Zwanzigster Brief nach Triest. (Briefe nach Triest, 23).
Du wirst wohl, Hohe Frau, verstehen,
Arbeitswohnung, den 10. Dezember 2014,
mittwochmorgens 5.50 Uhr,
Haydn, Sinfonie Nr. 87 A-Dur,
mittwochmorgens 5.50 Uhr,
Haydn, Sinfonie Nr. 87 A-Dur,
daß es mir nach meiner „gesteren“ Vision nicht mehr möglich war, den neunzehnten Brief noch fortzusetzen. Daß ich, Dich gesehen zu haben, für eine Vision halte, dazu bin ich mit mir unterdessen übereingekommen - es dafür halten zu m ü s s e n.
Begreife das bitte, wenn ich mich auf diese Weise schütze.
Ich war so außer mir! Hatte meinen Bericht abgeschlossen, den an Dich, über Dein Erscheinen, hielt es am Schreibtisch nicht länger aus. Schließlich wußte ich, daß Dein Rückflug für den Abend gebucht war. Wenn es nun stimmte, daß Du nach Berlin umgebucht hattest, was lag da näher, als meinerseits - mit der SBahn erst und ab Beusselstraße mit dem Bus - zum Flughafen zu fahren? Vielleicht paßte ich Dich an einem der Checkins ab. Also schaute ich nach für den Abend annoncierten Triestflügen. Nur zwei schienen mir preislich infrage zu kommen, beide mit Zwischenstop in München, einer um 19.25, der andere um 20.15 Uhr; das war zu schaffen. Die anderen, die unvergleichlich teurer waren, hätten Dich ebenfalls und sogar mehrfach zwischenstoppen lassen. Allerdings bestand genauso die Möglichkeit, daß Du über Venedig fliegen würdest und von dort für die kurze Strecke nach Triest den Zug nehmen. Also suchte ich auch solche noch heraus. Als ich genügend Abflugzeiten beisammenhatte, um den ganzen Abend in Tegel zu verbringen, brach ich auf.
Zwar meinte ich dort immer mal wieder, während ich hier oder dort an einer der Espressobars saß, Dein Lachen zu hören, auch das Lachen Jaumes oder Guillems, jedenfalls von Freunden, die Dich zum Abflug begleiteten. Aber das war derart offensichtlich eine Täuschung meiner Sehnsucht, daß ich bereits gegen neun abermals im Bus saß, einfach weil ich einsehen mußte, wie im Wortsinn irre mein Unternehmen gewesen war. Außerdem verband es sich auf eine viel zu beklemmende Weise, wenn ich vor den Checkins stand oder an den Sicherheitskontrollen den Passagieren zusah, mit Deinem wirklichen Abflug vor vor dreieinhalb Wochen, verband sich mit meinen inneren Bildern davon, die sich seit diesem furchtbaren Sonnabendmorgen schmerzhaft schillernd in mir erhalten haben. Es sind ungenähte innere Narben, deren Grate sich erleuchten, bevor sie wieder aufzuplatzen drohen, als wären es vulkanische Spalten. Die es eben auch sind. - Dein letztes Lächeln unsres Uns‘, das noch mir gegolten, all unsrer Du‘s, Dein Winken. Abermals Dein Lächeln, nunmehr das wirklich letzte. Und daß wir uns doch aber wiedersehen würden. Und wie ich, als ich in die Arbeitswohnung zurückgekommen war, in diese Erschütterungen tatsächlich ausbrach, weil etwas in mir wußte, alles, alles vorherwußte. Es bin doch gar nicht ich gewesen, der sie bewirkte. Doch um noch davonzulaufen, dazu war es für mich längst zu spät. Ich konnte mich nur noch stellen. Auch davon legen, sozusagen, meine Briefe Zeugnis ab.
Als ich wieder heimkam und Skype öffnete, fand ich eine Nachricht meiner Müchener Netzfreundin: ob ich Dich denn wirklich am Nachmittag gesehen hätte..? Was sollte ich ihr antworten? Auch die Löwin würde mich das fragen. Besser, ich schaltete Skype wieder aus. Du, die Du seit Deiner Trennung von mir nicht ein einziges Mal mehr drin aufschienst, würdest spät nachts sowieso nicht mehr und erst recht nicht hineingehen, da Du zuhause doch gerade erst ankämst.
Natürlich trank ich wieder, aber nur einen Liter Wein - bis mir die Augen ausgetrocknet zufielen, während ich noch immer einen Film nach dem anderen sah, um mich abzulenken, aber nicht mal mehr die Plots kapierte. Ich möchte wirklich nicht wahnsinnig werden.
Jedenfalls ging ich vor Mitternacht ins Bett, stand eben auf, halb sechs, vollzog meine Morgenroutinen (Musikcomputer an, Pavoni an, Laptop an, Latte macchiato, Arbeitsdateien auf, Musik an – wie kam ich bloß auf Haydn? jetzt hör ich Debussy: Nuages e Fêtes... – , nun nur noch die Morgenpfeife gestopft und, während ich am Mundstück ziehe, den Tabak angezündet). Da entschloß mich also, ja, es ist ein Entschluß, Dich für die Vision zu halten, die Du wahrscheinlich warst. Man muß sie doch nur als eine Folge meines Zustandes vom Vortag verstehen, Du weißt schon, Liebste, in den Arkaden der Schönhauser Allee. Davon bist Du ein Flashback gewesen. Alleine das, Herz, ist alarmierend genug. Ich muß das in den Griff bekommen, mein Herz in den Griff bekommen.
Also denke ich an Lenz, ganz, wie ich es vorgehabt hatte. Zu erzählen gibt mir Struktur.
Baia Domizia. Damals war er noch sehr jung, kaum dreißig. Noch war er nicht verheiratet, aber schon mit der Frau liiert, seiner dann ersten; übrigens war sie bereits schwanger.
Man schickte ihn, nach dem Zürcher Sondierungsgespräch, erst nach Neapel direkt. Es ging darum, in einem der seinerzeit ziemlich verwahrlosten Ladenruinen der unteren Galleria Umberto I eine Schweizer Dependance aufzubauen, was insofern heikel gewesen war, als Schweizer Banken solche Zweigstellen im Ausland gar nicht halten dürfen, jedenfalls durften sie es nicht nach damaligem Schweizer Bankengesetz. Also sollte über eine für sie von einer deutschen Bank gegründeten Tochtergesellschaft gehandelt werden. Die Absprachen waren nie offiziell, meines Wissens gibt es auch keine Papiere, die das Verhältnis nachweisen könnten. Um so profitabler die Summen, die verhandelt wurden.
