Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop

e   Marlboro. Prosastücke, Postskriptum Hannover 1981   Die Verwirrung des Gemüts. Roman, List München 1983    Die blutige Trauer des Buchhalters Michael Dolfinger. Lamento/Roman, Herodot Göttingen 1986; Ausgabe Zweiter Hand: Dielmann 2000   Die Orgelpfeifen von Flandern, Novelle, Dielmann Frankfurtmain 1993, dtv München 2001   Wolpertinger oder Das Blau. Roman, Dielmann Frankfurtmain 1993, dtv München 2000   Eine Sizilische Reise, Fantastischer Bericht, Diemann Frankfurtmain 1995, dtv München 1997   Der Arndt-Komplex. Novellen, Rowohlt Reinbek b. Hamburg 1997   Thetis. Anderswelt. Fantastischer Roman, Rowohlt Reinbek b. Hamburg 1998 (Erster Band der Anderswelt-Trilogie)   In New York. Manhattan Roman, Schöffling Frankfurtmain 2000   Buenos Aires. Anderswelt. Kybernetischer Roman, Berlin Verlag Berlin 2001 (Zweiter Band der Anderswelt-Trilogie)   Inzest oder Die Entstehung der Welt. Der Anfang eines Romanes in Briefen, zus. mit Barbara Bongartz, Schreibheft Essen 2002   Meere. Roman, Marebuch Hamburg 2003 (Bis Okt. 2017 verboten)   Die Illusion ist das Fleisch auf den Dingen. Poetische Features, Elfenbein Berlin 2004   Die Niedertracht der Musik. Dreizehn Erzählungen, tisch7 Köln 2005   Dem Nahsten Orient/Très Proche Orient. Liebesgedichte, deutsch und französisch, Dielmann Frankfurtmain 2007    Meere. Roman, Letzte Fassung. Gesamtabdruck bei Volltext, Wien 2007.

Meere. Roman, „Persische Fassung“, Dielmann Frankfurtmain 2007    Aeolia.Gesang. Gedichtzyklus, mit den Stromboli-Bildern von Harald R. Gratz. Limitierte Auflage ohne ISBN, Galerie Jesse Bielefeld 2008   Kybernetischer Realismus. Heidelberger Vorlesungen, Manutius Heidelberg 2008   Der Engel Ordnungen. Gedichte. Dielmann Frankfurtmain 2009   Selzers Singen. Phantastische Geschichten, Kulturmaschinen Berlin 2010   Azreds Buch. Geschichten und Fiktionen, Kulturmaschinen Berlin 2010   Das bleibende Thier. Bamberger Elegien, Elfenbein Verlag Berlin 2011   Die Fenster von Sainte Chapelle. Reiseerzählung, Kulturmaschinen Berlin 2011   Kleine Theorie des Literarischen Bloggens. ETKBooks Bern 2011   Schöne Literatur muß grausam sein. Aufsätze und Reden I, Kulturmaschinen Berlin 2012   Isabella Maria Vergana. Erzählung. Verlag Die Dschungel in der Kindle-Edition Berlin 2013   Der Gräfenberg-Club. Sonderausgabe. Literaturquickie Hamburg 2013   Argo.Anderswelt. Epischer Roman, Elfenbein Berlin 2013 (Dritter Band der Anderswelt-Trilogie)   James Joyce: Giacomo Joyce. Mit den Übertragungen von Helmut Schulze und Alban Nikolai Herbst, etkBooks Bern 2013    Alban Nikolai Herbst: Traumschiff. Roman. mare 2015.   Meere. Roman, Marebuch Hamburg 2003 (Seit Okt. 2017 wieder frei)
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Zweiundzwanzigster Brief nach Triest. (Briefe nach Triest, 25).


