widerstände, sondern im Fluß. Sein Name ist Jugend. Jetzt braucht man nur noch den Mut.
Wie aber heißt der junge Mann? Auch ihn werden wir von seinem Urbild ablösen müssen. Wie heißt die junge Frau? Magst D u die Namen wählen? Mach mich noch einmal, Innigste, glücklich und tu es. Hier laß mich bitte n i c h t ohne Antwort.
Alban
*
(10.03 Uhr,
Michael Mantler, The Jazz Composer‘s Orchestra, Januar – Juni 1968.)
Diese Siegel, Herz, sind wir irgendwann selbst, weil gesiegelt selber worden. Auch unser Blicken löst uns nicht ab, wir sehn nur Momente hindurch, oder für fünf kurze Wochen. Selbst für das j u n g e Paar ist schon Gefahr, wir dürfen uns nicht täuschen. Darum schrieb ich vom Mut, den es braucht. Alle Welt, schon früh, sieht auf die Rente oder Karriere - selbst ohne den abfälligen Beiklang, den dieser letzte Begriff hat. Ja, auch ich tat‘s, vor Jahren, Jahrzehnten, und sie, die damals meine Frau war. Ein Kind hat einfach nicht gepaßt... - als paßten Kinder je! Auch hier schon wieder verrät ein Begriff die Erde. Aber nein, abortus, was soll‘s? – es kommen schon „bessere“ Zeiten. Sie kommen aber, Geliebte, nicht. So bleibt man kinderlos schließlich und merkt es zu spät, das Vorbei. Da freilich „paßt“ dann alles – allein indes, um‘s zu merken. Oder man fügt sich ihm vorher schon ein, „es soll halt nicht sein“, als ginge es um ein verlorenes Kaufding, das sich ersetzen ließe. So macht man den Leib zur nutzlos gesegneten, sich aus laxfreiem Willen verödenden Stätte und brennt noch eigenhändig aus, was Frucht dann nicht wird. Schreib ich halt Bücher, wähle ich halt einen neuen Beruf. Sozial etwas sein, das genügt doch... Leere schließlich, gewollte. Indem die Lydierin das nicht mehr wollte und ausbrach, mit Lenz, wurde er zur Chance für Jessir; kalt betrachtet, war das seine Funktion und die ihrer, seiner und der Lydierin, Liebe – auch wenn wir nicht sagen können, wie es mit beiden, jetzt der Lydierin und Jessir, schließlich ausgehen wird. Ich hoffe tatsächlich für beide, daß nun, bevor es biologisch zu spät ist, das Kleine sich in ihr bettet, auf das alle irdische Liebe hinauswill. Noch ist das Nest ja bereit. Und Jessir, nach der überstandenen Gefährdung, sowohl durch Lenz als auch des Todes in Pakistan wegen, der noch einmal an Jessir vorbeiging – weshalb wohl? es war da noch etwas zu tun! –, hört mit dem Quatsch endlich auf und stellt nicht länger über die Frau den Beruf; und als er in sie eindringt, weiß sie. Einige Straßen weiter tigert Lenz in seiner Wohnung auf und ab, hospitalisiert schon da: immer, immer auf und ab. Seelisch läuft er die Wände hoch. Er nämlich weiß genauso. Trotzdem hat er versucht, die Geliebte anzurufen, dreimal, viermal, die selbstverständlich nicht abnimmt. Auch Jessirs Eichel leuchtet, Lenz sieht es bis hierher. Dann macht sich der Erguß auf den Weg und hat es gar nicht eilig. A l l e wissen: deshalb. Alles w e i ß. Nicht nur die Frau, es weiß auch das Laken, es weiß die Matratze. Das ganze Bett weiß. Die Wände wissen und der Boden. Die Stühle wissen, der Tisch weiß und die Deckenlampe darüber. Und die Stadt, ganz Triest, wird Plazenta.
In ihrem erschütterten, erschütternden Jubel weint die Frau; der kennt jetzt keinen anderen Ausdruck. Es sind Rapten - wie meine, als Du gingst. „Aber ich bin doch da, bin da“, flüstert, noch kaum zu Atem gekommen, Jessir in ihr Ohr. Und er hält sie, während noch immer sein Schweiß von der Stirn auf ihr Gesicht tropft und sich mit ihren Tränen vereinigt wie in ihr die andere Nässe mit anderer Nässe, die sich durchdringbar gemacht hat.
Oh daß auch Du so jubeln könntest! Was gäb ich, Sìdhe, darum!