Auf Lenz war die Wahl seines hochleistungsfähigen Ehrgeizes wegen gefallen; der junge Mann habe die, dachte man, nötige Gier, um bei realistischer Aussicht auf gute Gewinne die Regeln schon mal beugen zu lassen. Außerdem sprach er fließend Italienisch. Schon am ersten Abend war dann, in Baia Domizia, ein silbernfarbner Koffer auf dem langen glänzenden Ebenholztisch aufgeklappt. Die gebündelten, vermittels grüner Bauchmanschetten penibel zusammengehaltenen Scheine sahen wie frisch aus der Presse aus. Daß sie aus ihr auch grad gekommen waren, darüber sprach man nicht. Sie sollten noch in derselben Nacht nach Mailand gebracht werden, von dort in die Schweiz.
Lenz begriff da erst. Er war von Schwarzgeld ausgegangen und/oder von Geldern, deren Erwirtschaftungsgrund in einer Dämmerungszone wurzelten, in auch die man klugerweise kein Licht wirft. Doch dies hier war anders; von einer nur „Dämmerung“ konnte nicht auch nur ungefähr gesprochen werden. - „Tun Sie‘s?“ fragte der Commandante und fügte bei: „Zehn Prozent für die Bank.“ „Fünfzehn", sagte Lenz. Der Commandante lächelte. „Zwölf." „Dreizehn."„Zwölf."
Bei dem Gespräch war außer den beiden Personenschützern, die diskret, geradezu gesichtslos je in einer Tür standen, und außer Lenz sowie dem, sagen wir, Padrone noch dessen italienischer Anwalt zugegen und bizarrerweise ein Geistlicher, den jener Monsignore nannte. Es war dem Commandante, schien es Lenz, fast z u deutlich um dessen Segen zu tun.
Jemand anderes als Lenz hätte freilich versucht, aus der Sache irgendwie herauszukommen. Aber Du mußt verstehen, er war noch so jung. Er wollte Geld machen, vor allem Geld machen; die enge harte Kindheit saß ihm nicht nur im, Geliebte, Nacken. Außerdem hatte er ja, wenn auch nicht schriftlich bezeugt, das Interesse seiner Schweizer Mentoren. Die würden ihn natürlich nicht schützen, wenn er aufflog. Falls aber n i c h t... - Es hätte einen enormen Mut gekostet, wäre fast lebensgefährlich, dachte er, gewesen, jetzt noch aufzustehen und zu sagen: Nicht mit mir. So saß er um dreiundzwanzig Uhr im Hubschrauber, gegen Mitternacht im Flieger und morgens um vier in einem Schweizer Leihwagen, den Koffer unversteckt auf dem Rücksitz.
Man winkte ihn durch.
Sowas kann, das mußt Du verstehen, süchtig machen. Es ist rauschhafter als ein jeder Bangeesprung.
„Erzähl n i c h t s“, sagte seine spätere Frau, als er sie im Büro traf, zuerst wieder dort. „Je weniger wissen, desto besser. Aber was dabei ist herausgesprungen?“
Als er die Summe nannte, fiel sie ihm um den Hals. „Fick mich“, sagte sie, „aber gleich, hier, jetzt.“ - Zum ersten Mal war sie von ihrem späteren Mann begeistert, zum ersten Mal fand sie ihn nicht nur praktisch.
Aber sie w a r halt Pragmatikerin. Er fuhr noch drei Mal oder vier. Dann sagte sie und wandte sich an ihren Vater: „Es wird zu gefährlich, denk dran, wir bekommen ein Kind.“ Da war sie schon im achten Monat, am Anfang dieses achten Monats.
Von Lenz fielen Gewichte, von denen er gar nicht gewußt hatte, wie schwer sie gewesen waren.
Er wechselte, in gegenseitigem Einverständnis, von der deutschen Bank zur Schweizer, erst Fondsverwaltung, dann bald Institutional Trading. Die Series 3 und 7 hatte er längst in der Tasche. Wie ich schon sagte, er war begabt, vor allem willig. Was man ihm sagte, tat er; er brauchte nur das Gefühl, Deckung zu haben. Erst 90.000, dann 120.000 jährlich - Schweizer Franken, wohlgemerkt -, schließlich bereits 150.000. Da war er noch nicht einmal dreißig oder vielleicht etwas darüber. „Das läßt sich steigern“, sagte seine ihm nun schon angetraute Frau. Nebenan johlte der Kleine. „Wir sollten uns selbständig machen.“ Sie dachte wohl wieder an die Galerie in Neapel; „selbständig“ hieß: in institutionellem Auftrag. Nicht selber handeln, sondern vermitteln. „Rechtlich wären wir damit auf der sicheren Seite.“ Trotzdem: Was und wie plaziert wird, hinge nicht länger von einer Hausmeinung ab, auf die man dennoch Zugriff hätte. Denn die Frau dachte gar nicht daran, ihre eigene Position in der Bank aufzugeben. Die ließe sich im Gegenteil gut nutzen.
Und so weiter.
Auch ihre Familie hielt den Schachzug für klug; um Unterstützung mußte die Frau gar nicht bitten.
Du verstehst nun, was ich damit gemeint habe, daß Lenz zur Lydierin geflohen ist, sie ihn gleichsam erlöste. Auch wenn jetzt alles zusammenbrach, das er aufgebaut hatte. Aus der Verantwortung für den Konkurs wandt sich seine faktisch nun gewesene Frau schnell heraus, schon, weil er auf keine Klageschrift reagierte, zu keinem der Termine erschien. Es wäre ihm, derart in seiner Liebe schwebend, auch objektiv nicht mehr möglich gewesen, eine Sprache zu sprechen, die seelenlos ist.
Von seiner Ehe ließ Lenz nichts als Dinge zurück: auch sein Sohn war längst eines. Letztlich war er ihm fremd geblieben. Wen das Geldgeschäft hat, der kennt keine Liebe.
Auch aber Gerald möchte Bankkaufmann werden und schließlich in die Anlageverwaltung. „Eines Tages“, sagt er zu Wiebke, „bauen wir ein Haus am Meer.“ Man sieht noch die zweidrei Einstiche, dort, Schönste, auf seiner rechten Fingerkuppe; nur e i n Tropfen Bluts reicht nicht für die Signatur.