Die Dinge, Herz
(... - „Dinge!“),
Arbeitswohnung, den 12. Dezember 2014,
freitags 5.52 Uhr,
Hildur Gudnadottír, Leyfäu Ljósinu
(Allow the Light: „Laß das Licht!“),


werden komplizierter, je älter wir sind. Erinnere Dich, daß wir Wiebke und Gerald doch eben deshalb in den Roman eingeführt haben, um sie, solche Kompliziertheiten, der Liebe zu ersparen; sie waren, die beiden jungen Leute, doch unsre Hoffnungsträger... - und wo stehn sie j e  t z t? kaum daß wir uns versahen? Es sind ja nicht nur die von früher in ihr und unser Heute wirkenden Muster... ach, „nur“... daß wir mit Ambivalenzen leben müssen und wollen aber Eindeutigkeiten, wollen, wie Du, unbedingt sein. Sind wir es nicht, erleben wir das als Betrug, ob nun an uns, ob an dem andern. Und sind wir es, dann erlebt es der andre als Betrug. Nur wenige schauen da drüber und verstehen. Doch auch dann tut es ihnen weh.
„Ich wußte nicht, momentan, verzeih“, sagte gestern die Löwin, „ob ich das will, daß du herkommst und warst die Nacht zuvor mit einer andren Frau.“ „Ich weiß doch gar nicht, wie es wird“, sagte ich. Direkt zuvor hatte sie, die Löwin, mich „pragmatisch“ genannt, ein Vorwurf, der immer sonst mir ganz vorne auf der Zunge liegt. Sich etwas sehr wünschen und es trotzdem nicht wollen, es wollen aber d o c h. Je älter wir werden, desto enger windet sich das ineinander. Anstatt es auszuhalten, nehmen wir ein Messer.
D u nahmst das Messer. Hätte auch ich es genommen, irgendwann, wenn wir die Zeit gehabt hätten, um deren Fehlen ich klage? Ich kann‘s Dir, Geliebte, nicht sagen. Wäre denn, wäre die Lydierin bei Jessir alle Zeit geblieben, hätte sie sich trotz Lenz von ihm nicht getrennt, ihre Liebe auch annähernd so intensiv gewesen? Braucht Intensität den Ausschluß? Ist es wirklich die Frage, ob ich oder er? Oder stellen wir sie, weil wir im Herzen, und damit auch im Kopf, über die magischen Wünsche der Kinder nie hinausgekommen sind? Nun stell Dir das unter den Gesetzen des Markts vor! Eigentum und Habenwollen (Habenm ü s s e n - darum oben „Dinge“).
Sich aber auch nicht teilen können. Dennoch hat Amélie recht: Kein Mensch, für einen zweiten, kann alles sein; mancher ist Eines nur mehr als ein andrer; der ist indessen „mehr“ für ein andres, und nur in seltenen Fällen bleiben die Sphären klar definiert; meist verschwimmen sie ineinander und können sogar wechseln. Plötzlich ist aus der Nahsten das Begehren verschwunden, „plötzlich“, weil wir den Prozeß nicht beobachtet haben. Wie, meine Sìdhe, aber sollten wir denn? Es hätte doch einer Distanz bedurft, die wir eben nicht hatten und haben auch nicht durften, um nicht erkühlend lau zu sein. (Die vielen Hilferufe im und durch das Netz nach etwas, das wir zuhaus nicht mehr haben! Millionenfach tönt er, einer des andren unendliches Echo...)
Hätte sich auch uns, wär das Uns geworden, das Begehren so gelegt und hätte sich als ruhiges, wie nahe auch immer, beruhigtes Gewöhnen abgesetzt, Schwebeteilchen gleich, wenn das gewirbelte Wasser wieder stillwird? Vielleicht suchen wir das, als die Hitze, ja m e h r? und suchen letztlich in der ersehnten Ganzheit verlorene Kindheit? - nicht deren faktisch Konkretes, das sie uns einmal war, sondern die imaginäre aus den Märchen? Heimat, „angekommen sein“: Für das, in der Tat, wär ich, Geliebte, der Falsche gewesen. So wähltest Du recht.