Aber wir wissen es nicht, sondern sind mit Gründen skeptisch. Denn Siegel bist auch Du. Daß unser Blicken es durchbrach, meines, Deines, war schon ein Wunder. Wunder sind, was wir nicht fassen; auch ihre Folgen nicht. Sie machen uns benommen Ich will auch deshalb mein Training wieder aufnehmen, noch heute. Denn was wär an Wundern gelegen, die uns verzehren? Diesen Triumph, Du meine nahste Ferne, lasse ich den Gegnern nicht: daß sie r e c h t behalten hätten mit ihrem faktischen Primat. Schon um Deinetwillen werd ich stark b l e i b e n.
A.
(11.36,
"Das Pferd": Kisses, 1988.)
P.S.:
Die Freundin schreibt mir soeben, mit noch nicht einmal fünfzig, sie werde alt. Auch wenn sie das, wie sie betont, „positiv“ meine, war und bin ich tief erschrocken. Und sah sofort nach dem Sportzeug.
*
(15.35 Uhr,
Christoph Lauer, Mondspinner, 1995.)
Vom Sport zurück, das Eiweiß gekippt, Kassler aufgesetzt, in Scheiben in der Pfanne: mein Sohn, Du Schöne, ißt heute abend mit mir. Gestern schon hatte ich den Grünkohl bereitet; es schadet ihm in keiner Weise, wenn er sich über Nacht noch einmal die Gewürze, wie jemand einen Joint, durchzieht, und den Rauch. Jedenfalls kannst Du sehen, daß hier alles seiner Wege geht, ich halte mich ganz gut (jetzt trink ich scharfen Ingwertee, möcht Dir von mir erzählen).
Vor allem war es gut, einmal so früh zum Training gegangen zu sein, daß es nicht gleich wieder dunkel ist, wenn ich das Studio verlasse. Diese kurzen Tage, langen Düsternisse tun mir fast noch mehr weh als Deine Abwesenheit. Oder, jetzt mußt ich eben lächeln, sie illustrieren sie, machen sie mir auch physisch sichtbar. Ja, wendest Du jetzt ein, wie lasse sich Abwesenheit wohl sehen: wenn da doch nichts ist..? - Nimm es als gegeben, „einfach“, daß ich‘s kann. Wobei mir das Schlimmste immer noch bevorsteht, nämlich Deine Bilder von meinen Geräten zu nehmen; auf jedem lächeln sie mich, verschiedene, als allererstes an, wenn ich die Computer hochfahr. So endgültig bin ich also wirklich noch nicht, es käme mir vor wie eine Erschießung. Imgrunde ist es mit Deinem Parfum gar nicht andes; besorgte ich es mir und trüg es nun von Zeit zu Zeit, wäre auch das die Besieglung.
Dabei täte mir, mich neu zu verlieben, jetzt ganz gut. Nein, nicht mythisch wieder. Das würde nicht gehen. Begegnungen wie mit Dir sind nicht von der Stange, schon zwei übersteigen uns völlig, wenn nicht Jahre zwischen ihnen liegen - wenn sie zumindest fast real geworden sind oder sich in wenigen Tagen oder Wochen auch an die Körper schmiegten. Aber ein Flirt, der gern auch ins Bett führt: Bezauberungen, Angerührtheiten diesseits der Besessenheit, Leichtigkeit vor allem. Doch muß es eine Fremde sein, jemand Neues, das nicht auf Dich dann und gar nichts andres zuführt, als daß man eine Zeit hat, die aus gefühlter Freiheit gemacht ist. Ein Brennen nicht, aber ein kleines Feuer doch, während sich die Nacht aufreckt über und um uns nahe herum. Vielleicht auch aneinander schlafen, nur der Wärme halber und weil es, verzeih diese niedliche Wort, süß ist, wenn einen fremdes Haar an den Nasenlöchern kitzelt und man versucht es wegzuschnauben oder, die Unterlippe vorgeschoben, wegzupusten, ohne der Neuen atmenden Leib aus ihrem Traum zu wecken. Diese Art der Rücksichtnahme, eine zarte, ist mir niemals schwergefallen, welch harter Unhold ich sonst auch immer sein mag (meine Rigorosität ist Jessirs durchaus ähnlich, nur weniger politisch).
Lenz wurde es, das zarte Rücksichtnehmen, zum Wesen. Die Lydierin, einige Monate, hat das sehr genossen. Dann war‘s ihr zu wenig Rückrat. Sowieso, ihm ging ja das Geld aus. Auf den Prozeß in Deutschland reagierte er einfach nicht, ließ die Briefe, auch die Zustellungen, ungeöffnet. Sie bekam das erst mit, als der Gerichtsvollzieher klingelte. Sie fiel aus allen Wolken. „Warum hast du nichts gesagt?!“
Er lächelte sie an.