Keine Woche später steht der geleaste MX5 vor der Tür; Lenzens Ziel ist selbstverständlich, ebenfalls als Cabrio, ein BMW M4. Für das Wochenende behält er die alte Kawasaki, eine 1000er; Wiebke liebt diese Maschine. Solch ein Machtgefühl schenkt sie einem.
Erst nach zwei Jahren beginnt die junge Frau zu zweifeln. Doch Gerald, da, kann schon nicht mehr auf sie hören, von der Großsucht zerfressen, wie er längst ist. Dennoch glaubt sie und glaubt sie an ihn. Sie glaubt an einen Eigentlichen - den, der er war. Der muß doch noch irgendwo sein! Seine Hand auf ihrem Bauch...
Jahre wird das so gehen, fast ein Jahrzehnt einer riesigen, in ihr, Mystifikation. Davon läßt frau nicht ab, wenn sie doch so viel Seelenkraft aufwenden mußte, um sie zu errichten und sogar schon den Rohbau immer und immer wieder vorm Einsturz zu bewahren. Außerdem gehen in letzter Zeit Geralds Geschäfte schlecht. Damit läßt seinen Mann nicht allein, wer ihn doch noch liebt. Zumal er, dagegen läßt sich nichts sagen, nach wie vor für ihr Auskommen sorgt. Er hat halt nicht mehr viel Zeit, geht morgens um neun aus dem Haus, kommt selten vor zehn Uhr abends heim, manchmal erst nach halb elf, auch an den Wochenenden. Entwickelt nach innen eine seltsame Form von Geiz, indes er nach außen den Krösus spielt – dessen moderne, ziemlich schnittige Replikantenform. „Er will scheinen, ich will bewegen“, wird Wiebke in einem verzweifelten Brief an ihre Mutter schreiben. Sie schickt die Email aber nicht weg, sondern legt sie in einer Datei ab, die voll von solchen Briefen ist.
Übrigens hat sie, Wiebke, zu dichten begonnen. Manchmal legt sie für Gerald einen Ausdruck auf den Küchentisch. Selten guckt er drüber. Wenn, dann räuspert er sich und schiebt das Blatt schnell beiseite. „Es wird Zeit, daß du erwachsen wird, außer sowas kriegst du ja nichts auf die Reihe. Anschaffen tu immer nur ich.“ Er sagt wirklich „anschaffen“. Daß sie deshalb zu weinen anfängt, schlägt dem Faß den Boden aus. „Ich habe echt keine Zeit für so einen Quatsch, bin wirklich völlig erledigt.“
Er steht auf, geht ins Wohnzimmer und schaltet den riesigen Bildschirm an. „Man wird doch wohl ein Recht auf seine Erholung haben! Übrigens hab ich den Skiurlaub gebucht.“
Welch ein Weg, Du Innige, also, der Lenz bis in sein Grenzhäuschen führte! Lange sieht er die Mauer an, steht nur in der Tür und guckt. Wie sie zerbröckelt hier und dort und wie sie anderswo – unrückbaubar, scheint es – steht, wo noch vor kurzem nur Wiese gewesen.
Er raucht, neuerdings raucht er, und tritt die Zigarette dann aus, bevor er sich ins Haus umwendet, der unrasierte Mann. Da weiß er noch nicht, daß Du zu ihm zurückkehren wirst, Du weißt schon, nach Jessirs Tod und im vierten Monat schwanger.
(8.37 Uhr.)
Jetzt bist Du wieder in Triest. Wirst gestern nacht noch bis in die Puppen erzählt haben; was ihr alles getan habt, Jaume, Godi, Guillem und Du; wie ihr oben in der Sagrada familia herumgeklettert seid und daß es nicht stimmt, auf den Ramblas sei es gefährlich. Von der Seilbahn wirst Du erzählen, vor allem von der herrlichen Aussicht aufs Meer. Und daß Ihr zweimal in Szeneclubs gewesen seiet, bis in die Morgenstunden habest Du getanzt. Das weiß er schließlich, wie Du‘s liebst, Ewigkeiten für Dich alleine zu tanzen. Für Dich alleine, ja. („Alles ist Symbol.“)
Über die Szene im Güell freilich schweigst Du. Sie bedeutet ja auch nichts, gar nichts, nichts für Euch: So sehr aus Luft war sie gewirkt. Von ihrer Folge weißt Du noch nichts. Vielleicht hat sie auch gar keine Folgen, so sehr ich sie Dir wünschte. Laß uns, Geliebte, vier Wochen warten; dann wissen alle wir mehr. Ob ich mich irrte. Die Frage ist: Läßt sich Wirklichkeit erfinden. Seit ich denken kann, treibt sie mich um:
Entscheidungen und Achselhöhlen,
Wissen und Visionen.
Alban
(Britten, Les Illuminations.)
*
Begreife das bitte, wenn ich mich auf diese Weise schütze.
Ich war so außer mir! Hatte meinen Bericht abgeschlossen, den an Dich, über Dein Erscheinen, hielt es am Schreibtisch nicht länger aus. Schließlich wußte ich, daß Dein Rückflug für den Abend gebucht war. Wenn es nun stimmte, daß Du nach Berlin umgebucht hattest, was lag da näher, als meinerseits - mit der SBahn erst und ab Beusselstraße mit dem Bus - zum Flughafen zu fahren? Vielleicht paßte ich Dich an einem der Checkins ab. Also schaute ich nach für den Abend annoncierten Triestflügen. Nur zwei schienen mir preislich infrage zu kommen, beide mit Zwischenstop in München, einer um 19.25, der andere um 20.15 Uhr; das war zu schaffen. Die anderen, die unvergleichlich teurer waren, hätten Dich ebenfalls und sogar mehrfach zwischenstoppen lassen. Allerdings bestand genauso die Möglichkeit, daß Du über Venedig fliegen würdest und von dort für die kurze Strecke nach Triest den Zug nehmen. Also suchte ich auch solche noch heraus. Als ich genügend Abflugzeiten beisammenhatte, um den ganzen Abend in Tegel zu verbringen, brach ich auf.
