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Sie schliefen beinahe alle. Cordes und sein kleiner Junge in der Schönhauser Allee auf dem Hochbett, die Zeuner in ihrem Friedenauer Luxusgemach. Dr. Lerche in Potsdam, sogar Hans Deters war bei der SIEMENS/ESA, Wiesbaden, auf dem Stuhl eingeschlummert. Beutlin lag in dem kleinen Ruheraum, der gleich links vom Flur abging. Alleine Kignčrs wachte immer wieder stöhnend auf; er hatte Blutträume gehabt, abermals. Im Geäst der Insomnie schmetterte der Sittich. Anders als Goltzens KaliTräume, die auch lockten, war Kignčrs der Albdruck nichts als furchtbar. Saß aufrecht im Bett, rang nach Atem, die Augen noch geschlossen. Manchmal riß er sie auf und hielt sie gewaltsam offen, nicht selten mit zwei Fingern, je, bis ihm die Sukkuben aus den Wimpern fielen. Rinnsale Schweißes liefen ihm von den Schläfen.
Dieser harte Mann. Wie eine Metastase hockte der Ostkrieg in ihm drin und metastasierte. Überdies zehrte ihn die Trinkerei aus. Wie in allen, die den Wohltaten des Alkohols opfern, hatte sich dort, wo der Balkon war, auch Kignčrs hinter den Altar, der für ihn sein Schlaf war, eine in sein dauerndes Halbwach glühende Apsis gehöhlt. Hoch und dreischiffig, quasi, war sie, die Fenster aus fahlem, pergamenten wirkendem Glas in blassen, dennoch fieberigen Farben, fiebernden, voll der kunstvollen Martern, aber belebt, denn die Figuren bewegten bisweilen grausam den Arm. Ein Tod schwang die Sense, die er nur hob und verharrte, und rief man hinein, gab es kein Echo. Der Laut drang in die Poren der Bilder und blieb da. Ein Auge schloß sich und ging wieder auf, nun unentwegt den Mann bestarrend, der hin und her sich im Bett wälzte, den Sittich auf dem queren Holz des Kopfgestells. Da pochte der und pochte, bis es Morgen würde.
Wir können auf den nicht mehr warten, mühen uns auf. Und wirklich, die Apsis verschwindet. Nun ist da wieder nur Balkon und vor ihm karg das Zimmer, in dem wir schwankend suchen. Die Flasche auf dem Tisch war aber längst geleert. Zwei weitere Flaschen liegen ausgetrunken am Boden. So daß sich Kignčrs, da war es halb vier in der Frühe, auf die Straße flüchten mußte, aus der kleinen Wohnung hinaus das Treppenhaus hinab. Bevor ihm, hätte er sich zurück in sein Bett gelegt, erneut diese Apsis erschien.
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albannikolaiherbst - Mittwoch, 4. April 2012, 19:05- Rubrik: ARGO-ANDERSWELT
ANH an die Faßbinder-Foundation, Email, 29. März 2012:Sehr geehrte Damen und Herren,
ich schreibe derzeit für den WDR ein neues Hörstück, das diesmal dem US-Science-Fiction-Autor Daniel F. Galouye gilt; ich selbst produziere das Stück, also montiere, schneide, arbeite mit den Sprechern, führe die Regie usw., wie ich das für ähnliche Stücke seit zehn Jahren tu. Die Stücke sind weitgehend durchkomponierte poetische Collagen, die meist auch mit O-Tönen arbeiten. Hierfür jetzt meine Bitte. Bekanntlich hat Faßbinder Galouyes Roman Simulacron 3 für das Fernsehen verfilmt, als "Welt am Draht", 1973, und ich würde gerne aus dem Film ein paar Töne mit in das Hörstück hineincollagieren, die teils unter dem eigentlichen, von mir geschriebenen Text wie eine Musik darunterlaufen, freistehen würden insgesamt nicht mehr als vielleicht, ja höchstens zwei, drei Minuten. Dazu würde ich gerne die Rechte einholen.
Viel Geld habe ich nicht zur Verfügung: inklusive allem, also auch meinem und dem Honorar aller Sprecher 3000 Euro, was für anderthalb Monate Arbeit wirklich nicht viel ist. Gäbe es den Begriff, könnte man, was ich tu, ein "Autorenhörspiel" nennen. Vielleicht gestatten Sie mir deshalb, die kleinen Tonausschnitte unentgeltlich zu verwenden? Eine Dateikopie der fertigen Sendung bekämen Sie selbstverständlich. Oder ist so etwas ohnedies über die GEMA-Meldung gedeckt, die der WDR nach meinen Angaben sowieso machen muß?
Über mich finden Sie genügend im Netz und in Literaturlexika, so daß ich mich nicht eigens vorstelle; sowas ist sowieso immer etwas komisch. Da ich ebenfalls in Berlin lebe, wäre es auch ein leichtes für mich, bei Ihnen einmal vorbeizuschauen.
Beste Grüße von Kiez zu Kiez:
ANHDie Faßbinder-Foundation an ANH, Email, 5. April 2012:Sehr geehrter Alban Nikolai Herbst,
vielen herzlichen Dank für Ihre Anfrage und Interesse am Werk von Rainer Werner Fassbinder "Welt am Draht". Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass die RWFF Ihre Wünsche nicht erfüllen kann. Ihr Projekt klingt sehr spannend, die Bearbeitung der Töne von "Welt am Draht", wie sie dies in Ihrem Mail beschrieben haben, würden aber zu einer Verfälschung des originalen Filmwerkes von Rainer Werner Fassbinder - selbst in Ausschnitten- führen, die leider rechtlich nicht erlaubt ist.
Wir wünschen Ihnen trotzdem viel Erfolg bei der Produktion Ihres Hörspieles und verbleiben mit freundlichen Grüßen,
Livia Anita Fiorio
Assistentin von Juliane Maria Lorenz
_________________________________________
Rainer Werner Fassbinder Foundation
Giesebrechtstrasse 7
10629 Berlin
Tel: +49-30-887249- 0
Fax: +49-30-887249 -29
info@fassbinderfoundation.de
www.fassbinderfoundation.deANH an die Faßbinder-Foundation, Email, 5. April 2012:"würden aber zu einer Verfälschung des originalen Filmwerkes von Rainer Werner Fassbinder" -
Ja, selbstverständlich - wenn es denn darum ginge, eine Bearbeitung von Faßbinders Werk vorzulegen. Selbst das aber wäre künstlerisch legitim. Denken Sie an Dalís Mona-Lisa-Bearbeitungen, wie überhaupt an die Werke der Surrealisten. Wäre es nach Ihnen gegangen, hätten Sie die nicht erlaubt. Ich sehe gerde Max Ernsts Gesicht vor mir.
Aber gegen Ihren Entscheid kann man nach Lage des derzeitigen Urheberechts nichts tun, jedenfalls nicht in Zusammenarbeit mit einem Öffentlich Rechtlichen Rundfunk, auch wenn Faßbinder selbst, hätte er dieses noch erlebt, tief erschrocken, wenn nicht wahrscheinlich entsetzt gewesen wäre – und mit allem Recht wütend.
So grüßen die Künste ihre Verwaltung:
ANH
www.albannikolaiherbst.de [Urheberrecht.]
Galouye 1 <<<<
albannikolaiherbst - Donnerstag, 5. April 2012, 18:12- Rubrik: HOERSTUECKE
Jetzt habe ich sie einige Tage lang besucht, >>>> die digitale Konzerthalle der Berliner Philharmoniker, und weiß vor Begeisterung so wenig mehr aus noch ein, daß ich sie Ihnen hier ans Herz legen m u ß. In meinem Arbeitsjournal habe ich schon einige Male von ihr erzählt, doch ihr gebührt ganz unbedingt ein eigener Beitrag. Das Angebot gehört, jedenfalls für den Liebhaber großer Musik, zum allerbesten, das Sie im Netz weltweit erhalten können, sowohl in der Qualität der Bilder als auch vor allem in der der Musik. Hier haben Liebhaber und Geliebte gewirkt. Das meint auch die filmische Dramaturgie, die nach den Live-Aufnahmen auf das sorgsamste im Studio hergestellt wird; deshalb gelangen live übertragene Streams, die Sie ebenfalls empfangen können, erst nach Tagen intensiver Bearbeitung in das Ihnen zur Verfügung gestellte Musikarchiv. Ich habe das, nach >>>> dem Konzert der Jungen Deutschen Philharmonie, erst nicht verstanden; aber allmählich wurde es mir klar, und zwar wegen des unbesteitbaren absoluten Höhepunkts, bislang, der Sammlung: >>>> Peter Sellars' Inszenierung, die hier „Ritualization“ genannt ist, der Matthäus-Passion Johann Sebastian Bachs unter Simon Rattle mit Camilla Tilling, Magdalena Kožená, Topi Lehtipuu, Mark Padmore, Thomas Quasthoff, Christian Gerhaher, Kai-Uwe Jirkas Staats- und Domchors Berlin, sowie dem Rundfunkchor Berlin. Was Sie da zu sehen und zu hören bekommen, ist von einer fast unbegreiflichen Schönheit: so von Trauer voll und derart fern einem jeden „Event“.  Den Filmmachern und Toningenieuren läßt sich einfach nur Danke sagen, man muß hier ihre Namen nennen; bescheiden sind sie am Ende der Übertragung eingespielt: Daniel Finkernagel, Alexander Lück, Fabian Welther, Annett Gierschner, Stefan Zwickirsch, Uli Peschke, Peter Gross, Marco Buttgereit, Kai Mielisch, Ralf Bauer-Diefenbach, Heinz Naumann, Yorck Koch, Bettina Richter, Ingo Stolzenburg, Katharina Brunner und, als künstlerischer Chef der Produktion, Christoph Franke. Den Sängern, die alle Darsteller sind, auch die der Chöre, gilt sowieso der Dank. Und der Berliner Philharmonie.