Merkst Du‘s, mein Herz? Ich möcht Dir heute schreiben, weshalb Deine Entscheidung richtig war, nicht vielleicht die für ihn, sondern die gegen mich (natürlich schreibe ich‘s nur mir: auch das will ich ansehn). Lenz ließ der Lydierin reifen, die Deine aber schützt Dich selbst.
Dabei geht es nicht um Treue, die hab ich bis in den Tod. Ich würde nicht zögern, wäre das medizinisch erfordert, mein Rückenmark für Dich zu geben; jedes Organ gäb ich her, sowie Du es brauchtest. Ja. Selbst mein Leben. Doch nichts, nach dreivier Jahren des gemeinsamen Haushalts, auch nicht unser Kind, für das ich dennoch bliebe und gäbe für e s wie für Dich, hielte mich ab, einem nächsten magischen Blicken in eine nächste Achselkapelle der Cava grande zu folgen. So bin ich fürs dauernde Heim nicht verläßlich. Ich schrieb das bereits am Anfang dieser Briefe. Nur hat sich die Perspektive gewandelt, da ich jetzt spüre, wie Lenz mich, der Grantler, beeindruckt. Ich seufze nicht mehr arg so viel. Statt dessen erzähle ich unsre Geschichte.
Nein, Du nach wie vor mir unfaßbar Schönste, es geht nicht um die sexuelle Begehrnis, obwohl auch das stimmt, daß ich die nie im Griff haben mochte noch konnte. All meine Partnerinnen, so innig wir immer auch waren, haben darunter gelitten. „Hat wenigstens auch sie“, fragte Do mich bitter und meinte die Mutter meines Sohnes, „mit deinen vielen Frauen zu tun?“ Das liegt nun fünfzehn Jahre zurück (ich vergesse nie). - Nein, es geht tiefer. Ich ziehe von Frauen meine Seele immer wieder ab, von der sie meinten, daß sie rein für sie sei. Das war sie auch stets, doch für gerahmte Zeit. Irgendwann immer durchbrach ich die Rahmen, brauchte die jeweils neue - die aber ganz die alte wieder – Glut, eine, die sich offenbar im Währen nicht erhält, nicht in der Normalisierung, die eine Familie aber braucht. Ich hingegen brauche den Sturm. Stelle mich sogar dann mittten hinein, wenn er das Haus zerstören wird, das ich noch hinter mir her m i t hineinzerr, wenn es nicht losläßt. Ruhe, auch wenn ich mich nicht anders nach ihr sehne als Du und wir alle, ist für mich nicht geschaffen, nicht der Verlaß des geordneten Ablaufs; irgendwann scheu ich und bäume mich auf. Wenn dann kein Sturm kommt, werd er ich selbst. Es kann sogar sein, daß ich ihn suche. Darin bin ich anders als Lenz.

Sowie das magische Blicken erlischt. Wenn es von Dir in eine andre hineinzog. Jedes Mal.

Stürme und Blicke.
Energien.

Nur daher die Kraft meiner Arbeit. Nur daher, daß ich mich niemals beugte, nicht müd ward, schon gar nicht ergeben. Daher auch meine Lebenslust - „Lust“ emphatisch gemeint, nicht gut noch böse, schon gar nicht, so wundervoll er ist, der parasympathikone Nachklang vertraulichen Einschlafs nach der Ekstase. Sondern das pure Zittern und Schwingen der Energien für sich. Die habe ich immer anzapfen wollen und müssen und angezapft. Nur darum habe ich bis heute gegen alle Widerstände bestanden und bin nicht fortzubringen aus der Kunst. Weil ich mir diesen Kontakt stets habe auffrischen können. Der Schlüssel in meine Arbeit war nie Moral; die interessiert mich allenfalls am Rande. Es war eben darum auch nie Politik (äußerliche Macht ist mir so gleichgültig wie funktionales Autoritäres). Sondern es war und ist diese Lebensenergie, die sie beseelt und sich nirgendwo anders so ausprägt wie in den Verhältnissen und Verhängnissen unsrer Geschlechter, damit – und deshalb hättest Du schließlich, Geliebte, unter und an mir gelitten – für mich in den Frauen. Eine von denen wurdest nun Du, der mächtigen Frauen in ihrem Umstrahltsein, das ihnen aus der Haut scheint, die bisher letzte von denen. Aber w i r k l i c h die letzte? Ich beginne zu zweifeln. J e d e neue war die letzte.

Triebhaft.

(Nicht sehr emanzipiert, das magische Konzepte der Muse – nicht für die Frauen, nicht für mich selbst. Doch von allem Anfang an wirksam, seit ich meine ersten Erzählngen schrieb: kunsttriebhaft.)