Zwar meinte ich dort immer mal wieder, während ich hier oder dort an einer der Espressobars saß, Dein Lachen zu hören, auch das Lachen Jaumes oder Guillems, jedenfalls von Freunden, die Dich zum Abflug begleiteten. Aber das war derart offensichtlich eine Täuschung meiner Sehnsucht, daß ich bereits gegen neun abermals im Bus saß, einfach weil ich einsehen mußte, wie im Wortsinn irre mein Unternehmen gewesen war. Außerdem verband es sich auf eine viel zu beklemmende Weise, wenn ich vor den Checkins stand oder an den Sicherheitskontrollen den Passagieren zusah, mit Deinem wirklichen Abflug vor vor dreieinhalb Wochen, verband sich mit meinen inneren Bildern davon, die sich seit diesem furchtbaren Sonnabendmorgen schmerzhaft schillernd in mir erhalten haben. Es sind ungenähte innere Narben, deren Grate sich erleuchten, bevor sie wieder aufzuplatzen drohen, als wären es vulkanische Spalten. Die es eben auch sind. - Dein letztes Lächeln unsres Uns‘, das noch mir gegolten, all unsrer Du‘s, Dein Winken. Abermals Dein Lächeln, nunmehr das wirklich letzte. Und daß wir uns doch aber wiedersehen würden. Und wie ich, als ich in die Arbeitswohnung zurückgekommen war, in diese Erschütterungen tatsächlich ausbrach, weil etwas in mir wußte, alles, alles vorherwußte. Es bin doch gar nicht ich gewesen, der sie bewirkte. Doch um noch davonzulaufen, dazu war es für mich längst zu spät. Ich konnte mich nur noch stellen. Auch davon legen, sozusagen, meine Briefe Zeugnis ab.
Als ich wieder heimkam und Skype öffnete, fand ich eine Nachricht meiner Müchener Netzfreundin: ob ich Dich denn wirklich am Nachmittag gesehen hätte..? Was sollte ich ihr antworten? Auch die Löwin würde mich das fragen. Besser, ich schaltete Skype wieder aus. Du, die Du seit Deiner Trennung von mir nicht ein einziges Mal mehr drin aufschienst, würdest spät nachts sowieso nicht mehr und erst recht nicht hineingehen, da Du zuhause doch gerade erst ankämst.
Natürlich trank ich wieder, aber nur einen Liter Wein - bis mir die Augen ausgetrocknet zufielen, während ich noch immer einen Film nach dem anderen sah, um mich abzulenken, aber nicht mal mehr die Plots kapierte. Ich möchte wirklich nicht wahnsinnig werden.
Jedenfalls ging ich vor Mitternacht ins Bett, stand eben auf, halb sechs, vollzog meine Morgenroutinen (Musikcomputer an, Pavoni an, Laptop an, Latte macchiato, Arbeitsdateien auf, Musik an – wie kam ich bloß auf Haydn? jetzt hör ich Debussy: Nuages e Fêtes... – , nun nur noch die Morgenpfeife gestopft und, während ich am Mundstück ziehe, den Tabak angezündet). Da entschloß mich also, ja, es ist ein Entschluß, Dich für die Vision zu halten, die Du wahrscheinlich warst. Man muß sie doch nur als eine Folge meines Zustandes vom Vortag verstehen, Du weißt schon, Liebste, in den Arkaden der Schönhauser Allee. Davon bist Du ein Flashback gewesen. Alleine das, Herz, ist alarmierend genug. Ich muß das in den Griff bekommen, mein Herz in den Griff bekommen.
Also denke ich an Lenz, ganz, wie ich es vorgehabt hatte. Zu erzählen gibt mir Struktur.
Baia Domizia. Damals war er noch sehr jung, kaum dreißig. Noch war er nicht verheiratet, aber schon mit der Frau liiert, seiner dann ersten; übrigens war sie bereits schwanger.
Man schickte ihn, nach dem Zürcher Sondierungsgespräch, erst nach Neapel direkt. Es ging darum, in einem der seinerzeit ziemlich verwahrlosten Ladenruinen der unteren Galleria Umberto I eine Schweizer Dependance aufzubauen, was insofern heikel gewesen war, als Schweizer Banken solche Zweigstellen im Ausland gar nicht halten dürfen, jedenfalls durften sie es nicht nach damaligem Schweizer Bankengesetz. Also sollte über eine für sie von einer deutschen Bank gegründeten Tochtergesellschaft gehandelt werden. Die Absprachen waren nie offiziell, meines Wissens gibt es auch keine Papiere, die das Verhältnis nachweisen könnten. Um so profitabler die Summen, die verhandelt wurden.
Auf Lenz war die Wahl seines hochleistungsfähigen Ehrgeizes wegen gefallen; der junge Mann habe die, dachte man, nötige Gier, um bei realistischer Aussicht auf gute Gewinne die Regeln schon mal beugen zu lassen. Außerdem sprach er fließend Italienisch. Schon am ersten Abend war dann, in Baia Domizia, ein silbernfarbner Koffer auf dem langen glänzenden Ebenholztisch aufgeklappt. Die gebündelten, vermittels grüner Bauchmanschetten penibel zusammengehaltenen Scheine sahen wie frisch aus der Presse aus. Daß sie aus ihr auch grad gekommen waren, darüber sprach man nicht. Sie sollten noch in derselben Nacht nach Mailand gebracht werden, von dort in die Schweiz.
Lenz begriff da erst. Er war von Schwarzgeld ausgegangen und/oder von Geldern, deren Erwirtschaftungsgrund in einer Dämmerungszone wurzelten, in auch die man klugerweise kein Licht wirft. Doch dies hier war anders; von einer nur „Dämmerung“ konnte nicht auch nur ungefähr gesprochen werden. - „Tun Sie‘s?“ fragte der Commandante und fügte bei: „Zehn Prozent für die Bank.“ „Fünfzehn", sagte Lenz. Der Commandante lächelte. „Zwölf." „Dreizehn."„Zwölf."
Bei dem Gespräch war außer den beiden Personenschützern, die diskret, geradezu gesichtslos je in einer Tür standen, und außer Lenz sowie dem, sagen wir, Padrone noch dessen italienischer Anwalt zugegen und bizarrerweise ein Geistlicher, den jener Monsignore nannte. Es war dem Commandante, schien es Lenz, fast z u deutlich um dessen Segen zu tun.
Jemand anderes als Lenz hätte freilich versucht, aus der Sache irgendwie herauszukommen. Aber Du mußt verstehen, er war noch so jung. Er wollte Geld machen, vor allem Geld machen; die enge harte Kindheit saß ihm nicht nur im, Geliebte, Nacken. Außerdem hatte er ja, wenn auch nicht schriftlich bezeugt, das Interesse seiner Schweizer Mentoren. Die würden ihn natürlich nicht schützen, wenn er aufflog. Falls aber n i c h t... - Es hätte einen enormen Mut gekostet, wäre fast lebensgefährlich, dachte er, gewesen, jetzt noch aufzustehen und zu sagen: Nicht mit mir. So saß er um dreiundzwanzig Uhr im Hubschrauber, gegen Mitternacht im Flieger und morgens um vier in einem Schweizer Leihwagen, den Koffer unversteckt auf dem Rücksitz.