Das Abonnement der digitalen Konzerthalle, jederzeit kündbar, kostet monatliche 14,50 Euro. Ds ist ein pures Geschenk, weit entfernt davon, die Kosten zu decken. Sie werden die Ausgabe niemals bedauern. Worüber Sie allerdings verfügen sollten, ist eine gute Soundcard und, wenn Sie nicht mit Kopfhörern hören möchten, die Verbindung zu Ihrer HiFi-Anlage. Außerdem einen schnellen Internet-Anschluß mit, selbstverständlich, Flatrate. Ob Ihr Anschluß sich eignet, wird von der Concerthall vor dem Abonnement in Sekundenschnelle geprüft.

albannikolaiherbst - Donnerstag, 5. April 2012, 10:22- Rubrik: Konzerte
Auch über Sexuelles hatte Ungefugger mit seiner Tochter gesprochen, der sich sehr wohl seiner heimlichen Besuche im Boudoir entsann. Er schämte sich ihrer bis heute. Zwar vor sich selbst, nicht vor den anderen. Doch daß es Zeugen gegeben hatte! Welch ein Glück das damals gewesen war, daß Elena ihm die Diskette zugespielt hatte. Die hatte er, gleich nach gewonnener Präsidentschaftswahl, aus dem Giftschrank der Siemens/Esa herausgeholt und wohlbewahrt in Stuttgart. Diese alten entsetzlichen Frauen! Übel wurde ihm davon, dachte er daran. Und wollte die Erfahrung dennoch nicht missen, daß es auch ihn von Zeit zu Zeit überkam. Weshalb er der Tochter wie seiner Frau gegen die Ranzzeit die Spritze empfahl.
Doch Michaela Gabriela war zu eigensinnig und zu stolz, wollte sich und den Körper bestimmen allein mit dem Willen. Deshalb aß sie nicht mehr seit fast einem Jahr, bzw. aß sie erschreckend wenig. Ihre Mutter, die das besorgt, wenn auch tumb registrierte, mischte ihr Sahne in den Magerjoghurt. Da wich die Tochter auf Nährstoffpillen aus, sie ließen sich sowieso besser dosieren. Daß ihr Körper kollidierte, wollte Michaela Ungefugger nicht. Ihr ging es im Gegenteil um energetische Präsenz und eine geistige Reinheit, in der schließlich der Sexualdrang verschwand. Sogar Michaelas Periode, sie hatte bei ihr mit zwölf eingesetzt, blieb nun von Zeit zu Zeit aus. Was sie als Glück empfand.
Nein, sie brauchte keine Spritzen. Zwar jeder Arm wie ein Bambus, doch sichtbar definiert die Muskeln daran. Ebenso die Beine. Ihr Gesäß war das eines jungen Mannes: sogar Buchten in den Backen, die sehnig spielten, wenn sie ging. Doch ihre Brüste mißhagten ihr. Sie hingen seit der Diät, da half auch striktes Training nicht. Die junge Ungefugger nahm ihre Brüste nicht als Organe wahr, sondern für Accessoirs, über die man als einen Schmuck verfügt. Man muß ihn nicht betonen, ja nicht einmal wirklich anlegen wollen, aber wird er einem entwendet, dann ist das schwer zu ertragen. Nicht zu akzeptieren ist es, dachte die Ungefugger und zog Erkundigungen über holomorfe Plastinate ein, wie ihr Vater eines, als Ohr, trug. Doch verfügte sie nicht über genügend Geld, um sie sich leisten zu können; ihr Vater hielt sie knapp. Und die Mutter, wußte sie, wäre dagegen. „Ernähr dich einfach richtig, Kind. Du hast einen schönen Körper. Gib ihm einfach, was er braucht.“ Aber mit der Mutter sprach sie sowieso kaum, indes sie den Vater, dem erotisches Aussehen völlig egal war, mit solchen Eitelkeiten nicht belästigen wollte.
Am unangenehmsten war, daß die Brüste, als sie so schlaff geworden, aus ihren Spitzen Sekrete abzusondern begannen, die Stilleinlagen nötig machten. Michaela ahnte durchaus, daß dieser Widerstand des Körpers ein Muttererbteil war. Sie nannte es den Saft: „Jetzt hab ich diesen Saft schon wieder!“ Stets vor dem Follikelsprung. Sie konnte den Kalender danach lesen. Einen halben Monat später rann das Blut. Argo-TS 387.
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Argo 270 <<<<

albannikolaiherbst - Samstag, 7. April 2012, 18:30- Rubrik: ARGO-ANDERSWELT
Argo-TS 393.Jetzt stand die junge Ungefugger im Entrée, das sie in Tausende kleiner und kleiner werdende Michaelas zerspiegelte, denen allen im Rücken noch Schulzes Blick haftete, und kramte das Handy aus dem Beutel. Sie schaltete es aus und begab sich, unablässig nach einer schlüssigen Begründung suchend, den nächsten Flur entlang, der zum Séance-Sälchen führte. Sie ging, kann man sagen, mit gesenkter Stirn. Hatte nicht Jason, als sie sich neulich begegnet waren, eine Zeichnung von ihr angefertigt? Mit welchem Recht? Da hatte sie nun ihren Grund. Sie ließ sich nicht in Besitz nehmen, auch nicht symbolisch – schon gar nicht symbolisch! Freilich wäre es ihr besonders unrecht gewesen, hätte er das Bild einfach fortgeworfen; Aber das gestand sie sich nicht ein. Immerhin hatte er es zerknüllt.
Sie würde er zurückfordern, und zwar auf der Stelle. Was für eine Anmaßung! Sie tobte im Innern. Klein sollte dieser Bursche werden, zu Kreuze kriechen vor den Leuten. Wer war er denn, der Rüpel? Und wer dagegen sie, die Tochter des Unsterblichen! So daß sie, als sie vor der Tür des Saales stand, geradezu rauchte. Sie klopfte nicht, sie lauschte nicht. Sie öffnete einen der Türflügel und stand in dem Raum. Ein einziger Blick erfaßte die peinliche Bizarrerie.
„Gleißnerin, unerforschte, dem Meer gleich...“, rezitierte brüchig, weil mit und in ziemlich sehr gehobener Stimme und Stimmung eine ältere Dame in Schottenrock und blaßroten Nylons, die den Umstand nicht eigentlich verbargen, wieviel Wasser sie in Unter- und Oberschenkeln hatte; dummerweise stand es im Kopf aber auch, trotz des deklamierten Goethes. Der schüttete sogar noch nach: die Verse, die oben wie Luftblasen ankamen, stiegen torkelnd durch Beine Bauch Brust Hals hinauf und zerploppten an der mächtig bewegten Oberfläche dieses Rezitativs. Denn wie zum Gesang hatte die alte Frau den rechten Arm ausgestreckt. Noch war da aber oben Platz unter der Schädeldecke, sonst hätte sie Kopfschmerzen gekriegt. Indes nicht mehr viel. Weshalb sie die Störung begrüßen hätte müssen, die ihren Vortrag unterbrach.
Dazu genügte völlig, daß Michaela erschien; sie mußte gar nichts tun. Man kann aber sagen, ihr Mund habe offengestanden. Denn sie sah zu allererst die wasserrot verdickten Beine in den halbhohen Gesundheitsschuhen. Was daran lag, daß die Präsidentengattin vor den gläsernen Türflügeln, die auf eine balkonierte Terrasse führten, ein Podest hatte als Bühne errichten lassen, von der herunterrezitiert werden mußte. Man gelangte über ein helles Holztreppchen hinauf. Davor, also darunter, waren die Stühle gereiht, auf denen die lyrisch Begeisterten saßen. Wollten sie nicht nur lauschen, sondern auch sehen, mußten sie ihre Köpfe in die Nacken legen.