Sie verdiente kaum genug für sich. Jetzt überlegte sie, ob ihren schönen Peugeot verkaufen. Aber was bekam man für so einen Wagen schon? Sie rief ihre Mutter an und, ausgesprochen ungern, in Lydien ihren Vater. Lenz fand das alles nicht wichtig, merkte nicht einmal, wie sich ihre Seele wandt, jedenfalls verstand er die Not nicht, obwohl er nur noch sie war, die Lydierin, kaum noch ein bißchen Ich. In sie hineingeflossen. Was also war dabei, den Vater anzurufen, wenn sie einander hatten? Er selbst wäre, um zu betteln, auf die Straße für seine Geliebte gegangen. Sie hätte nur was sagen müssen, diese, denke ich plötzlich, Sirene. Ob sie es nun gewollt hat oder nicht, sie zog ihn ins Meer; drin trieb er, doch schwamm nicht. Also selbst, Herz, wäre sie schwanger geworden, was hätte das wohl werden können?
Und was, Geliebte, wir? Ich habe meinen Sohn in Berlin und bin zwei kleinen Kindern fast ebenfalls ein Vater. Die ständige Fliegerei hin und her... Ich wär es aber angegangen. Noch jetzt ist es mir nicht vorstellbar, daß ich mich getäuscht haben sollte, schon nicht bei meinem ersten Besuch in Triest, der auf den mythischen Blick die Nagelprobe war. Ich meine, Jessir ist bekannt und Du bist‘s als seine Gemahlin. Dennoch hieltest Du mich nicht geheim. Sogar ins Tommaseo bist Du mit mir gegangen, und die großen alten Spiegel haben unsre Küsse so vervielfacht, daß sie allen sichtbar waren. „Weniger anonym“, bemerkte scherzhaft später ein Freund, der die Stadt gut kennt, „wärest du da auch nicht mit Glen Close an deiner Seite gewesen.“ Und hast drei Selfies von uns geknipst und Giulia, Deiner Freundin, als MMS geschickt. Wie sollte ich da anders denken können, als ich fühlte? Auch Deiner Mutter hast Du fast sofort berichtet; ich habe sogar selbst mit ihr gesprochen. So versteh ich und verstehe doch immer noch nicht.
(A.)
*
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Dreizehnter Brief nach Triest <<<<
Dieses aneinanderStaunen, einanderAnstaunen, ständig, daß wir es beide nicht faßten, hat unsere derart kurze, doch tief gemeinsame Zeit permanent begleitet. Erzähl mir das n i c h t, ich hätt das allein so empfunden! Einsamkeit war nicht bei uns. Da sind nun diese Briefe wie ein Exorzismus, der, was mir doch wohltat, aus mir heraustreibt, damit ich nicht für mich in einer Hölle zurückbleibe, die sich unversehens aus dem Himmel hervorgebrannt hat. Daß ich so weinte, als Du an diesem dann furchtbaren Sonnabendmorgen nach Triest zurückgeflogen warst, wollte die Flammen löschen; daher die S t ü r z e Wassers.
Ich weiß nicht, ob Lenz so weinen wird, dann, Du weißt schon, wenn es auch für ihn schließlich vorbei ist. Sondern ich stelle mir vor, daß er starr ist, eisesstarr, und stundenlang vor sich hinblickt. ‚Getötet‘, denkt er, ‚sie hat mich getötet.‘ Ein paar Tage später wird er denken, daß sie ihn abgetrieben habe. In meinen Briefen treibe ich, in dem ich Dich mir austreibe, das Kind ab, das wir hätten geschenkt bekommen können, nein, hätten. Mein Abschied von Dir geht über Dich hinaus (: Du mußt in dem Satz das „über‘ betonen; ich möchte seine Schlichtheit durch keine Sperrung zerstören. Das kennst Du aus meinen Büchern, daß ich Wörter sperre, wo betont werden soll; Kursivierungen hingegen heben hervor, besondere Bedeutungen. - Ach, Bücher! Es sind von Menschen mit G e i s t e r n die Kinder. So gebierst Du mir immerhin dieses.)