Man winkte ihn durch.
Sowas kann, das mußt Du verstehen, süchtig machen. Es ist rauschhafter als ein jeder Bangeesprung.
„Erzähl n i c h t s“, sagte seine spätere Frau, als er sie im Büro traf, zuerst wieder dort. „Je weniger wissen, desto besser. Aber was dabei ist herausgesprungen?“
Als er die Summe nannte, fiel sie ihm um den Hals. „Fick mich“, sagte sie, „aber gleich, hier, jetzt.“ - Zum ersten Mal war sie von ihrem späteren Mann begeistert, zum ersten Mal fand sie ihn nicht nur praktisch.
Aber sie w a r halt Pragmatikerin. Er fuhr noch drei Mal oder vier. Dann sagte sie und wandte sich an ihren Vater: „Es wird zu gefährlich, denk dran, wir bekommen ein Kind.“ Da war sie schon im achten Monat, am Anfang dieses achten Monats.
Von Lenz fielen Gewichte, von denen er gar nicht gewußt hatte, wie schwer sie gewesen waren.
Er wechselte, in gegenseitigem Einverständnis, von der deutschen Bank zur Schweizer, erst Fondsverwaltung, dann bald Institutional Trading. Die Series 3 und 7 hatte er längst in der Tasche. Wie ich schon sagte, er war begabt, vor allem willig. Was man ihm sagte, tat er; er brauchte nur das Gefühl, Deckung zu haben. Erst 90.000, dann 120.000 jährlich - Schweizer Franken, wohlgemerkt -, schließlich bereits 150.000. Da war er noch nicht einmal dreißig oder vielleicht etwas darüber. „Das läßt sich steigern“, sagte seine ihm nun schon angetraute Frau. Nebenan johlte der Kleine. „Wir sollten uns selbständig machen.“ Sie dachte wohl wieder an die Galerie in Neapel; „selbständig“ hieß: in institutionellem Auftrag. Nicht selber handeln, sondern vermitteln. „Rechtlich wären wir damit auf der sicheren Seite.“ Trotzdem: Was und wie plaziert wird, hinge nicht länger von einer Hausmeinung ab, auf die man dennoch Zugriff hätte. Denn die Frau dachte gar nicht daran, ihre eigene Position in der Bank aufzugeben. Die ließe sich im Gegenteil gut nutzen.
Und so weiter.
Auch ihre Familie hielt den Schachzug für klug; um Unterstützung mußte die Frau gar nicht bitten.
Du verstehst nun, was ich damit gemeint habe, daß Lenz zur Lydierin geflohen ist, sie ihn gleichsam erlöste. Auch wenn jetzt alles zusammenbrach, das er aufgebaut hatte. Aus der Verantwortung für den Konkurs wandt sich seine faktisch nun gewesene Frau schnell heraus, schon, weil er auf keine Klageschrift reagierte, zu keinem der Termine erschien. Es wäre ihm, derart in seiner Liebe schwebend, auch objektiv nicht mehr möglich gewesen, eine Sprache zu sprechen, die seelenlos ist.
Von seiner Ehe ließ Lenz nichts als Dinge zurück: auch sein Sohn war längst eines. Letztlich war er ihm fremd geblieben. Wen das Geldgeschäft hat, der kennt keine Liebe.
Auch aber Gerald möchte Bankkaufmann werden und schließlich in die Anlageverwaltung. „Eines Tages“, sagt er zu Wiebke, „bauen wir ein Haus am Meer.“ Man sieht noch die zweidrei Einstiche, dort, Schönste, auf seiner rechten Fingerkuppe; nur e i n Tropfen Bluts reicht nicht für die Signatur.
Keine Woche später steht der geleaste MX5 vor der Tür; Lenzens Ziel ist selbstverständlich, ebenfalls als Cabrio, ein BMW M4. Für das Wochenende behält er die alte Kawasaki, eine 1000er; Wiebke liebt diese Maschine. Solch ein Machtgefühl schenkt sie einem.
Erst nach zwei Jahren beginnt die junge Frau zu zweifeln. Doch Gerald, da, kann schon nicht mehr auf sie hören, von der Großsucht zerfressen, wie er längst ist. Dennoch glaubt sie und glaubt sie an ihn. Sie glaubt an einen Eigentlichen - den, der er war. Der muß doch noch irgendwo sein! Seine Hand auf ihrem Bauch...
Jahre wird das so gehen, fast ein Jahrzehnt einer riesigen, in ihr, Mystifikation. Davon läßt frau nicht ab, wenn sie doch so viel Seelenkraft aufwenden mußte, um sie zu errichten und sogar schon den Rohbau immer und immer wieder vorm Einsturz zu bewahren. Außerdem gehen in letzter Zeit Geralds Geschäfte schlecht. Damit läßt seinen Mann nicht allein, wer ihn doch noch liebt. Zumal er, dagegen läßt sich nichts sagen, nach wie vor für ihr Auskommen sorgt. Er hat halt nicht mehr viel Zeit, geht morgens um neun aus dem Haus, kommt selten vor zehn Uhr abends heim, manchmal erst nach halb elf, auch an den Wochenenden. Entwickelt nach innen eine seltsame Form von Geiz, indes er nach außen den Krösus spielt – dessen moderne, ziemlich schnittige Replikantenform. „Er will scheinen, ich will bewegen“, wird Wiebke in einem verzweifelten Brief an ihre Mutter schreiben. Sie schickt die Email aber nicht weg, sondern legt sie in einer Datei ab, die voll von solchen Briefen ist.