So dreht sich nun etwas. Kann es wohl sein, daß Du mir einzig deshalb erschienst, damit dieser Roman geschrieben werden konnte? endlich geschrieben wird? Αἰαιαη oder Die Erleuchtung. - Liebste, entsinn Dich! Was geschah, nachdem ich die Idee für >>>> das Sterbebuch hatte? Wurde ich nicht selbst zu einem, der stirbt? Meine Güte, drei lange Jahre! Sogar ins Krankenhaus hab ich gemußt, bis ich es anfangen konnte; dazu, worüber die Löwin immer gelacht hat, meine Impotenzängste, die zum „Sterbendsten“ gehörten, das sich in mir austrug. Damit erst konnte ich Lanmeisters Blick auf die hübsche Werschevskaja, Du weißt schon, diese Pianistin, werfen, nämlich als er, und ihn so wirklich fassen. Weil nun aber Κίρκη nicht mehr bereitstand, ja sich so weit entfernt hatte, daß sie sich sogar meinem Imaginieren entzog, erschienst D u und legtest in ihren Blick, der mich ansah, den Deinen?
Davon konntest Du selbst gar nichts wissen, weder von dem Roman, der in mir gärte, noch von den mir auch selbst, als ich Dich ansah und so lang ich Dich ansehen konnte, ganz unbewußten Prozessen, die auf das neue Buch gnadenlos hingesteuert haben. Erst jetzt, in der Trennnung, beginne ich zu begreifen. Nur weil es nötig ist – für das Buch, nicht für mich, geschweige denn Dich – halte ich an unseren Energien derartig fest und tu nicht ein einzige Haar weg, das ich von Dir am Rand meines Duschbeckens finde. Immer noch schlafe ich mit Deinem Hemdchen im Arm ein, das ich immer noch küsse, jede Nacht neu. Ich tu es für den Roman, habe für ihn die Visionen und scheute, wenn sich's nach einem Freitod weiterschreiben ließe, wahrscheinlich nicht eimal den. - Gut, das ist Unsinn. Keine Frau, sondern alleine mein Sohn vermag einen Strich durch meinen Willen zur Dichtung zu machen. Bekämen wir beide ein Kind, dann freilich dieses genauso. Sonst aber niemand und nichts. Auch Du nicht, Geliebte – vielleicht Du am allerwenigsten sogar. Denn imgrunde warst Du gar nie gemeint. (Meiner Liebe, Liebste, zu Dir tut das dennoch keinen Abbruch; sie besteht zugleich.)

(8.35 Uhr,
Busoni, Fantasia contrapuntistica.)
 
Ich werde erst einmal schließen, aber vielleicht im ICE weiterschreiben. Wir dürfen unsere Figuren nicht aus den Augen verlieren. Da muß noch einiges nacherzählt werden, besonders aus der Lydierin und Lenzens erster Zeit, einer zu Jessir parallelen, den es für diese Frau noch einige Wochen lang gab. Von ihrem furchtbar schlechten Gewissen ihm gegenüber, ihren inneren aneinanderschlagenden Strömungen, aber auch Lenzens Verzweiflungen, die ihn indes nicht aufbegehren, sondern sich immer nur noch mehr fügen ließen. Er ertrug quasi alles, nahm jedes Leid, das seine Geliebte hatte, in sich selbst, als g i n g e das, an der Stelle einer anderen zu leiden, und sie dann wäre davon frei. Von ihren nächsten und nächsten Ungeheuerlichkeiten, spontanen Ausfällen gleichsam, Mutwilligkeiten, ausbrechenden Unbedingtheiten; erinnre Dich an den Ring. Und auch Wiebke und Gerald sollten unsere Aufmerksamkeit behalten. Seine Sìdhe schließlich und wie er die Versuchung endlich verscheucht, daß er sie dennoch nie verlieren wird... nie vergessen, was vielleicht möglich geworden wäre, und daß sie ihm lebenslang fehlen wird, etwas an ihr, das Wiebke nicht erfüllen kann, schon gar nicht als Mutter, die sie dann ist. Weil halt ein Kleines vorgeht. Typischerweise erscheint ihm, Gerald also, seine Sìdhe in der für frisch gewordene Väter härtesten Phase der Mutter-Kind-Duade. Das werd ich selbstverständlich nicht erzählen (>>>> „show, don't tell“;  ein freilich als für die Moderne so ausgegebenes, aber eben n i c h t modernes, vielmehr auf Leserregression zielendes „Gesetz“), sondern eine Affaire hintertragen, die ich selbst durchlebt habe, als mein Junge Baby war. Auch hier gilt, daß alles, auch man selbst, für den Künstler Material ist. (Ich komme auf nichtentfremdetes Arbeiten zurück und auf die, Liebste, Dialektik, daß gerade dieses ein insFremdeRücken verlangt.)