Wird er kommen, der Tag, an dem ich Dir ganz selbstverständlich schreibe, als meiner ständigen Frau um mich herum? Und keine Klage ist mehr dabei, nur noch die Sicherheit Deines Daseins, weil Du Dich aus meinen Gedanken, die nicht einmal mehr Erinnern sind, ja von Dir, der wirklichen Frau, restlos gelöst hast, gestaltet und erfüllt in mir selbst? Da kann ich andre Frauen haben, vielleicht auch wieder eine reale Gefährtin, doch dieses Dein Du, das ich in jedem neuen Text ansprechen werde – es müssen dann längst nicht nur Briefe mehr sein – , ist innerst zu dem meinen geworden und ich berate mich mit ihm? So gehen manchmal die Menschen zu Gräbern und sprechen mit ihren Vertrauten darin, die ihnen tatsächlich raten; die können schon jahrelang tot sein und sind doch gegenwärtiger als jedermann sonst, jedefrau. Derart, Liebste, Erde! Derart, Wunderbare, Frau...
Auch das der Prozeß dieser Briefe. Die Hinwendung bleibt. Aber die Erde treibt sie sich aus. Es ist entsetzlich perfide, daß ich sie, der sie so sehr will, verleugnen muß, um sie zu halten. Wir gehen ja nicht mehr ins Freie hinaus (das Freie entgegen den Städten), um in dem Baum den Geist zu ehren, der in ihm wohnt, oder in Wiesen die Geister. Wir stellen es uns, wenn wir sentimental gestimmt sind, vor, das vielleicht, aber wirklich noch glauben tut‘s keiner von uns. Auch ich glaub Dich nicht, nicht länger, Geliebte, und meine Dir täglich geschriebenen Seiten sind nichts als ein melancholischer Schein, der mich über den Schmerz hinwegschimmern soll. Manchmal, stell Dir nur vor, gelingt mir das auch. Dann werde ich tatsächlich ruhig. Manchmal, dann, lächel ich sogar und werde ganz vernünftig. Ist doch nur ein Baum, ist nur ein Stein, nichts ist dahinter, noch ist was drunter. Die reine Faktizität. Aber plötzlich bricht neu der Wille aus mir heraus, eines kleinen Prometheus, den Menschen (erst einmal freilich mir selbst) das Aufladungsfeuer zu bringen, den Um-, nämlich Einsturz der Profanität; dann muß nur noch ihr Schutt beiseitegeräumt, das Trümmerfeld freigelegt werden, schon kommt darunter das Licht vor (auch dieses, das „Bild“, zeigt‘s: eben n i c h t von oben, sondern aus der Erde unten) -
Früh bin ich hoch heute morgen, ein Viertel vor fünf. Das Display des Ifönchens rief zum Flug, ja, zu Deinem: „Sìdheflug“ hatte ich eingestellt. Seltsam, an einem Mittwoch? Es lag wohl an der Zeit, samstags, ja richtig, 4.45, um 7.35 hobst Du ab – (ich sehe Dich noch hinter der Sicherheitssperre, Dein aller-, wirklich allerletztes Lächeln, das mir, Deinem „Du!“, galt; ich ging nicht, bevor man Euch, die Passagiere, aufrief, stand und stand am Glas, bis ich Dich nicht mehr sah; dann verirrte ich mich; bis heute bin ich, wenn Du es recht betrachtest, aus diesem Labyrinth nicht heraus. Doch habe zwei Führer gefunden, eine Vergilin und einen Vergil, die mich, die Lydierin und Lenz, mit sich aufsteigen lassen. Dabei will ich doch gar nicht hinauf! Oben, Geliebte, ist Leere, nur unten, immer unten sind Schöpfung und Geschöpftes. Es hat seinen Grund, daß ich den Körper so ehre und dem Geist immer die Krücke anseh.
(Ein Brot bäckt im Ofen, , das „ä“ ist gewollt, und es duftet. Die Rinde mit heißem Wasser eingestrichen, von Zeit zu Zeit, damit sie bräunt. Bisweilen klopfe ich gegen den Laib, mit dem Knöchel meines Mittelfingers: klingt es hohl, ist das Brot reif. Dennoch habe ich einen Fehler begangen. Der Teig ging wunderbar auf, doch ließ ich ihn zu lange stehen, nämlich über die Nacht. Da ist er wieder zusammengefallen, das Brot nun recht flach. Wir lernen aus Fehlern. Nächstes Mehl kaufen heute: Erde.)
(7.01 Uhr.)