Übrigens hat sie, Wiebke, zu dichten begonnen. Manchmal legt sie für Gerald einen Ausdruck auf den Küchentisch. Selten guckt er drüber. Wenn, dann räuspert er sich und schiebt das Blatt schnell beiseite. „Es wird Zeit, daß du erwachsen wird, außer sowas kriegst du ja nichts auf die Reihe. Anschaffen tu immer nur ich.“ Er sagt wirklich „anschaffen“. Daß sie deshalb zu weinen anfängt, schlägt dem Faß den Boden aus. „Ich habe echt keine Zeit für so einen Quatsch, bin wirklich völlig erledigt.“
Er steht auf, geht ins Wohnzimmer und schaltet den riesigen Bildschirm an. „Man wird doch wohl ein Recht auf seine Erholung haben! Übrigens hab ich den Skiurlaub gebucht.“
Welch ein Weg, Du Innige, also, der Lenz bis in sein Grenzhäuschen führte! Lange sieht er die Mauer an, steht nur in der Tür und guckt. Wie sie zerbröckelt hier und dort und wie sie anderswo – unrückbaubar, scheint es – steht, wo noch vor kurzem nur Wiese gewesen.
Er raucht, neuerdings raucht er, und tritt die Zigarette dann aus, bevor er sich ins Haus umwendet, der unrasierte Mann. Da weiß er noch nicht, daß Du zu ihm zurückkehren wirst, Du weißt schon, nach Jessirs Tod und im vierten Monat schwanger.
(8.37 Uhr.)
Jetzt bist Du wieder in Triest. Wirst gestern nacht noch bis in die Puppen erzählt haben; was ihr alles getan habt, Jaume, Godi, Guillem und Du; wie ihr oben in der Sagrada familia herumgeklettert seid und daß es nicht stimmt, auf den Ramblas sei es gefährlich. Von der Seilbahn wirst Du erzählen, vor allem von der herrlichen Aussicht aufs Meer. Und daß Ihr zweimal in Szeneclubs gewesen seiet, bis in die Morgenstunden habest Du getanzt. Das weiß er schließlich, wie Du‘s liebst, Ewigkeiten für Dich alleine zu tanzen. Für Dich alleine, ja. („Alles ist Symbol.“)
Über die Szene im Güell freilich schweigst Du. Sie bedeutet ja auch nichts, gar nichts, nichts für Euch: So sehr aus Luft war sie gewirkt. Von ihrer Folge weißt Du noch nichts. Vielleicht hat sie auch gar keine Folgen, so sehr ich sie Dir wünschte. Laß uns, Geliebte, vier Wochen warten; dann wissen alle wir mehr. Ob ich mich irrte. Die Frage ist: Läßt sich Wirklichkeit erfinden. Seit ich denken kann, treibt sie mich um:
Entscheidungen und Achselhöhlen,
Wissen und Visionen.
Alban
(Britten, Les Illuminations.)
(17.32 Uhr,
Lenas Talisker, Cigarillo und
Brittens Sinfonia da Requiem.)
Du fragst mich, weshalb ich diese Anrede wählte, Hohe Frau, und wendest ein, so eine habe mit Dir doch gar nichts zu tun. Eben, sage ich, genau deshalb. Denn schau doch, Geliebte, so oft ich nun schon „Liebste“ schrieb, „Herz“, sogar „mein Herz“ und welche Anrufungen sonst ich verwandte, so sind das doch alles längst Lügen geworden, wenn auch solche aus Not; jedenfalls machte ich (und werde dennoch weitermachen) mir damit etwas vor, besonders auch mit unseren „tatsächlichen“ Anreden „Innigste“ und „Nahste“. (Nein, ich habe weiterhin keinen unserer Briefe wiedergelesen; wenn ich sie nenne, ist das reine Erinnerung, eine seelisch längst uminterpretierte womöglich).
Faun und Sìdhe sind geworden, was sie waren: von Anfang an Legende. Nicht so aber „Hohe Frau“: Der Ruf stellt her, was ist. Vestalinnen klingen da mit, Hüterinnen – ecco! – des heimischen Herdes, mithin der Ehen, auch Hohepriesterinnen – alles Geschöpfe, die, zumal für einen wie mich, unberührbar bleiben müssen, um die Gefahr jedenfalls seines Lebens, mindestens des Seelenheils. Du kannst ja lesen, wie ich büße, was ich an Dir gesündigt habe. Jemand wie ich wird von der Reinheit ausgeschlossen. Dieses Bewußtsein teile ich mit Lenz, dessen Rolle uns, in dem Roman, überhaupt klarmacht, welch eine Magie Du hast, also die Lydierin hat. Ich selbst, anders als er, wäre ein schlechtes Beispiel, da ohnedies zur Phantastik geneigt. Er indessen, der Geld- und von daher Oberflächenmensch, der er damals gewesen?
Doch was, frage ich mich, wäre, begegnete eines Tages auch Gerald einer Sìdhe und sie an ihm erreichte, was Wiebke so viele Jahre vergeblich versucht hat? Das wäre nun wirklich tragisch. Allerdings öffnete es unsere schon wieder nächste Geschichte und zeigte, wie sich zwar nicht alles wiederholt, aber vieles in ähnlichen Formen neu auftritt, dabei neu aber jedes Mal i s t. Wir griffen ins Herz der Liebe mitten hinein, bloß, daß seine Kammern mit Verlusten gefüllt sind. Denn wo eines geht, bleibt ein andres zurück; dem läßt sich, scheint es, nicht entkommen. Diesmal traf es mich und traf die Meinen. Den Bußgrund dafür, daß ich einen Herd umstoßen wollte, büßt die Löwin nun mit, so wirklich unschuldig sie an alledem ist. Und nicht so tief, aber doch a u c h, leiden weitre mit ihr und für sich selbst allein.
Vielleicht, daß die eine und/oder andere Formulierung, das eine und andere Bild, das in diesem Roman entsteht, sie ein wenig, nur ein wenig entschädigt. Denn nicht nur Du hast Teil an ihm, sondern auch sie haben es, und nicht nur ein bißchen. Ich alleine, mit meinem, sofern für mich nur, lächerlichen Liebeskummer, rechtfertigte ganz sicher kein Buch, sondern nur, wenn es über mich Einzelnen hinausweist: er, dieser Kummer, muß mit allen, die empfinden - mit, sagen wir. nahezu allen -, Gemeinsamkeit haben, nur daß ich es austragen kann, privilegiert, wie mein Beruf mich macht. Mir sagt kein Vorgesetzter, reißen Sie sich mal zusammen!, niemand kann mich zur Verdrängung zwingen. „Ich verrate mein Unglück“, sagte dagegen die Löwin, die zwar ebenfalls >>>> die Möglichkeit des künstlerischen Ausdrucks, aber doch auch eine große Verantwortung für andere Menschen hat. Deshalb, wie wohl die meisten, muß sie ihr Unglück eben verraten, darf sich ihm gar nicht in einer so radikalen Weise stellen wie ich mich dem meinen, der ich mir sogar den größten Luxus leisten könnte: an der Vergeblichkeit zugrunde zu gehen. Es bliebe doch etwas, nämlich mein Roman, davon zurück – nicht anders fast, als wie von Vogel und Kleist, deren beider Freitod bis heute seine Dichtung, gewissermaßen nachträglich, mit einer auch persönlichsten, der radikalsten insofern, Konsequenz durchglüht. Es hat seinen Grund, daß die Abschiedsbriefe dieser Liebenden zur Weltliteratur zählen, gar nicht anders als Kafkas Brief an den Vater.