Erst einmal aber ist nun meine kleine Reise vorzubereiten. Das noch gestern nacht für die Freunde gebackene Brot liegt bereit. Das Aufnahmegerät muß entsichert, die Bücher müssen herausgesucht, der elegante kleine Koffer möchte gepackt und das Hörstück-Typoskript, in der letzten Fassung, muß noch ausgedruckt werden.

Hast Du, Frau, eine Idee, wie ich mich kleiden soll? Mir ist ja noch immer nach mönchig, vielleicht sogar gerade – da ich mir wieder bewußt werde, was ich bin. (Übrigens genügte es vollauf, dafür diesen Busoni zu hören; man wählt eine Musik, und plötzlich steht das Bewußsein im Raum.)

Kann man das sagen?: stolz verfallen?

Verfallen und stolz:

Der Deine.
*

(15.30 Uhr, Hildesheim,
ICE 691.)

Ich habe unmittelbar (erhielt eine Verspätungsnachricht auf das Ifönchen) umdisponieren müssen, stand da bereits auf dem SBahnsteig Prenzlauer Allee, es war eine Frage zweier Minuten. Die App der Deutschen Bahn geöffnet: gab es Alternativen? Ich buche ja meist über Leipizig, eine nach Strecke kürzere, deshalb weniger teure, doch längere Fahrt. Nun gut, nahm ich halt doch eine schnelle Verbindung, im Zweifelsfall würde ich nachzahlen müssen, aber hatte bereits mein Argument auf der Zunge; es hat dann auch gestochen. Ich werde insofern sogar eine halbe Stunde früher als geplant ankommen; Böhmer bat darum, daß ich noch einen Wein besorgte. So besorge ich besser zwei. Das Brot für den alten Freund und die Freundin, die seine Frau ist, liegt wohlverpackt auf der oberen Ablage.
Zuerst, als ich meinen Platz gefunden hatte, las ich >>>> der Löwin neuen, einen in Bildkraft und seinem glimmenden Ungefähr fast atemberaubenden Text http://albannikolaiherbst.twoday.net/stories/weinlese/; zweimal unterbrach die Verbindung, was hinter Spandau, im alten DDR-Gebiet, bis heute noch die Regel ist. Dann ward ich müde, versuchte zu schlummern, schreckte auf und sah Dich an.
Du sahst zurück.
Eine oder zwei Minuten waren vonnöten, um mich begreifen zu lassen, daß es das Hintergrundbild auf dem Desktop war. „Da bist du ja“, hätte ich fast schon gesagt. Es ist kein neues Motiv, daß Figuren, die wir lesen, aus unseren Büchern zu uns herausklettern. Woody Allan, in Purple Rose of Cairo, hat das auf einen Film übertragen, seinen einzigen, den ich mag und nicht auf billigste Weise ironisch und kleinkariert finde... na gut, auch „Manhattan“ mochte ich; diesen einen aber hab ich geliebt. Erinnerst Dich, wie wir auch darüber sprachen und wie ich Dir dann auf dem Moby Dick vorlas, ja meine Lieblingsszene sogar, aus Gullivers Reisen, worin der Zwerg eine Brustwarze der aristokatischen Riesin erklimmt, ihre eine, sozusagen, Aristokrarze; er kam indes der dicken borstigen Haare, die spitzen Pfählen gleich wider ihn aus der groben porigen Haut so hingen wie auch standen, nur unter Schwierigkeiten hinauf - bis ihn die junge Dame am Schlafittchen nahm, mit zwei Fingern, und rittlings auf den Nippel setzte. In den „für die Jugend“ bereinigten Ausgaben fehlt dergleichen selbstverständlich. Und was ich alles angestellt habe, um das mir größte, weil wichtigste Liebesbuch, >>>> Aragons Blanche ou l‘oubli, für Dich aufzutreiben! All das war wahrscheinlich niemals real. Du mußte es mir nur sagen, daß ich‘s mir eingebildet habe – das wäre dann fast schon ein Sieg, wenn meine Figur mit mir spricht.
„So sei doch ruhig, Liebster. Begreif doch, bin in d i r.“ Sogar eine Hand legst Du mir auf den Unterarm. „Wir kannst du dich sorgen, mich zu verlieren?“ Und bittest mich, Dich zu mir zu lassen. „Da ist doch ein Platz frei...“ „Du möchtest ans Fenster?“ „Dort ist‘s mir zu kühl. Ich reagiere auf air condition empfindlich.“ (In der Tat, wie schnell Du immer frorst!)
Als Du sitzt, lasse ich meinen Kopf auf Deine rechte Schulter sinken. Wer uns beobachtet, sieht ein leises Schluchzen (sieht es, ja, sieht; hören kann man es nicht, allenfalls kannst Du spüren, wie es als warmes Wellen durch die Hohlräume Deiner schmalen Brustknochen läuft). „Wie kannst du nur denken, daß du jemals deine Muse verlierst?“ Aber da schlummr‘ ich schon wieder. Trotzdem hör ich Dich lachen. „Als ließen solche wie ich jemals los!“