Das Schlimmste am Alter ist, daß man zurückschaut. Je höher es ist, desto weniger gibt es ein Vorne. Da ist nur Vorbei, Vergangenheit selbst, vorne wie hinten, doch hinten eine gefüllte. Deshalb der ständige Rückblick. In den >>>> Elegien begann ich damit und dachte indes, eine Zwischenbilanz. Noch lief der >>>> Andersweltzyklus, deutliche Bücher der Zukunft, wie hart auch immer gefaßt,; dennoch, Geschichten der werdenden Kinder. Noch >>>> Die Fenster von Sainte Chapelle waren so, gegenwärtig, zeitgenössisch, mit solchen Zügen Vorans! und der Hoffnung. Darum nahm ich das Pfingstwunder auf. Aber der „Held“ da ist bereits von ihm ausgeschlossen. Dann kam das Traumschiff. Und abermals nun ist alles ein Rückblick, selbst Lenz und seine Lydierin oder sie und ihr er, weil deren beider Geschichte als unser Spiegel konstruiert ist und schon darum von allem Anfang an den Verlust in sich trägt, unhintergehbar Vergeblichkeit.
Vielleicht brauchen wir deshalb, ich meine: für den Roman, noch ein drittes Paar neben uns, also neben der Sìdhe und dem Faun, der Lydierin und Lenz, - eines, das dem Blicken folgen auch k a n n. Das eben n i c h t bereits so vorgeprägt wurde und in Verhältnisse gebunden, die ihm den Sprung nicht erlauben. So viele Jahre der Ehe! Die solln nun durchgestrichen werden? Wie, ich bitte Dich!, kann das denn angehn? Wer gäbe das für etwas Unüberprüfbares auf? Gewiß keine Frau, die Mutter werden möchte und einen, Geliebte, Mann doch hat, an den sie immer noch Hoffnung bindet, innnigst, innigst, wenn auch darüber kaum was hinaus. Aber man kennt den Geruch, ist so oft Kind miteinander gewesen, und immer dann war es gut. Während Lenz, der alles dies Seine einfach so hinwirft, nun wirklich kein Pfahl der Verläßlichkeit ist. Das sollte die Lydierin nicht denken? Zumal sie, da können sie vögeln auf Teufelkommraus, einfach nicht schwanger werden will. Der Mann ist einfach zu weich geworden. Und eines Nachts rief Jessir an, weinend, in Panik, er werde beschossen. „Ich weiß nicht, weiß nicht“, ruft er in sein Handy, „ob ich hier heil wieder herauskomme, überhaupt herauskomme! Da will ich dir nur sagen, daß ich dich liebe. Anders kann ich nicht gehn.“ Er ist aber kaum zu verstehen. Sie hört die schnellen hohlen Knattergarben von Maschinengewehren, weiß, er ist in Pakistan. „Hörst du mich? Kannst du mich noch hören? Ich sterbe vielleicht. Und will nur, wo immer du jetzt bist und egal, mit wem, daß du es weißt. Daß ich dich - “ Die Verbindung bricht ab. Und als er dann doch wieder heimkommt...
Laß uns hoffen, daß sie n u n schwanger wird, in einer Nacht, die sie ausbleibt. Dann wär doch alles gut. Auch wenn an Schlaf nicht zu denken ist, nun ja, vielleicht für sie, parasympathikoton danach, für Lenz aber nicht. Denn natürlich waren sie verabredet - wie für jeden Abend, mindestens abends, seit die Lydierin mit ihm zusammen. Heute kommt sie nicht, so denkt er das, heim. Sie ruft auch nicht an, um abzusagen. Bleibt einfach weg. Daß Jessir zurück ist, weiß er nicht. Auch von dem Telefonat hat sie ihm nichts erzählt, aber wirkt seltsam fahrig, ja nervös, kaut sogar an den Fingernägeln und blickt, das ist das schlimmste, durch Lenz hindurch. Ihre Augen bleiben nicht mehr ineinander, wenn sie sich ansehn. Die Brücke, die ihre Blicke immer gewesen, ist eingefallen. Das spürt er sehr wohl. „Was ist denn?“ „Nichts.“ Aber du hast doch was!“ „Ich sag dir, n i c h t s ist!“ Das Essen rührt sie trotzdem nicht an, starrt auf den Teller. Ist sich bewußt geworden, wie vieles d o c h sie an Jessir noch hält, selbst über ihrer beider Trennung hinaus. Egal, wie verletzt er sie hat. Ihn niemals wiedersehen? Wie könnte sie das? Und m u ß es vielleicht, es aushalten, falls er da nicht herauskommt. Aber er kommt ja heraus! Vier Tage später die SMS, typisch für ihn nüchtern: „bin okay. mittwoch wieder in triest.“
Lenz sagt sie davon nichts. Ruft in der Redaktion an. Welcher Flieger? Steht hinterm Ausgang, baggage claim, als sich die Tür zur Seite schiebt. Wild sieht er aus. Herrlich wild und männlich. Menschlich, nicht mythisch ist das Umfangen. Die Sìdhe spürt das und flieht, schwirrt aus ihr, der Lydierin, panisch flatternd heraus, auch dies Exorzismus. Zurück bleibt die Frau, einfach Frau, die umarmt wird und, als Jessir sie küßt, an Lenz nicht mehr denkt. So wenig Überhöhung hat diese einfache Szene.