Frau Ungefugger hatte ein gutes, wenn auch simples Gefühl für repräsentative Architektur. Deshalb war, treu der innenar-chitektonischen Idee einer Konjunktion aus Türflügeln und Terrassentürflügeln, mittig ein Gang freigelassen, der zielte aufs Podest, hinter wiederum dem in den hohen Rahmen der Scheiben der Jura den Prospekt gab. Jetzt, weil der Abend die Berge fast zur Gänze weggedunkelt hatte, umrahmten die an den Seiten von Putten belebten Leisten ein Schwarz, das den Saal reflektierte. Dadurch erstand das Gefühl nun erst recht, in einem kleinen Theater zu sein. Zumal sah, wer sich nun reckte, sich selbst auch, zumindest den eigenen Kopf.
Langsam ging Michaelas Blick, als verfolgte er den Weg der hinauftorkelnden Luftblasenwörter, über die Wasserbeine zum Schottenrock hoch, der einen fettigen Schamberg zwang, sich bescheidener zu geben, als er in Schatten und Unterstand war des ihn überwölbenden, plisséegezierten Bauches. Unnatürlich jugendlich stand dagegen, in zwei Trichterkörbe korsettiert, der Busen, der noch den Goethen an sich drückte. Unterm aufgebauschten Kragen, um den sich eine vier- oder fünffach gewundene Korallenkette legte, führte ein abstrus geschwollener Hals in das versunkene Kinn. Über dem, sperrangelweit, das noch immer geöffnete Mundloch. Dunkelroter Lippenstift. Blitzig ein drittes und viertes Gezähnt. Das Haar über dem breiten, weichen, eigentlich traurigen, wenn nicht trauernden Gesicht war von einem mitleidslosen Friseur hochtoupiert, die Krone des Gelocks violetten erloschen.
Als sie, die alte Dame, Michaelas Blicke auf sich spürte, fiel ihr vor lauter Hilflosigkeit die Achillëis von der Brust, die ausgerechnet Hera an sich gedrückt. Gerade noch sprach sie „... das dich erzeugt hat!“, indessen bereits ohne Ton. Die Frau war dumm, doch sensibel. Wie diese, empfand sie, reine junge Frau mit ihrem Lachen kämpfte, vor dem geöffneten Türflügel stehend und hinter sich eine endlose Gangflucht zur Realität, machte ihr in Sekunden die eigene Groteske klar. Einen verächtlicheren Blick als den der jungen Ungefugger hatte sie in ihrem Leben noch nicht zu spüren bekommen. Daß er gerechtfertigt war, machte ihn schlimm. Gerechtfertigtheit ist durchaus nicht immer gerecht.
Sämtliche Gedichte, die auf den Séancen je gesprochen worden waren, selbst die, die sie selber vorgetragen, hatten nicht vermocht, die alte Dame Tragik erfahren zu lassen: daß sie auf Bühnen gar niemals vorkommt, und wenn man sich zwanzigmal bedeutungsheischend daraufstellt. Sondern alleine im Leben. Das unterdrückte, dennoch glucksende Lachen Michaela Ungefuggers, nun, brachte es ihr bei. Plötzlich waren sie eines, Bühne und Leben, und man selbst, elend geschwollen, steht da oben als hilfloses Objekt, das sich den anderen, die's aber gar nicht bemerken, vorführt. Doch, eine, unerwartet, tut's. Und nackt steht man vor ihr, frierend in all seiner Lächerlichkeit.
Argo 271 <<<<

albannikolaiherbst - Mittwoch, 11. April 2012, 09:48- Rubrik: ARGO-ANDERSWELT
  Argo-TS 400 mit Ergänzungen.
Nun Balthus also, nun Sheik Jessin. Die Grundstückskäufe im Osten und immer tiefer in den Osten bis an die Beskiden heran, in denen der vorgeblich zweite Odysseus bis lange nach Nullgrund verschanzt war. Der Schwarze Staub von Paschtu. Jetzt in ein Nirgendwo entflohn, das wie Blinde die europäischen Truppen durchkämmten. Wenn es Odysseus denn überhaupt gab und der Nullgrund nicht nichts als das ungeheuerlichste Ablenkungsmanöver gewesen war. Die geplante Denaturalisierung Stuttgarts, die der Präsident zu realisieren dabeiwar, gab der Vermutung ein furchtbares Recht. Wenn wiederum der Wölfin Informationen stimmten.
Goltz schoß das Silberstein in den Kopf und seine Unterhaltung mit Aissa und wieder und wieder die točnásche Nacht des Achäers. Die Amazonen, der Freischärler Brem. Sie hatten ihm noch in den Arm fallen wollen, doch wieselflink der lederne, geölte Mann. Glitschig wie ein Fisch. Alles, was er zurückließ, war ein bißchen ergrautes Haar, das hatte Thisea zu fassen gekriegt. Bis heute roch es betörend nach Parfumerie. Rückwärts krachte Thisea. Da war dem Achäer das Messer schon quer durch die spritzende Kehle gefahren. Die Pfeile der Amazonen trafen nur noch den Hänger, fielen ermattet zu Boden, sie und die Kugeln, die ebenfalls nicht trafen. Auch Goltz schoß. Auch seine Kugeln gingen ins Leere. Der Schlächter, als wäre er nichts als ein Phantom gewesen, ein Schnitter der Luft, war verschwunden. Blieb es, spurlos; fast wie der zweite Odysseus. Nur daß sich Brem nicht im Netz inszenierte, anders als fünf Jahre später dieser schwarzgebartete Spartakus der Rechtgläubigkeit. Die Amazonen jedenfalls, am Tag darauf, die aus den Frauenstädten, durchwitterten die Gegend vergeblich.
Nie hatte Goltz das Gesicht vergessen, Brems, nicht die schartige Hauterhebung unterm schrägen Tränensack, nicht die von winzigen Fältchen gekerbte Nase, schon gar nicht den Blick. Er hatte damals nicht mitsuchen können, so dringend hatte er aus dem Osten wieder hinausgemußt. Doch hatte auch nicht im Westen - nicht, als er heil in Koblenz zurückwar, und nicht danach - nach dem Mörder fahnden lassen. Weshalb? Es war mit den KaliTräumen noch gar nicht losgegangen. Die waren erst später gekommen. Er hatte den Osten vergessen wollen. Nichts von dem sollte bleiben, nichts, rein gar nichts in ihm. So reinlich war er gewesen, so strukturiert und so klar. Und später, wenn es schon nachts diese Träume gab, die ihm die wenige Zeit zerfieberten, die ihm zum Schlafen blieb, den Mörder einfach vergessen. Vergessen? - Goltz, bittrig, lachte auf. Da stand sein Instinkt auf dem Schreibtisch. Höhnisch begann er, ein Kobold, zu keckern. Doch war das er selbst. Ungefuggers DNS, die Probe – ach, deshalb war es, sein Unbewußtes, wieder darauf gekommen. Es gab keinen anderen Grund.
Goltz wischte den Kobold vom Tisch. Dem Griff zum Telefon stand er im Weg, wollte sich indessen halten, erwischte das Glas Pfefferminztee, kreischte, weil's ihm die Finger verbrühte, als das Glas kippelte, umfiel. Und sich ergoß: über die Dokumente, Kommunikationselektronik, Stifte, Karten. Alles ging viel zu schnell, als daß Goltz hätte eingreifen können. Was er auch nicht wollte. Denn die dampfende Teeflut riß den Kobold mit sich, der schrie und mit den Ärmchen fuchtelte, bevor er gegart war; sein Leichnam ging den Wasserfall ab, von der Schreibtischkante herunter zu Boden, und verpfützte. Dann gab es einen flachen, elektrischen Knall, ob von Goltzens Rechter, die, während er links schon den Hörer hielt, auf die Platte geschlagen hatte, ob im Computer, ob vom gesottenen Kobold.
„Verbinden Sie mich mit Beutlin...“
Er hatte den kurzen Satz kaum begonnen, längst wieder beherrscht, da löste sich von dem geschmorten Koboldkadaver ein Rauch, der spirrig und ungefähr aufstieg. Goltz registrierte das im Augenwinkel.
„...gesicherte Verbindung, ja... -“
Es ballte der Rauch sich im Raum.
„Und ist noch eine Putzkraft im Haus? Schicken Sie sie her.“
Die wolkenartige Ballung wurde Gesicht. Das schwebte dampfen und rötete sich, halb von Achäerblut verschmiert. Um besser sehen zu können, wischte es sich der Söldner mit dem Ärmel des Armes ab, an dessen Wurzel die Hand, die das Messer umschloß. Das zeigte aber nicht der Dampf. Sondern das war reale Erinnerung.