Ich hab Dich wie flüssiges Rauschgift getrunken.

(Lenz wankt tagelang, immer wieder muß er sich irgendwo festhalten. Auf seinen Kreislauf ist gar kein Verlaß. Einen Arzt aufzusuchen, wäre indessen vollkommen sinnlos. Wie gut, daß er kein Auto mehr fährt! Wochen noch später rutscht sein aufrechter Gang auf den Schwächen und fällt, fällt immer tiefer, schlägt auf in Deinen Achselkapellen. Wie kalt ist‘s mit einem Mal da geworden! realistisch geradezu: in dieser kleinen Nebengrotte fast ganz am Grund der Cava grande, kaum wärmer als 12 Grad Celsius. - Was wird dort draus geboren werden? Fossa: italienisch für „Krater“. Lavamassen austretenden Östrogens, Progesterons, tiefer und tiefer die Zunge im östradiolen und gestagenen Magmagemisch, mit ihrem hohlen Rohr und der Mündung, die vorstößt.

- Indem er aufschreit, erwacht er. Die andren mit mir im Waggon sehen her, mindestens so erschrocken wie ich. „Entschuldigen Sie bitte“, sage ich, „ich habe nur... offenbar... ein Albtraum.“ Jetzt stotter ich sogar?)

Bevor ich weinen kann, peinlich, ich weiß, liegt erneut Deine Hand auf meinem Arm.
„Schlaf wieder“, sagst Du, denn alles sei gut. „Hast schlecht geträumt, hast schlecht geträumt.“
„Wo sind wir?“
„Gleich in Fulda.“
„Wie kamst du her?“
„Nie war ich weg.“
Nicht ganz mehr anderthalb Stunden bis Frankfurt.
Formklammern, |und. Sich schließende Kreise.