Deshalb b r a u c h e n wir, Geliebte, dieses dritte Paar, wenn der Roman keiner werden soll, der, wie fast alle Liebesromane vor ihm, die Vergeblichkeit idealisiert und den Schmerz, immer nur den Schmerz, zu seinem Movens macht. Es stimmte dann auch formal, erinnere Dich: drei mal dreizehn Briefe; hier nun wird die Drei geerdet. So wird es da endlich, ich meine das Kind. Wir müssen nur, um seinetwillen, auf die Voraussetzungen schauen. Da dürfen noch keine gewordenen Bindungen sein, keine Geschichten, die genügend Zeit gehabt haben, sich in die Seelen zu wurzeln, und die man nur mit Gewalt, so unter Schmerzen, und mit der Sense der Verlogenheit jätet oder mit dem Verdrängungsspaten erst köpft und dann aushebt, als wäre es Unkraut gewesen. War Leben doch, Leben! - Du glaubst das wirklich, Herz, daß ich Dich nicht verstünde? Ich versteh Dich zu s e h r, Geliebte, viel zu sehr! Versteh doch aber, bitte, auch mich. Verstehe die Not in diesen Briefen! Es ist so furchtbar schwer, sich der Endgültigkeit zu stellen. Auch daher meine Liebe zu Kindern. Sie machen einen Strich durch die Siegel.
Also nehme ich meinen Sohn und lasse ihn beides, zugleich, erleben: unser mythisches Blicken und die Freiheit, ihm zu folgen. Er kann das, ist noch ungebunden. Sagen wir, in sieben oder acht Jahren. Da steht dann e r vor der Frau. Sie haben beide nichts zu verlieren und alles zu gewinnen. Keiner von beiden läßt eine oder einen zurück, nur die Eltern, und das ist so richtig. Die Allegorie hat sich hier, um zu werden, nicht wie bei uns geirrt. Diesmal hat sie klug gewählt, nicht gegen Widerstände, sondern im Fluß. Sein Name ist Jugend. Jetzt braucht man nur noch den Mut.
Wie aber heißt der junge Mann? Auch ihn werden wir von seinem Urbild ablösen müssen. Wie heißt die junge Frau? Magst D u die Namen wählen? Mach mich noch einmal, Innigste, glücklich und tu es. Hier laß mich bitte n i c h t ohne Antwort.
Alban
(10.03 Uhr,
Michael Mantler, The Jazz Composer‘s Orchestra, Januar – Juni 1968.)
Diese Siegel, Herz, sind wir irgendwann selbst, weil gesiegelt selber worden. Auch unser Blicken löst uns nicht ab, wir sehn nur Momente hindurch, oder für fünf kurze Wochen. Selbst für das j u n g e Paar ist schon Gefahr, wir dürfen uns nicht täuschen. Darum schrieb ich vom Mut, den es braucht. Alle Welt, schon früh, sieht auf die Rente oder Karriere - selbst ohne den abfälligen Beiklang, den dieser letzte Begriff hat. Ja, auch ich tat‘s, vor Jahren, Jahrzehnten, und sie, die damals meine Frau war. Ein Kind hat einfach nicht gepaßt... - als paßten Kinder je! Auch hier schon wieder verrät ein Begriff die Erde. Aber nein, abortus, was soll‘s? – es kommen schon „bessere“ Zeiten. Sie kommen aber, Geliebte, nicht. So bleibt man kinderlos schließlich und merkt es zu spät, das Vorbei. Da freilich „paßt“ dann alles – allein indes, um‘s zu merken. Oder man fügt sich ihm vorher schon ein, „es soll halt nicht sein“, als ginge es um ein verlorenes Kaufding, das sich ersetzen ließe. So macht man den Leib zur nutzlos gesegneten, sich aus laxfreiem Willen verödenden Stätte und brennt noch eigenhändig aus, was Frucht dann nicht wird. Schreib ich halt Bücher, wähle ich halt einen neuen Beruf. Sozial etwas sein, das genügt doch... Leere schließlich, gewollte. Indem die Lydierin das nicht mehr wollte und ausbrach, mit Lenz, wurde er zur Chance für Jessir; kalt betrachtet, war das seine Funktion und die ihrer, seiner und der Lydierin, Liebe – auch wenn wir nicht sagen können, wie es mit beiden, jetzt der Lydierin und Jessir, schließlich ausgehen wird. Ich hoffe tatsächlich für beide, daß nun, bevor es biologisch zu spät ist, das Kleine sich in ihr bettet, auf das alle irdische Liebe