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Argo 272 <<<<

albannikolaiherbst - Donnerstag, 12. April 2012, 19:13- Rubrik: ARGO-ANDERSWELT
 (...)Off:
Bequeme Sessel zählten zur Einrichtung, und Fresken, die die Saiten des Heimwehs strichen, zierten die Wände.
Darüber O-Ton: Straßenszene. Den Spaziergang machen und aufnehmen! Dazu Sprecher (Erzähler):
Ein Spaziergang in Berlin-Mitte. Unter den Linden. Staatsoper. Gegenüber die Käthe-Kollwitz-Wache Bebelplatz und Humbold-Universität. Hoch auf dem Sockel Rauchs Alter Fritz auf dem Pferd, in der Bronze frisch restauriert. Schon die Showrooms von Bentley Rolls Royce. Gegenüber das The Westin Grand. Dann - wir biegen in die südliche Friedrichstraße - einmal ums Karrée, das nicht sündliche, leider, und nochmal links bis zum Gendamenmarkt. Diagonal darüber auf das SERG zu, die „Stiftung für elektronische Reizung des Gehirns“, worin mit dem Persönlichkeitsaustausch, heißt es, experimentiert wird. Milieusimulator. Simulektronik. Ein Ableger Max Plancks: Tochter-Institut.
Es handelte sich um eine Institution, die die Interessen von allem und allen vertrat, überall, durch alle Zeiten, durch allen Raum. (…) In der Abteilung „Sicherheit“ checkte Hawthorn gerade die Leute von der Nachtschicht ab. Viele der Männer waren noch nicht voll in das Geheimnis der Stiftung eingeweiht. Das einzige, was sie wußten, war, daß ihre Aufgabe darin bestand, unauffälligen Schutz für eine wichtige Person zu schaffen und aufrechtzuerhalten. Irgendwann später würden sie die volle Wahrheit erfahren. Und von da an würden sie nur noch zwei Dinge kennen: Furcht und Schrecken.
Er hatte nichts als eine leere Stille im Krankenzimmer hinterlassen, gestört allein von raschelnden Vorhängen, die in der Brise vom Golf die Muster des Sonnenlichts am Boden tanzen ließen.
aus dem Off darüber (O-Ton hörbar gedimmt):
Die Vorhänge der Wirklichkeit. Ein phantastisches Hörstück über das Werk Daniel Francis Galuoyes. Von Alban Nikolai Herbst.
O-Ton wieder aufdimmen.
Die hohen Scheiben locken, rechts und links daneben Cafés, gegenüber, uns im Rücken, das Konzerthaus. Erste Stühle und Tische stehen schon draußen, wie wir im Vorbeigehen sahen. Von der nahen Lappenschleuse ahnen die Touristen nichts.
Off:
Er tritt ein.
O-Ton: das Innere des Showrooms. Begrüßung und Frage der Hostess: „Was wünschen Sie?“ Je nachdem. Aufnahme machen.
Selbstverständlich wird die junge Dame (beschreiben!) nicht konkret, sondern erzählt nur allgemein, an was hier gearbeitet wird. Etwa, daß in einer künstlichen Computerwelt, die sehr an Second World erinnert, aber deren Geschöpfe sich als richtige Menschen fühlen, sowohl Marktumfragen durchgeführt wie Krisenszenarien inszeniert würden, deren wichtigstes, sagt sie, derzeit die globale Erderwämung sei. In einer der Welten stehe bereits Hamburg unter Wasser. Ja, das sei öffentlich, man könne sich das auf dem Screen ansehen, der die Daten des Rechners in Bilder übersetze – ein wenig, sagt sie, seien die noch ruckhaft: wie zu Anfang des Kinos,
Aber das ist lustig, wenn die ertrinken.
Zwar farbig, doch noch ohne Ton.
Wir arbeiten daran. - Wenn Sie mir jetzt bitte folgen möchten?
Unterdessen haben sich genügend Schauwillige, darunter auch hereinverirrte Touristen, zusammengefunden. Einzelführungen gibt es nicht. Oder nur dann, denke ich mir, wenn jemand gute Beziehungen hat. Ich möchte aber schon nicht, daß man mitbekommt, wie ich hier akustisch spioniere.
Wir sind mittlerweile zu genauen Prognosen fähig, wann der Katastrophenfall für welche Stadt der Ebene eintreten wird.
Sie nutzen den Rechner auch für demoskopische Zwecke?
Sie räuspert sich - jedenfalls gibt sie keine Antwort.
Im Parteienauftrag?
Ich insistiere besser nicht. Wir kommen an einer Reihe verschlossener Türen vorbei. Es ist vollkommen still, einzig wir Besucher sprechen, doch auch dies nur gedämpft. Ein wenig kommt man sich wie in einer Kirche vor, jedenfalls einem geheiligten Raum. Keinem von uns, das ist zu spüren, ist das angenehm, auch der jungen Dame nicht, die uns führt und immer mal wieder versucht, einen Witz zu plazieren oder sonst etwas zu sagen, daß der Situation die Schwere nimmt.
Sie sind sich sicher, daß es draußen noch die Welt gibt?
Sollen Angebot und Nachfrage [“, antwortet sie, „]während der kosmischen Expansion ausgeglichen bleiben, dann müssen neu entdeckte Kulturen in den Produktionsprozeß mit eingegliedert werden. (...)
>>>> Galouye 3
Galouye 2 <<<<

albannikolaiherbst - Freitag, 13. April 2012, 10:20- Rubrik: HOERSTUECKE
when perception is abundant
and speech so insufficient
the moment is approaching
to promise everything.
findeiss - Samstag, 14. April 2012, 23:45- Rubrik:
 Schöpfung & Kultur.
Täler erkennen in den Bergen.
Darunter Seen, vielleicht.
Ein Satellitenfoto.
albannikolaiherbst - Samstag, 14. April 2012, 08:47- Rubrik: LexikonDerPoetik
Aus seinem Bau, um den herum er mit Schonung fraß, stöberte das bayrische Heer den Bastard von Mansfeld. Von da strömte ihm, wegweisend, pestilenzialischer Geruch entgegen. Eine Seuche war in den Lagern der Beidhaus ausgebrochen, hatte sich mit Werbern Furien Streifkorps beutemachenden Tummlern blitzartig durch die Wälder und Berge verbreitet, zuckte unter Bauern und Knechte, gepanzerte Kürisser Musketenträger. Aus den Tümpeln stieg die Brut der Mücken und Stechfliegen. Unter der schilfdurchstochenen Oberfläche der Wasser, dicht am Spiegel, hingen die Millionen Larven wie herrenlose Naturtrümmer, gleichmäßig Luft saugend durch ihre kleinen Atemröhren. Dick schwoll ihr Kopf an, hob sich über den Spiegel, die Schale zitterte, knisterte, spannte sich, riß über der Schläfe, seitlich; langsam drängte sich das lange, junge Gebilde durch, eingelegt Fühler Glieder Flügel, rastete, sich spreizend, auf einem Blatt der Wasserlinse, hing flügelspannend großbeinig an einer Schilfscheide. Surrte in der Dämmerung aus. Die Luft mit Zirpen und feinem hohen Singen durchadernd. Spürsame suchende Mücke mit schwankendem Ringelleib, vor sich zwischen hauchartigen Fühlern gerade ausgestemmt den langen Stechrüssel, der wie ein Spieß steif auf dem Köpfchen wuchs, vor dem Prellbock des klobigen Brustwürfels. Das trug sich tausendfach, zehntausendfach, millionenfach durch die Abendluft mit gläsernen Flügelchen. Setzte sich an den Mund, an die Stirn, auf die Hand, die >>>> ein Brot brach, an den Hals, zwischen den geschnittenen Bart des Kornetts und Rittmeisters und die venezianischen Kragen. Riß sich einer, vom Pferde springend, schweißbegossen das Wams auf, kühle Luft gegen nasse Brust gehen zu lassen, so krallte sich das kleine Flügelwesen ungesehen an die warme Haut, sog ein Tröpfchen Blut, speichelte im Biß ein Tröpfchen Gift ein. Dann konnten die Soldaten auf ihre Jagd gehen, die Leute an Torsäulen und Brunnen aufhenken, das Vieh forttreiben, gewaltig prassen -, inzwischen liefen die Fieber durch ihre Körper, Abend um Abend, verwandelten ihr Blut in einen tropischen Sumpf, Kornetts mochten brüllen, den sauren Wein dieses Jahres in Kannen schlucken, gefahrdrohend auf ihren Gäulen vor hundert Mann durch die stillen schornsteindampfenden Dörfer segeln, Leder vor der Brust, dichtmachende Papiere um den Hals, breitbackig und heiß auf den übersättigten Tieren: es vibrierte in den Knien, der Koller mußte herunter, die Waden waren schwach, vor den Augen flimmerten Regenbogen; das Frieren und Zähneklappern fing an, die Nacht lag man im Heu, im Bett, drohte heiser, als wäre nichts, und tags darauf war man schwächer, von Ritt zu Ritt gespenstischer. Und das fiel über die Obersten, die Pikeniere wie über die Huren und ihre Weibel. Die Seuche tötete nicht viele. Wen sie befiel, den machte sie schwach und noch rasender, als er schon war. Wer starb, verweste, wo er fiel. Gelb, schwach lachend ging man umeinander in der Hitze.