A.
ICE 691 (Fulda).
*

albannikolaiherbst meinte am 2014/12/12 09:45:
Arbeitsbemerkung (Frage).
Im Zug nach Frankfurtmain schon einmal, im Typoskript, alle bisherigen Briefe lesen und schon erste Striche anbringen? Was funktioniert nur im Netz und was muß fürs Buch deshalb raus? Was ist ohnedes unnötig und muß weg? Was ist zu sehr für das eigentliche Thema belanglose Arbeitsjournalbemerkung? Usw.
Interessant dabei, daß längst ich selbst, wenn ich von mir als dem Briefautor spreche, mich als "er" formuliere: Der Briefautor wird das und das tun und das und das erleben. Oder, gestern in Facetime zur Löwin: An der und der Stelle geht er sich selbst auf den Leim. 
diadorim meinte am 2014/12/12 11:06:
wie du dich kleiden sollst? schwarzes hemd, schwarze hose, oder jeans ;). ich denke nur, kannst du dir eigentlich nicht so jenseits aller gewöhnung so ein bisschen else lasker-schülersch vorstellen, dass man so ein gefühl hat von verwobenheit, so im sinne von "deine seele, die die meine liebet, ist verwirkt mit ihr im teppichtibet" und alles was dann folgt als die mühen der ebene betrachten, es sehnen sich ja durchaus auf der ebene paare noch, bzw wissen, um die attraktion ihrer zusammenkunft, wenn etwas wirklich sich gefunden hat, ist so mein gefühl, leidet es natürlich auch an den banalitäten im alltag, am funktionieren müssen, bei meinem peter pan syndrom grolle ich bis heute, dass nicht alles ewige semesterferien geblieben ist. ich hätte das alles nicht gebraucht, mir war schwärmen und lieben genug :). fand ich immer irgendwie blöd, dass man mich mit der arbeit betrog, ich wäre total angenervt von einem geliebten, der immer lieber erst seinen roman zu ende schreiben will, statt mit mir rumhängen. wobei das rumgehänge bei mir durchaus aktiv ist. dinge ankieken, dinge tun gehört dazu, aber eben doch verdammt noch eins mit mir, wenn schon. ich wollte auch nie jemanden nur für leidenschaftlichen sex, ich wollte immer wen so ganz. mit haut und haaren und mich dem von morgens bis abends zumuten. ich fand alles andere schrecklich bürgerlich, dieses begrenzen von leidenschaft auf kurze zeiten und affären und irgendwie kann ich darin auch nicht die intensität sehen, das fand ich immer eher pragmatisch und der heutigen arbeitswelt angepasst, unpragmatisch wäre für mich so ein bartlebygedanke ins positive gewendet, i would prefer to und dann einfach sich da hinsetzen und nicht wieder gehen. oder, anders gesagt, es gibt so komplett andere liebessehnsüchte, das kann man sich kaum vorstellen, glaube ich und darum gibts auch so viele tränen, weil die jeweils anderen immer so was anderes von der liebe wollen, als man selbst und man doch jeder für sich denkt, mit der liebe ist es aber doch nur so richtig und wahr oder nur so. oder noch anders, ich bin ja schwer zu kriegen mit betty blue, die liebenden von pont neuf und paris texas stories, die gehen alle halt tragisch aus, das ist sehr schade, das kann und sollte man umschreiben, es gibt solche lieben und solche würde ich immer wieder suchen, das wäre aber so gar nicht deine. 
albannikolaiherbst antwortete am 2014/12/12 12:38:
Doch@diadorim.
Wäre es und war es und sollte es auch wieder sein. 
diadorim antwortete am 2014/12/12 13:27:
ja aber eben in kürzeren taktungen, wenn ich dich richtig verstehe, nein? wenn du doch schreibst: "Nein, es geht tiefer. Ich ziehe von Frauen meine Seele immer wieder ab, von der sie meinten, daß sie rein für sie sei. Das war sie auch stets, doch für gerahmte Zeit." 
albannikolaiherbst antwortete am 2014/12/12 14:34:
@diadorim.
Siebzehn Jahre findest Du eine k u r z e Taktung, oder selbst acht? Aber prinzipiell verkennst Du den Distanzierungsversuch, den der Briefautor hier unternimmt. Es führt nicht nur literarisch in die Irre, alles 1:1 zu lesen; "Realitäten" und Imaginationen sind aufs engste vermischt. Genau daraus erzeugt sich der Eindruck.eines Authentischen. Seit Thetis arbeite ich so, jedenfalls in dieser Konsequenz. (Selbst die "Realitäten" sind anders).

(ANH im ICE, Höhe Braunschweig) 
diadorim antwortete am 2014/12/12 16:58:
nur in diesem satz, ja, da verkenne ich ihn, weil er ja durch alle figuren immer wieder präsenz hat, sprich, es gibt ein paar konstanten, an welche figuren die auch immer geknüpft sind. so, dass sie, wenn sie nicht authentisch sind, doch aber ein irgendwie verkörpertes ideal zu sein scheinen, dass dem autor wichtig ist. luhmann sagt ja auch, wir entwerfen uns nach den gechichten, die über uns kursieren und die wir uns so erzählen, dass wir uns darin auch oft irren, wenn wir über uns erzählen, geschenkt. ich führte ja auch geschichten an, die ich gern lesen/sehen würde, bzw, die mich triggern und das sind eben nicht so don juan geschichten, noch nicht mal die 'normalen' seitensprunggeschichten, die finde ich unsäglich öde, weil eben so allerweltszeug, ich verachte daran auch nicht die eigentliche tat, nur diese verschwiemelte kleinkrämerei, die von angst und besitzstandswahrung zeugt, macht man eigentlich nicht mit leuten, die man liebt, bei leuten, die man liebt geht man hin und sagt gleich, scheiße, ich glaub da läuft gerad was aus dem ruder, vielleicht bevor noch irgendwas anderes beginnt, das immerhin, scheint mir, ist aber auch dir wichtig, zumindest als geschichte. 

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