hinauswill. Noch ist das Nest ja bereit. Und Jessir, nach der überstandenen Gefährdung, sowohl durch Lenz als auch des Todes in Pakistan wegen, der noch einmal an Jessir vorbeiging – weshalb wohl? es war da noch etwas zu tun! –, hört mit dem Quatsch endlich auf und stellt nicht länger über die Frau den Beruf; und als er in sie eindringt, weiß sie. Einige Straßen weiter tigert Lenz in seiner Wohnung auf und ab, hospitalisiert schon da: immer, immer auf und ab. Seelisch läuft er die Wände hoch. Er nämlich weiß genauso. Trotzdem hat er versucht, die Geliebte anzurufen, dreimal, viermal, die selbstverständlich nicht abnimmt. Auch Jessirs Eichel leuchtet, Lenz sieht es bis hierher. Dann macht sich der Erguß auf den Weg und hat es gar nicht eilig. A l l e wissen: deshalb. Alles w e i ß. Nicht nur die Frau, es weiß auch das Laken, es weiß die Matratze. Das ganze Bett weiß. Die Wände wissen und der Boden. Die Stühle wissen, der Tisch weiß und die Deckenlampe darüber. Und die Stadt, ganz Triest, wird Plazenta.
In ihrem erschütterten, erschütternden Jubel weint die Frau; der kennt jetzt keinen anderen Ausdruck. Es sind Rapten - wie meine, als Du gingst. „Aber ich bin doch da, bin da“, flüstert, noch kaum zu Atem gekommen, Jessir in ihr Ohr. Und er hält sie, während noch immer sein Schweiß von der Stirn auf ihr Gesicht tropft und sich mit ihren Tränen vereinigt wie in ihr die andere Nässe mit anderer Nässe, die sich durchdringbar gemacht hat.
Oh daß auch Du so jubeln könntest! Was gäb ich, Sìdhe, darum!
Aber wir wissen es nicht, sondern sind mit Gründen skeptisch. Denn Siegel bist auch Du. Daß unser Blicken es durchbrach, meines, Deines, war schon ein Wunder. Wunder sind, was wir nicht fassen; auch ihre Folgen nicht. Sie machen uns benommen Ich will auch deshalb mein Training wieder aufnehmen, noch heute. Denn was wär an Wundern gelegen, die uns verzehren? Diesen Triumph, Du meine nahste Ferne, lasse ich den Gegnern nicht: daß sie r e c h t behalten hätten mit ihrem faktischen Primat. Schon um Deinetwillen werd ich stark b l e i b e n.
A.
(11.36,
"Das Pferd": Kisses, 1988.)
P.S.:
Die Freundin schreibt mir soeben, mit noch nicht einmal fünfzig, sie werde alt. Auch wenn sie das, wie sie betont, „positiv“ meine, war und bin ich tief erschrocken. Und sah sofort nach dem Sportzeug.
(15.35 Uhr,
Christoph Lauer, Mondspinner, 1995.)
Vom Sport zurück, das Eiweiß gekippt, Kassler aufgesetzt, in Scheiben in der Pfanne: mein Sohn, Du Schöne, ißt heute abend mit mir. Gestern schon hatte ich den Grünkohl bereitet; es schadet ihm in keiner Weise, wenn er sich über Nacht noch einmal die Gewürze, wie jemand einen Joint, durchzieht, und den Rauch. Jedenfalls kannst Du sehen, daß hier alles seiner Wege geht, ich halte mich ganz gut (jetzt trink ich scharfen Ingwertee, möcht Dir von mir erzählen).
Vor allem war es gut, einmal so früh zum Training gegangen zu sein, daß es nicht gleich wieder dunkel ist, wenn ich das Studio verlasse. Diese kurzen Tage, langen Düsternisse tun mir fast noch mehr weh als Deine Abwesenheit. Oder, jetzt mußt ich eben lächeln, sie illustrieren sie, machen sie mir auch physisch sichtbar. Ja, wendest Du jetzt ein, wie lasse sich Abwesenheit wohl sehen: wenn da doch nichts ist..? - Nimm es als gegeben, „einfach“, daß ich‘s kann. Wobei mir das Schlimmste immer noch bevorsteht, nämlich Deine Bilder von meinen Geräten zu nehmen; auf jedem lächeln sie mich, verschiedene, als allererstes an, wenn ich die Computer hochfahr. So endgültig bin ich also wirklich noch nicht, es käme mir vor wie eine Erschießung. Imgrunde ist es mit Deinem Parfum gar nicht andes; besorgte ich es mir und trüg es nun von Zeit zu Zeit, wäre auch das die Besieglung.