>>>> S. 92/93.<  >>>> Wallenstein 2
albannikolaiherbst - Samstag, 14. April 2012, 08:39- Rubrik: Texte
Argo-Ergänzungsseite zu 438
So daß Kumani wie das Greenhorn, das er war, ausgequetscht wurde. Ellie Hertzfelds Geheimnis behielt er aber für sich, doch nannte ihren Namen, weshalb ihm Willis, mit einem Mal heftig, über den Mund fuhr: „Na-willst du?!!“ Er mochte die hohe Prostituierte, schon immer, bewunderte sie sogar ein wenig - wie jemanden Unerreichbares; dabei hätte er für sie das Geld schon gehabt. Doch er mochte sie nicht kaufen, bzw. mieten, blieb lieber von Zeit zu Zeit ihr Fahrer. Sie rief ja immer ihn, wenn sie einen brauchte. Auch das mochte er nicht gefährden. Was er nun aber gar nicht ertragen hätte, wäre eine üble Nachrede gewesen über sie, schon gar nicht im SANGUE. Da kam ihm bereits die Nennung ihres Namens, in diesem Pfuhl, blasphemisch vor.
Aber die beiden Trinker hatten aufgemerkt, Broglier eines plötzlichen Mitleids wegen, das allerdings, sich identifizierend, ihn selber meinte, Kignčrs aber wegen des ungewöhnlichen Namens. „Wie heißt sie?“ fragte er, und sein rot Verschwiemtes, selbst sein Lallen schienen momenthaft zu schwinden, wenigstens zur Folie eingeflacht zu sein, auf dem sein Interesse flackerte. „Wie“, wiederholte er, „heißt sie?“ „Deidameia.... eigentlich ja Ellie, aber...“ „Junge!“ So abermals Willis. Kumani sah jetzt ihn an: „Aber du kennst sie doch.“ Ja eben. Erklärend, Willis, zu Kignčrs und Broglier: „Er meint das Boudoir.“ Kignčrs kannte kein Boudoir, doch Deidameia, das hatte er schon einmal gehört - nicht aber hier, nicht in Colón, nicht in Palermo, sondern früher, im Osten, zweidreimal während des Kriegs, als Oberst Skamanders Eliten gegen die Frauenstädte operierten, deren Widerstand nicht nur dem AUFBAU OST! im Weg stand, sondern es gab Indizien dafür, daß in ihnen die Myrmidonen an der Waffe ausgebildet wurden, bevor man sie als Schläfer in den Westen schickte. Da war, irgendwann, dieser mythische Name gefallen. Die Frauen hießen dort alle so griechisch, jedenfalls hochtrabend wie aus Sagen, doch Deidameia, offenbar, war in Kignčrs vielleicht haften geblieben, weil die befragten Frauen solch eine Achtung in den Stimmen gehabt hatten, nicht nur Respekt, sondern auch Liebe. - Von ‚Befragung‘ zu sprechen, ist selbstverständlich euphemistisch. In Skamanders Lagern nahm man den gefangenen Frauen die Würde. Stundenlang standen sie nackt, mußten sich, auf eine Kiste gestellt, vor den Augen der Söldner entleeren. Man ließ sie ihre Tampons kauen, schlucken, zerbrach sie in Abu Ghuraib. Dann redeten die meisten. Dort war dieser Name gefallen, Kignčrs erinnerte sich. „Deidameia?“ fragte er. Es war furchtbar gewesen, er hatte nur noch davongewollt, zurück an die furchtbare Front. - Abu Ghuraib hatte er sich nie verziehen, nicht, daß er nicht aufgestanden war. Daß er gehorcht hatte. Abu Ghuraib hatte nicht nur die Frauen gebrochen, sondern sie, die Söldner, genau so.
Willis, in dem was alarmiert war, beschwichtigte: „Ellie is ne Nette.“ „... sie nennt sich nur Deidameia“, setzte Kumani seinen Satz fort. Außerdem hatte er gemerkt, daß er vielleicht doch schon zu viel erzählt hatte, unversehens und ohne Absicht ihr Verräter würde. „Das ist sowas wie ein Traum“, sagte er, „um sich eine Bedeutung zu geben.“ Aber er saß zwischen den drei Männern wie ein Junge da, der sich verplappert hat, ausgesetzt dem zunehmend wachen Blick Kignčrs‘, einem indes, seltsam, der nicht forschte, nein, nicht ‚befragte‘, sondern aus all dem Schlamm, faulendem, getrocknetem, in den er ersäuft war, löste sich etwas, schälte sich heraus und stieg auf, das das Glimmen einer Hoffnung hatte, die wir längst nicht mehr haben; ausgerechnet in einem Moment kehrt sie zu uns zurück, der sie für immer ausgelöscht hatte. Wie wir glaubten. Da geht sie auf als ein Licht. Es war rein unnötig, es zu beschatten, um die freundliche Prostituierte zu schützen: so, wie Willis sich zwischen sie und das Licht schob, um Kignčrs‘ vermeintlich bohrenden Blicke von ihr abzuhalten. Der alte Söldner hatte vielmehr das Bedürfnis und den Willen, etwas wieder gutzumachen. Nur war er sich dessen nicht bewußt; alles lief ohne Sprache in ihm ab und formierte sich ganz am Grund des Tümpels, zu dem der Alkohol und die Verzweiflung seine Seele hatten werden lassen.
Wiederum Broglier, anders als sein Saufkumpan, fing zu verstehen an, daß Kumani einer war, der das Zeug zum nächsten Leidgenossen hatte. Noch einer, dachte er, dem sein Leben bald das ihm Liebstes nähme. Deshalb wurde er jetzt ein bißchen weniger abweisend und begann, sich ebenfalls dafür zu interessieren, was diesen schönen jungen Mann sich offenbar mißbraucht vorkommen ließ. Indessen Willis, den Dollys II wegen das schlechte Gewissen weiterquälte, die er doch nur ebenso hatte vor weiterem Leid bewahren wollen, wie den Freund von ihm erlösen, seinen kompakten Leib vor Ellie Hertzfeld gepflanzt hielt, sie, die Abwesende, im Rücken, das Gesicht dem Söldner zugewendet, so trotzig entschlossen, sie vor ihm abzuschirmen. Er breitete sogar die Arme aus.
„Du kennst sie?“ fragte ihn Broglier.
Er habe sie ein paarmal gefahren.
„Wo ist denn dieses Boudoir?“ fragte Kignčrs. Er sähe sich das gerne einmal an. Argo-Ergänzungsseite zu 439
albannikolaiherbst - Freitag, 20. April 2012, 11:22- Rubrik: ARGO-ANDERSWELT
Haben die Künste auch. Sie spreizen sich nicht, sondern geben sich hin. Nachdem sie uns gefordert haben zu ihrer eigenen Satisfaktion.
Was sich andient, ist keine Kunst.
(DXXVII).
albannikolaiherbst - Montag, 23. April 2012, 15:31- Rubrik: Paralipomena
Der Kaplan rief: „Maria!“ Tilly sah entsetzt, wie er die Lippen bewegte.
Furchtbare Hammerhiebe aus den Wolken. Mit jedem Hieb zuckte er zusammen. Den Atem benehmend; er war der Amboß. Was sagte der Kaplan. Er mußte wissen, was der Kaplan sagte.
Dumpf wetternd, zermalmend, niederklafternd.
Niederklafternd.
Zusammengezogen lag er, auf die Seite gestoßen.
Verröchelte, die Arme schützend vor der Brust.
Da löste sich das Gespensterheer von dem warmen blutsickernden kleinen Körper. Zappelnde Rümpfe der gemetzelten Türken Franzosen Pfälzer, die jaulenden hängenden zertetenen Hunde, kletternden Pferde, die mit den Hufen an sich hielten. Zwischen ihnen gezogen matt, noch naß, seine eigene erstickte Seele.
Verknäult flogen sie, unaufhörlich rufend, durch die verschneite Luft, ihrem dunklen Ort zu.
Alfred Döblin, Wallenstein >>>> S. 571.< 
Wallenstein 1 <<<<
albannikolaiherbst - Dienstag, 24. April 2012, 22:19- Rubrik: Texte
 Argo-TS 452.
albannikolaiherbst - Dienstag, 24. April 2012, 11:36- Rubrik: ARGO-ANDERSWELT
[Arbeitswohnung. Sundowner: Ardbeg Alligator.]