Nein, keine Sorge, wirklich, Schönste! Allerschönste, die mir je begegnet! Als Vater, der ich selbst bin, steht mir eine solche Option, ich sagte es schon, nicht zur Verfügung. Aber den Gedanken kann ich haben und hier, sogar indem ich ihn verwerfe, bis ins letzte („Letzte“, mit einem großen „L“) ausgestalten und bis ins vorletzte auch leben. Für Leser, vielleicht, bezieht sich draus Trost, so wie Tragödien sie läutern, für die Menge nicht vielleicht mehr solche auf dem Theater, aber im Film. Denn nicht sein zu können ohne die andre, ohne einen andren, sagt auch etwas über den, der es zugibt, und kann alle die hoffen lassen, die es zugeben nicht dürfen, weil sie Verantwortung tragen.
(18.25 Uhr,
Walton, Cellokonzert.)
Heute hat es, Liebste, zum ersten Mal geschneit, kurz nur indes, schon schoß scharfer schräger Regen hernieder; aber die Schneeflocken, bevor es sie zerprasselte, waren rund und weich wie Daunen. Und dann finde ich immer noch Spuren, nächste, von Dir. Heute war es Dein Shampoo, Garnier, und eine milchige Lotion Spülung; die Plastikflaschen standen ganz oben auf dem Regal links vor der Tür zu meinem kleinen Bad. Ganz nebenbei begreife ich deshalb, wie schwierig es für einen Täter sein muß, den Tatort zu säubern.
Momentlang dachte ich, die flachen hellen Flaschen zu rahmen. So vieles weist erneut auf Bilder, konkrete, nicht solche aus Sprache. Lenz hat schon recht mit der Mauer.
Immer noch steht der nun schon elend trockene Blumenstrauß auf dem Tisch. Aber ich habe für nächsten Mittwoch eine Putzfrau bestellt; dann wird es auch mit den letzten, mir von Dir verbliebenen Haaren vorbei sein, und ich werde das Bettzeug endlich waschen, in dem wir beisammen geschlafen haben. Wobei ich zudem übermorgen verreisen werde, erst nach Frankfurtmain, um Paulus Böhmer seinen Hörstück-Part einsprechen zu lassen, und nächstentags nach Karlsruhe zu einer Lesung. Da werde ich – aber das habe ich Dir schon geschrieben – die junge Dichterin wiedertreffen, der ich Deinetwegen, bevor Du nach Berlin kamst, abgesagt habe. - Auch darum, Geliebte, die Anrufung, darum „Hohe Frau“, damit andere Frauen, vielleicht auch wieder die Löwin, einen realen Platz in meinem Leben haben können. Gegen eine Hohepriesterin werden sie gar nicht angehen wollen, gegen die pure Imagination; an ihr ist keinerlei Fleisch, erst recht ist kein Kind von ihr zu befürchten, das wirklich meines wäre und darum meine Gegenwart von ihnen abziehen würde. Ja, warst Du nicht sogar von Anfang an als eine Elbin gedacht, ich als Dein Faun, und wir hatten uns drin nur getäuscht, daß sich Märchen verwirklichen lassen? Ich dachte das mehr noch als Du. So war denn alles sowieso Dichtung
und wird es bleiben,
findet aber erst nun in die Form.
Form ist‘s, und war es, Geliebte, woran ich mich halte und hielt. Darum trage ich jetzt ein mönchisches Schwarz, als nicht aber Anzug. Selbst der wäre mir heute eitel.
A.
(18.42 Uhr.)*
Lenas Talisker, Cigarillo und
Brittens Sinfonia da Requiem.)
Du fragst mich, weshalb ich diese Anrede wählte, Hohe Frau, und wendest ein, so eine habe mit Dir doch gar nichts zu tun. Eben, sage ich, genau deshalb. Denn schau doch, Geliebte, so oft ich nun schon „Liebste“ schrieb, „Herz“, sogar „mein Herz“ und welche Anrufungen sonst ich verwandte, so sind das doch alles längst Lügen geworden, wenn auch solche aus Not; jedenfalls machte ich (und werde dennoch weitermachen) mir damit etwas vor, besonders auch mit unseren „tatsächlichen“ Anreden „Innigste“ und „Nahste“. (Nein, ich habe weiterhin keinen unserer Briefe wiedergelesen; wenn ich sie nenne, ist das reine Erinnerung, eine seelisch längst uminterpretierte womöglich).
Faun und Sìdhe sind geworden, was sie waren: von Anfang an Legende. Nicht so aber „Hohe Frau“: Der Ruf stellt her, was ist. Vestalinnen klingen da mit, Hüterinnen – ecco! – des heimischen Herdes, mithin der Ehen, auch Hohepriesterinnen – alles Geschöpfe, die, zumal für einen wie mich, unberührbar bleiben müssen, um die Gefahr jedenfalls seines Lebens, mindestens des Seelenheils. Du kannst ja lesen, wie ich büße, was ich an Dir gesündigt habe. Jemand wie ich wird von der Reinheit ausgeschlossen. Dieses Bewußtsein teile ich mit Lenz, dessen Rolle uns, in dem Roman, überhaupt klarmacht, welch eine Magie Du hast, also die Lydierin hat. Ich selbst, anders als er, wäre ein schlechtes Beispiel, da ohnedies zur Phantastik geneigt. Er indessen, der Geld- und von daher Oberflächenmensch, der er damals gewesen?