Dabei täte mir, mich neu zu verlieben, jetzt ganz gut. Nein, nicht mythisch wieder. Das würde nicht gehen. Begegnungen wie mit Dir sind nicht von der Stange, schon zwei übersteigen uns völlig, wenn nicht Jahre zwischen ihnen liegen - wenn sie zumindest fast real geworden sind oder sich in wenigen Tagen oder Wochen auch an die Körper schmiegten. Aber ein Flirt, der gern auch ins Bett führt: Bezauberungen, Angerührtheiten diesseits der Besessenheit, Leichtigkeit vor allem. Doch muß es eine Fremde sein, jemand Neues, das nicht auf Dich dann und gar nichts andres zuführt, als daß man eine Zeit hat, die aus gefühlter Freiheit gemacht ist. Ein Brennen nicht, aber ein kleines Feuer doch, während sich die Nacht aufreckt über und um uns nahe herum. Vielleicht auch aneinander schlafen, nur der Wärme halber und weil es, verzeih diese niedliche Wort, süß ist, wenn einen fremdes Haar an den Nasenlöchern kitzelt und man versucht es wegzuschnauben oder, die Unterlippe vorgeschoben, wegzupusten, ohne der Neuen atmenden Leib aus ihrem Traum zu wecken. Diese Art der Rücksichtnahme, eine zarte, ist mir niemals schwergefallen, welch harter Unhold ich sonst auch immer sein mag (meine Rigorosität ist Jessirs durchaus ähnlich, nur weniger politisch).
Lenz wurde es, das zarte Rücksichtnehmen, zum Wesen. Die Lydierin, einige Monate, hat das sehr genossen. Dann war‘s ihr zu wenig Rückrat. Sowieso, ihm ging ja das Geld aus. Auf den Prozeß in Deutschland reagierte er einfach nicht, ließ die Briefe, auch die Zustellungen, ungeöffnet. Sie bekam das erst mit, als der Gerichtsvollzieher klingelte. Sie fiel aus allen Wolken. „Warum hast du nichts gesagt?!“
Er lächelte sie an.
Sie verdiente kaum genug für sich. Jetzt überlegte sie, ob ihren schönen Peugeot verkaufen. Aber was bekam man für so einen Wagen schon? Sie rief ihre Mutter an und, ausgesprochen ungern, in Lydien ihren Vater. Lenz fand das alles nicht wichtig, merkte nicht einmal, wie sich ihre Seele wandt, jedenfalls verstand er die Not nicht, obwohl er nur noch sie war, die Lydierin, kaum noch ein bißchen Ich. In sie hineingeflossen. Was also war dabei, den Vater anzurufen, wenn sie einander hatten? Er selbst wäre, um zu betteln, auf die Straße für seine Geliebte gegangen. Sie hätte nur was sagen müssen, diese, denke ich plötzlich, Sirene. Ob sie es nun gewollt hat oder nicht, sie zog ihn ins Meer; drin trieb er, doch schwamm nicht. Also selbst, Herz, wäre sie schwanger geworden, was hätte das wohl werden können?
Und was, Geliebte, wir? Ich habe meinen Sohn in Berlin und bin zwei kleinen Kindern fast ebenfalls ein Vater. Die ständige Fliegerei hin und her... Ich wär es aber angegangen. Noch jetzt ist es mir nicht vorstellbar, daß ich mich getäuscht haben sollte, schon nicht bei meinem ersten Besuch in Triest, der auf den mythischen Blick die Nagelprobe war. Ich meine, Jessir ist bekannt und Du bist‘s als seine Gemahlin. Dennoch hieltest Du mich nicht geheim. Sogar ins Tommaseo bist Du mit mir gegangen, und die großen alten Spiegel haben unsre Küsse so vervielfacht, daß sie allen sichtbar waren. „Weniger anonym“, bemerkte scherzhaft später ein Freund, der die Stadt gut kennt, „wärest du da auch nicht mit Glen Close an deiner Seite gewesen.“ Und hast drei Selfies von uns geknipst und Giulia, Deiner Freundin, als MMS geschickt. Wie sollte ich da anders denken können, als ich fühlte? Auch Deiner Mutter hast Du fast sofort berichtet; ich habe sogar selbst mit ihr gesprochen. So versteh ich und verstehe doch immer noch nicht.
(A.)
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albannikolaiherbst - Mittwoch, 3. Dezember 2014, 16:35- Rubrik: Arbeitsjournal
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