Morgens in Mitte. Viel ruhiger als erwartet im Aufnahmeort; die Tür zum Gendarmenmarkt stand auf, so daß aber Verkehrslärm in den Showroom fest beherrschend eindrang. Ich nahm dennoch Töne, etwa zwanzig Minuten am Stück, die ich später geschnitten unterlegen werde.  Kurze Absprache mit der jungen Frau am Empfang; auch davon könnte einiges verwendbar sein. Bislang habe ich die Aufnahmen nicht abgehört, nur mal reingehört. - Eigentlich war die Idee, daß sehr viele Besucher anwesend sind, während wir, also sie, Barrientos, die Szene sprechen/spricht; es blieb aber fast leer. Dreivier Leute tröpfelten rein, dazu im Hintergrund das hohle Rauschen und bisweilen eine Avatarstimme, die Installationen erklärt. Die kam mir sehr zupaß.
Vierfünfmal alle Passagen gesprochen, schließlich auch laut und ungewzungen. Vorher hatte mich die „Wachhabende“ angesprochen, gefragt, was ich vorhätte, um eine Kopie des Hörstücks gebeten. Klar, bekommt sie. Nebenan das moderne GlasStahlGebäude der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften; es führt eine kleine Tür von Max Planck dort hinein: mehrfach ihr Öffnen und Schließen auf Band, auch jemanden, die die Treppe hinaufgeht.  Alles, sehr wahrscheinlich, brauchbar.
Auch Außenaufnahmen gemacht.
Man wird jemand anderes, wenn man nicht nicht nur, aber vorwiegend über die Ohren wahrnimmt: der sonst lästigste Lärm wird Errlebnis, bekommt Fülle, Tiefe, Geheimnisse auch. Ich bin dann ein bißchen autistisch; ein sehr ähnliches Grundgefühl, wie ich es letztes Jahr beim Tauchen hatte, unter Wasser. Es läßt sich auch nicht eigentlich mit anderen kommunizieren, weil man keine willentliche Störung in die Hörerlebnisse bringen will.
Nachdem Barrientos fort war, noch einmal ums Karree geschritten, Behrensstraße, Friedrichstraße, Unter den Linden. Auch das aufgenommen. Was ich erreichen will, ist, die hohe Künstlichkeit in Dokumentation zu verankern, so daß das ganze Stücke stark realistisch akzentuiert ist; da ist besonders für ein Sujet reizvoll, das auch dann nach wie vor als „Science Fiction“ gilt, wenn vieles von dem, was Galouyes Literatur erzählt, beinah schon Wirklichkeit geworden ist. Erkenntnistheoretisch spannend dabei ist die auch in anderer Science Fiction zu erkennende Renaissance des Platonismus: die Idee als das Wirkliche realisiert sich im Primat des Beswußtseins anstelle eines der materiellen Objektivität.
Nachmittags kam Broßmann, um seinen Part durchzusprechen. Ich ließ ihn und meinen Jungen wechselsprechen, das funktionierte so làlà. Wir zogen dann ins Beaker‘s runter, während mein Sohn Cello übte. „Wie lege ich dieses an, wie lege ich jenes an?“ Dort sachlich, Nachrichtensprecher, hier szenisch, spielen, „sei aufgeregter, ergriffener“. Daß man, was ich mit diesem Stück wieder schaffe, ein „Feature“ nicht eigentlich mehr nennen kann, ist klar. Es ist aber auch kein Hörspiel, sondern bewegt sich ständig an den Grenzen der Kategorien; soll aber spanend sein. Mal sehen.
Mit wurde über den Tag auch das Verfahren deutlich, das ich für die Klanggestaltung anwenden will. Also: Der Text wird in richtiger Reihenfolge montiert, als Tondatei. Dann höre ich ihn ab, und setze mich ans Cello dabei. Während er läuft, improvisiere ich vor dem Mikrophon auf dem Instrument. Die Wavedatei wird dann unter die Sprechermontage gelegt, ein nächstes Mal wird gemischt; wieder geht die Datei in den Player, wird wieder gespielt, während ich nun aber das Akkordeon nehme. In Echtzeit lege ich auch diese so entstandene Tondatei unter die Montage. Jetzt wähle ich, was als Klang gut ist und fülle nachher mit immer neuen Cello-/Akkordeongängen Leerstellen auf. Das Akkordeon wird mir vor allem für die Herstellung von Raum dienen, untere Register, denke ich mal, besonders. Noch, denke ich, geht es nicht um Musik. Die wird es erst in einem späteren Hörstück werden.
Morgen die professionellen Aufnahmen im ARD-Hauptstadtstudio. Danach werden mir nur noch paar Einzelstimmen fehlen, Zufallsstimmen, die ich, wie >>>> im Ricarda-Junge-Hörstück, wo das aber das tragende Prinzip war, irgendwelche Menschen sprechen lasse, denen ich auf der Straße, im Café oder sonstwo begegne, vielleicht auch morgen in der ARD-direkt. Das sind Sekundentakes, nicht mehr.
Und ich muß einmal aufs Pissoir, pinkeln, Hände waschen, die Türen dazu. Gehört ins Stück. Meine Idee ist, daß all sowas den Realismus verstärkt. Theorie: Der ästhetische Realismus ist kein Realismus, sondern ganz besonders hergestellt. Diese Kritik läuft unter all meinen Arbeiten immer mit. Es ist eine am Dokument-selbst. Nach wie vor.
[Poetologie.]
Galouye 3 <<<<

albannikolaiherbst - Freitag, 27. April 2012, 19:28- Rubrik: HOERSTUECKE
“Weißt du, Kind, was Jesus gesagt hat. Du mußt es dir merken. ‚Weide die Schafe‘; er hat es zu Petrus gesagt. Ist ein Schaf ein vernünftiges Tier? Das mußt du dich fragen. Ein großer Mann, der unserer gesegneten Gesellschaft angehörte, hat viel darüber nachgedacht. Jesus hat nichts von sich gegeben, as belanglos wäre. Die Schafe sind unvernünftige Tiere, sie sind vielleicht die unvernünftigsten. Sie haben Triebe und Begierden und weiter nichts. Du siehst, wie Jesus von den Menschen gedacht hat und welche Aufgabe er der Heiligen Kirche zuerteilte. Wir sollen sie führen und weiden, wir wollen wissen, wen wir vor uns haben; wir sollen also keine Leithammel sein. Petrus nahm den Hirtenstab und übte das Hirtenamt. Weißt du, mein Kind, wer wohl als Leithammel zu betrachten ist?“ „Nein, Ehrwürden.“ „Nun“, er flüsterte, „wir sind ja nicht weit vom Schuß. Es sind die Fürsten, Könige und Kaiser. Sie sind der Kirche danach untertan, ja eigentlich ihr Eigentum; denn was kann der Herde besser geschehen, als daß der sachkundige Hirt sie besitzt. Aber es ist eine Verwirrung eingetreten, die Gewalt triumphiert; kaum daß sich unser Heiliger Vater in seinem Leben gegen die wildgewordenen Lämmer behaupten kann. Ach, wir haben noch viel Arbeit vor uns, mein Kind. Frei dich deiner jungen Knochen.“
Als der Alte seufzte, meinte der andre leise: „Lange bleibt der Kaiser aus.“ „Wir werden warten“, seufzte der Alte. Nach einer Weile: „Ein sonderbarer Schlag Mensch, ein Fürst. Sie sind etwas für sich. Das Volk spürt es. Als Priester wirst du deine besondere Meinung über sie haben, Kind. Sie sind fast die schlimmsten der Unvernünftigen. Es ist gewiß, daß die Menschen von Natur frei sind. Ist ja doch jedes Lamm und Schaf, jeder Hund frei; er kann laufen, wohin er will. Und der Hirsch, die Wanze, der Floh. Warum nicht der Mensch? Frei bleibt der Hirsch aber nur, solange es keinen - Jäger gibt. Eine Muskete überredet den Hirsch, seine Freiheit aufzugeben, eine Muskete hat große Überzeugungskraft. Was die Könige Herzöge und Grafen in ihren Ländern tun, ist von dieser Art. Das wirst du einsehen. Wenn ich einen Hirsch einsperre, so übe ich damit kein Recht, sondern eine große Geschicklichkeit.“ „Warum läßt Gott dies zu?“ „Du bist nicht töricht, mein Kind. Gott ist noch nicht an der Reihe. Weil die Fürsten die Gewalt haben, glauben sie die Vernunft, den göttlichen Gedanken entbehren zu können. Niemand ist so Verwirrungen ausgesetzt wie ein Fürst. Sie verlieren den Boden unter ihren Füßen und rennen ins Leere. Ihre Völker können sie mit sich ziehen. Wir müssen uns der Fürsten bemächtigen, und wenn uns das nicht gelingt, der Völker. Wir dürfen nicht nachgeben und vor nichts zurückschrecken. Nur die Heilige Kirche wird die Menschheit von dem Abgrund zurückhalten.“