Doch was, frage ich mich, wäre, begegnete eines Tages auch Gerald einer Sìdhe und sie an ihm erreichte, was Wiebke so viele Jahre vergeblich versucht hat? Das wäre nun wirklich tragisch. Allerdings öffnete es unsere schon wieder nächste Geschichte und zeigte, wie sich zwar nicht alles wiederholt, aber vieles in ähnlichen Formen neu auftritt, dabei neu aber jedes Mal i s t. Wir griffen ins Herz der Liebe mitten hinein, bloß, daß seine Kammern mit Verlusten gefüllt sind. Denn wo eines geht, bleibt ein andres zurück; dem läßt sich, scheint es, nicht entkommen. Diesmal traf es mich und traf die Meinen. Den Bußgrund dafür, daß ich einen Herd umstoßen wollte, büßt die Löwin nun mit, so wirklich unschuldig sie an alledem ist. Und nicht so tief, aber doch a u c h, leiden weitre mit ihr und für sich selbst allein.
Vielleicht, daß die eine und/oder andere Formulierung, das eine und andere Bild, das in diesem Roman entsteht, sie ein wenig, nur ein wenig entschädigt. Denn nicht nur Du hast Teil an ihm, sondern auch sie haben es, und nicht nur ein bißchen. Ich alleine, mit meinem, sofern für mich nur, lächerlichen Liebeskummer, rechtfertigte ganz sicher kein Buch, sondern nur, wenn es über mich Einzelnen hinausweist: er, dieser Kummer, muß mit allen, die empfinden - mit, sagen wir. nahezu allen -, Gemeinsamkeit haben, nur daß ich es austragen kann, privilegiert, wie mein Beruf mich macht. Mir sagt kein Vorgesetzter, reißen Sie sich mal zusammen!, niemand kann mich zur Verdrängung zwingen. „Ich verrate mein Unglück“, sagte dagegen die Löwin, die zwar ebenfalls >>>> die Möglichkeit des künstlerischen Ausdrucks, aber doch auch eine große Verantwortung für andere Menschen hat. Deshalb, wie wohl die meisten, muß sie ihr Unglück eben verraten, darf sich ihm gar nicht in einer so radikalen Weise stellen wie ich mich dem meinen, der ich mir sogar den größten Luxus leisten könnte: an der Vergeblichkeit zugrunde zu gehen. Es bliebe doch etwas, nämlich mein Roman, davon zurück – nicht anders fast, als wie von Vogel und Kleist, deren beider Freitod bis heute seine Dichtung, gewissermaßen nachträglich, mit einer auch persönlichsten, der radikalsten insofern, Konsequenz durchglüht. Es hat seinen Grund, daß die Abschiedsbriefe dieser Liebenden zur Weltliteratur zählen, gar nicht anders als Kafkas Brief an den Vater.
Nein, keine Sorge, wirklich, Schönste! Allerschönste, die mir je begegnet! Als Vater, der ich selbst bin, steht mir eine solche Option, ich sagte es schon, nicht zur Verfügung. Aber den Gedanken kann ich haben und hier, sogar indem ich ihn verwerfe, bis ins letzte („Letzte“, mit einem großen „L“) ausgestalten und bis ins vorletzte auch leben. Für Leser, vielleicht, bezieht sich draus Trost, so wie Tragödien sie läutern, für die Menge nicht vielleicht mehr solche auf dem Theater, aber im Film. Denn nicht sein zu können ohne die andre, ohne einen andren, sagt auch etwas über den, der es zugibt, und kann alle die hoffen lassen, die es zugeben nicht dürfen, weil sie Verantwortung tragen.
(18.25 Uhr,
Walton, Cellokonzert.)
Heute hat es, Liebste, zum ersten Mal geschneit, kurz nur indes, schon schoß scharfer schräger Regen hernieder; aber die Schneeflocken, bevor es sie zerprasselte, waren rund und weich wie Daunen. Und dann finde ich immer noch Spuren, nächste, von Dir. Heute war es Dein Shampoo, Garnier, und eine milchige Lotion Spülung; die Plastikflaschen standen ganz oben auf dem Regal links vor der Tür zu meinem kleinen Bad. Ganz nebenbei begreife ich deshalb, wie schwierig es für einen Täter sein muß, den Tatort zu säubern.
Momentlang dachte ich, die flachen hellen Flaschen zu rahmen. So vieles weist erneut auf Bilder, konkrete, nicht solche aus Sprache. Lenz hat schon recht mit der Mauer.
Immer noch steht der nun schon elend trockene Blumenstrauß auf dem Tisch. Aber ich habe für nächsten Mittwoch eine Putzfrau bestellt; dann wird es auch mit den letzten, mir von Dir verbliebenen Haaren vorbei sein, und ich werde das Bettzeug endlich waschen, in dem wir beisammen geschlafen haben. Wobei ich zudem übermorgen verreisen werde, erst nach Frankfurtmain, um Paulus Böhmer seinen Hörstück-Part einsprechen zu lassen, und nächstentags nach Karlsruhe zu einer Lesung. Da werde ich – aber das habe ich Dir schon geschrieben – die junge Dichterin wiedertreffen, der ich Deinetwegen, bevor Du nach Berlin kamst, abgesagt habe. - Auch darum, Geliebte, die Anrufung, darum „Hohe Frau“, damit andere Frauen, vielleicht auch wieder die Löwin, einen realen Platz in meinem Leben haben können. Gegen eine Hohepriesterin werden sie gar nicht angehen wollen, gegen die pure Imagination; an ihr ist keinerlei Fleisch, erst recht ist kein Kind von ihr zu befürchten, das wirklich meines wäre und darum meine Gegenwart von ihnen abziehen würde. Ja, warst Du nicht sogar von Anfang an als eine Elbin gedacht, ich als Dein Faun, und wir hatten uns drin nur getäuscht, daß sich Märchen verwirklichen lassen? Ich dachte das mehr noch als Du. So war denn alles sowieso Dichtung
und wird es bleiben,
findet aber erst nun in die Form.
Form ist‘s, und war es, Geliebte, woran ich mich halte und hielt. Darum trage ich jetzt ein mönchisches Schwarz, als nicht aber Anzug. Selbst der wäre mir heute eitel.
A.
(18.42 Uhr.)
P.S.:
An das Eigentliche reichen.
Bis zu unseren Gründen vordringen und sie zeigen
(Betrachte schlafende Menschen, ob sie nun mächtig oder arm sind: unser aller rührende Hilflosigkeit.)
(19.37 Uhr.)
*
An das Eigentliche reichen.
Bis zu unseren Gründen vordringen und sie zeigen
(Betrachte schlafende Menschen, ob sie nun mächtig oder arm sind: unser aller rührende Hilflosigkeit.)
(19.37 Uhr.)
albannikolaiherbst - Mittwoch, 10. Dezember 2014, 19:40- Rubrik: Arbeitsjournal
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