Vor einem hohen Wandbild blieben sie verschnaufend stehen; auf dem Schoß der blaumanteligen Jungfrau spielte das Kind mit einem goldenen Buch. Sie stockerten weiter. Der Alte wies rückwärts mit dem Daumen auf das Bild: „Das Buch. Das Buch. Damit glauben nun unsre Schäflein zu haben, was sie brauchen. Jetzt sind sie die Herren. Wer lesen kann, hat Zugang zu Gott.“ „Das ist ja Ketzerei.“ „Nun, hast du einmal nachgedacht darüber, wer schuld ist an der Ketzerei? Luther? Huß? Ei was. Sie sind Betrogene. Es sind alberne flache Köpfe; es reicht bei ihnen nicht zu einem Betrug. Das Buch. Was war Sünde, uns ist es längst klar, die Schrift Laien preiszugeben, sie überhaupt schreiben zu lehren. Die heiligen Worte heilig zu halten, wäre wichtiger als alles andere gewesen. Die heiligen Worte hätten von Papst zu Papst mündlich überliefert werden müssen, und niemand hätte von ihnen hören dürfen, als die der Papst heranzog. Von diesem Baum der Erkenntnis können einfache Menschen nicht essen.Nun ist das Unheil geschehen, und was ist die Folge? Die Massenketzerei. Sie fußen auf der Bibel. Hast du das einmal gehört von den Prädikanten: auf der Bibel? Diesen Tonfall? Das klingt so stolz, als wenn einer sagt: das hat Lamez gelehrt, das hat Vitelleschi gefordert. Sie können, mein Sohn, ebenso sagen, sie fußen auf der Natur, der Tierwelt, den Sternen, auf den Kristallen, den Meerfischen, dem Schindanger. Denn was ist gesagt mit: Bibel? Ein Manuskript voll von Sätzen, von Silben, Buchstaben, Schriftzeichen, hebräisch griechisch lateinisch. Meine Augen gleiten darüber hinweg, ich finde dieses Wort, jenes, zähle zusammen l-o-g-o-s, es gehört schon ein Entschluß dazu, logos zu sagen. Ich steige, kaum ich meine Augen bewege, ins Geistige - die geschriebene Bibel verschwindet. Mein Geist herrscht.“ „Ehrwürden hält nichts von der Heiligen Schrift?“ „Die Heilige Schrift nichts? Freilich. Wenn du stark bist und nicht erschrickst, Kind: sie ist in gewisser Hinsicht nichts.“ „In gewisser Hinsicht?“ „Eine Papiersammlung, ha, du brauchst nur einen Indianer fragen, ob ich nicht recht habe. Jeder Vogel wird es dir bestätigen. Male die Buchstaben der Bibel auf eine Sammlung Lebkuchen, gieße sie mit weißem Zucker genau nach dem Urtext; du wirst eine Kuh als natürliche Autorität hinzuziehen - sie soll dir sagen, ob das die Bibel oder Lebkuchen ist. Sie frißt das ganze Paket auf und du darfst dann kein Wunder von dem Tierdarm erwarten; was die Kuh später von sich gibt, ist ein Kuhfladen wie jeder andere. Verzeih - ja, du lachst, Kind - ich will nur sagen, diese lutherische Kuh hat brav gehandelt, aber sie ist auch trotz des lutherischen Bekenntnisses unsre gute Kuh geblieben.“ „Ich verstehe.“ „Und machen wir erst diesen Schritt, so machen wir alle. Dieser Buchstabenglaube, sag ich dir, ist ein Rückfall ins Judentum. Weh dem, der glaubt, weil er zwei Füße hat, er könne auch alleine aufstehen. Unser Glaube hat Freiheit, der Heilige Geist hat die Evangelien diktiert, er ist mit dem Papst. Nur mit dem Heiligen Geist ist die Freiheit. Wir werden ernstlich einmal darangehen müssen, der Kirche und dem Papst die Bibel wieder zu erobern; wir müssen die Schafe vor dem Wahnsinn und dem Tod schützen.“
Gänge, Türen, Treppen,. Sie stiegen ernst über die Holzdiele. Hinter den Fenstern des Erdgeschosses saßen sie, blickten in den Wald hinaus. Sie warteten, Ein Diener brachte ein niedriges Tischchen mit Äpfeln und Zuckerwasser. Der Novize öffnete vor dem Priester ein Fenster. Erfrischende Luftströme.
Alfred Döblin, Wallenstein >>>> S. 695 ff.< 
Wallenstein 2 <<<<
albannikolaiherbst - Freitag, 27. April 2012, 06:56- Rubrik: Texte
Die Jungs waren pünktlich hier, meiner sogar einen Tuck früher als Broßmann; ich meinerseits hatte Argo >>>> für heute abgeschlossen und statt zu frühstücken in der Hack-Zentrifuge mir einen halben, fast dreiviertel Liter Milchshake mit einer halben frischen Ananas bereitet und getrunken, am Küchenfenster stehend, hinab auf den zweiten Hinterhof schauend, wo der Flieder zun blühen beginnt. Im Kopf die Szenen noch einmal durchgegangen, dann ging schon die Tür, „zieh gar nicht erst die Schuhe aus, wir radeln gleich los, Sascha steht ganz bestimmt bereits unten.“ So auch war‘s.
Über die Stragarder angeschrägt in die Schönhauser, schon rechts die Kastanie hinab bis zur Tor; darauf; linke Fahrspur gleich und quer durchs hintere Mitte, ganz entlang die Alexanderstraße der neuen Galerien, die oben auf die Oranieburger trifft, und links ab in die untere Friedrichstraße, die dort einmal wild gewesen, unterdessen gezähmt ist. Der Bahnhof schon in Sicht. Über der Brücke gleich rechts die Spree entlang. Und wer geht da, elegant, und zieht den Handkoffer hinter sich. Chohan, schon bereit für eine Wochenendreise; gleich nach der Aufnahme will sie aufbrechen, tut‘s dann auch.
Wir sind ein wenig früh und sitzen noch etwas in der Sonne.
Dann pünktlich ins Studio.
Ein neues Gesicht. Mit vielen Toningenieuren und Technikern habe ich hier schon gearbeitet, mit René Bosem noch nicht. Eine Kulturjournalisten muß noch schnell Bilder, ihrer Tondatei hinterher, an den Südwestfunk Baden Baden senden, „‘tschuldigung, ich brauche die Zeit bis zehn“. „Lassen Sie sich nicht hetzen.“ Aber zur Strafe muß sie mir einen der Sätze ins Band sprechen, die ich von den insgesamt dreizehn „Zufalls“stimmen noch brauche; auch Bosem ist später dran, entweicht mir genau so wenig, wie unten am Eingang Pförtnerin und Pförtner. *******Zuerst soll der Junge einmal ganz seine Parts einsprechen.  Für ihn ist alles - noch - ungewohnt; überdies braucht seine helle Stimme ein anderes Mikrophon. Während Bosem es einrichtet geh ich pinkel, um die Toilettenszene aufzunehmen. Klappt alles, ich ‚kann‘ sogar. Prima. Der Wasserhahn noch und dreiviermal die Tür: öffnen, schließen, öffnen. Aber als ich dann wieder in der Arbeitswohnung bin, ist die Szene nicht auf dem Band; möglicherweise habe ich die Pausentaste nicht gelöst. Also morgen noch mal. Dabei war der Ort ideal; eine Kneipe kann ich wegen der ganz anderen Geräusche nicht nehmen, es muß so etwas wie ein öffentliches Gebäude sein. Vielleicht ein Museum, das wäre das von hier aus nächste, jedenfalls am Sonntag. Bis ich alles im Kasten hab, werde ich mit Platzhaltern arbeiten, also die noch fehlenden Zufallsstimmen selbst sprechen, ebenso die Toilettenszene hier bei mir aufnehmen und diese Platzhalter in einer gesonderten Spur in der Montage anlegen, so daß ich sie später austauschen kann.
„Bitte, erst der Junge, dann alle vier Sprecher gleichzeitig, Chohan halblinks - links ist die Herzseite; der Junge in der Mitte, ich selbst halbrechts, Broßmann ganz rechts.“
Bis Seite drei kommen wir, dann ruft mich Bosem in den Regieraum.  „Wir haben ein Geräusch, wenn ich alle vier Mikros gleichzeitig offen lasse.“ Wir fahnden, es ist aber nicht viel Zeit, die zwei Stunden sind eng bemessen. „Sie müssen aber nicht schneiden, das mach ich selbst am Computer.“ Was enorm viel ausmacht, bestimmt die Hälfte der Zeit.
Das Geräusch kommt von der Klimaanlage, ein sehr hohes Pfeifen, unter dem ein bassiges Rauschen liegt. Das Problem hatte ich im ARD HS schon mehrmals; auf hörspielartige Arbeiten ist man hier nicht ausgelegt; aber alle Mitarbeiter an den Aufnahmegeräten sind froh, wenn so etwas einmal kommt, wenn es wirklich um Gehör geht. Unter anderem deshalb liebe ich es, hier aufzunehmen.  Wir sind gegen zehn nach halb zwölf, etwas später, durch, und nehmen sicherheitshalber noch einmal die ersten drei Seiten des Typoskriptes auf. Die Datei wird im ARD-System gespeichert, etwa für ein Vierteljahr; ich selbst bekomme sie auf den Stick.
Chohan bicht auf. Wie jedesmal: Wundervoll als Sprecherin, geradezu perfekt im warmen Timbre ihrer zugleich höchsten Sprechkultur. Alles kommt ganz aus dem Innern; es ist wie ein Zauber. Broßmann und mein Junge radeln heim.
Ich spaziere noch die gesamten Unter den Linden bis zum Alex, sicherheitshalber, um auf weitere O-Töne zurückgreifen zu können. Oft macht man bei sowas Glücksfänge - wie gestern, als minutenlang das Glockenspiel des Französischen Domes musizierte. Das könnte ein feines akustisches Leitmotiv werden.  Einfach probehalber das Gerät laufen lassen, als ich aufs Rad steige - bis in die Duncker hoch. Viel Gutes wird dabei nicht herausgekommen sein, weil der Wind die Aufnahme stört... aber wer weiß? Ich habe ein riesiges Archiv solcher akustischen Zufallsfunde mittlerweile; auf vorgefertigte Geräusche bin ich so gut wie nicht mehr angewiesen.
Dann hier, am Schreibtisch, als erstes alle Töne auf den Computer überspielt, je kurz hineingehölt und, was sehr wichtig ist, signifikante Namen vergeben, sowie je das Datum an den Namen gefügt. Danach alle Dateien auf einer externen Festplatte doppelgesichert. Während meiner Hörstückproduktionen mach ich das mindestens einmal am Arbeitstagesende, auch wenn es ein bißchen zeitraubend ist.
Zum Schneiden allerdings bin ich heute nicht mehr gekommen.
Galouye 4 <<<<
albannikolaiherbst - Samstag, 28. April 2012, 19:28- Rubrik: HOERSTUECKE
Über Facebook:Lieber Tobias Sommer,
ich habe >>>> Ihr Buch jetzt innert zweier Abende gelesen, in Gänze, nachdem ich es bereits zuvor einmal halb gelesen hatte, aber unterbrochen worden war. Der Text, den ich allerdings nicht für einen Roman, eher für eine Erzählung halte, hat einen eigenen Sog, etwas Schillerndes, bisweilen gibt es große Sätze darin („...die Generation unserer Erzeuger feiert Eigentum noch“ S. 111/ „...Tage, in denen noch alle schuldenfrei und schuldlos waren“ S. 91); auch über die Geschichte-selbst ließe sich einiges sagen inkl. der angedeuteten „Pointe“ qua Zeitungsmeldung. Doch das bedürfte eines weiten Ausholens und ginge, da mir Bezüge durchaus nicht immer klar sind, ich überdies Schwierigkeiten mit der Perspektive eines geistig Behinderten habe - was an mir liegen kann, nicht an dem Text liegen muß -, - ginge nicht unbedingt zugunsten des Buches aus. In solchen Fällen möchte ich nicht über Texte schreiben, zumal etwas an Ihrer Erzählung mir sehr fremd ist, aber nicht in einer Weise, die mich besonders locken würde, sondern ich bleibe davon ausgeschlossen und mag mir den Zugang auch nicht erkämpfen.
Will sagen, mein Verhältnis zu Ihrem Buch ist ambivalent. Auch das ist keine gute Voraussetzung, um einen Rezensionsplatz zu erstreiten. Das wäre vor allem auch eine Frage der Zeit; wenn ich zu meiner eigentlichen Arbeit Rezensionen übernehme, möchte ich deshalb mit Leidenschaft dabeisein. Dieses wär hier nicht der Fall. Ich muß aber auch zugeben, daß die „Fallhöhe“ enorm war, da ich noch von meiner vorhergehenden Lektüre, Döblins Wallenstein, völlig besetzt bin.
Daß es sich bei „Dritte Haut“ um einen hochartifiziellen, sprich sxhr kunstfertigen und bisweilen eleganten Text handelt, mag ich ebenso wenig verschweigen. Deshalb stelle ich diesen Brief als eine Art Rezension in Die Dschungel, deren Leser so Kenntnis erhalten und gegebenenfalls selbst entscheiden können.
Seien Sie aus Berlin gegrüßt:
ANH
albannikolaiherbst.de
albannikolaiherbst - Sonntag, 29. April 2012, 22:03- Rubrik: Rezensionen
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Für Adrian Ranjit Singh v. Ribbentrop,
meinen Sohn.
Herbst & Deters Fiktionäre:
Achtung Archive!
DIE DSCHUNGEL. ANDERSWELT wird im Rahmen eines Projektes der Universität Innsbruck beforscht und über >>>> DILIMAG, sowie durch das >>>> deutsche literatur archiv Marbach archiviert und der Öffentlichkeit auch andernorts zugänglich gemacht. Mitschreiber Der Dschungel erklären, indem sie sie mitschreiben, ihr Einverständnis.
Kontakt ANH:
fiktionaere AT gmx DOT de
E R E I G N I S S E :
# IN DER DINGLICHEN REALITÄT:
Mittwoch, den 5. April 2017
Bremen
Studie in Erdbraun
Mit Artur Becker und ANH
Moderation: Jutta Sauer
>>>> Buchhandlung Leuwer
Am Wall 171
D-28195 Bremen
19 Uhr
Sonnabend, 23. September 2017
Beethovenfest Bonn
Uraufführung
Robert HP Platz
VIERTES STREICHQUARTETT
mit zwei Gedichten von Alban Nikolai Herbst
>>>> Beethovenhaus Bonn
Bonngasse 24-26
D-53111 Bonn
16 Uhr
NEUES
Bruno Lampe - 2017/03/29 19:48
III, 280 - Bei Äskulap
Gegen zwei löste ich mich kurzentschlossen vom Schreibtisch. Es war nichts mehr abzuliefern. Aber die ... Die in einem ...
... Deckenlabyrinth sich mäandernde Inschrift...
Bruno Lampe - 2017/03/28 21:42
Vielhard, Leichtgaard:
albannikolaiherbst - 2017/03/28 07:53
Bruno Lampe - 2017/03/27 20:43
III, 279 - Oder auch nicht
Kühler Nordwind. Die Sicht ging bis zu Sant’Angelo Romano weit unten im Latium. Jedenfalls vermute ich ... Bruno Lampe - 2017/03/24 19:55
III, 278 - Einäugigkeiten und Niemande
Ein Auge fiel heraus, abends beim Zähneputzen. Es machte ‘klack’, und der Zyklop sah nur noch verschwommen. ... Danke, gesondert, an...
bei der sich in diesem Fall von einer "Übersetzerin"...
albannikolaiherbst - 2017/03/24 08:48
albannikolaiherbst - 2017/03/24 08:28
Schönheit. (Gefunden eine Zaubernacht). ...
Es juckt sie unter der Haut. Es juckt bis in die
Knochen. Nur, wie kratzt man seine Knochen?
Sein ... Bruno Lampe - 2017/03/22 19:39
III, 277 - Die Hühner picken
Irgendwas ist schiefgelaufen seit dem 9. März. Man könnte es so formulieren: die Verweigerung der Worte ... ich hör' ein heer...
ich hör’ ein heer anstürmen gegens...
parallalie - 2017/03/21 06:51
Ich höre berittene...
Ich höre berittene Landsknecht sich ballen vorm...
albannikolaiherbst - 2017/03/21 06:18
albannikolaiherbst - 2017/03/21 06:12
James Joyce, Chamber Music. In neuen ...
XXXVI.I hear an army charging upon the land,
And the thunder of horses plunging, foam about their knees: ... den ganzen tag lärmen...
den ganzen tag lärmen die wasser
ächzen schon
trist...
parallalie - 2017/03/18 09:55
Den ganzen Tag hör...
Den ganzen Tag hör ich des brandenden Meeres
Klagenden.. .
albannikolaiherbst - 2017/03/18 08:23
JPC

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Zuletzt aktualisiert am 2017/04/01 07:33
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