Das Weblog als Dichtung. (3).
Denn anders als etwa ein Buch scheint sich das Netz quasi-direkt mit dem Ganglion verschalten zu können, was zum Beispiel den Suchtcharacter erklärt, den Chats für ihre users annehmen können, aber auch die auffällige Kürzung des Zeitgefühls, das wohl jeder mit dem Computer Beschäftigte schon erlebt hat: Binnen weniger Minuten sind Stunden vergangen. Möglicherweise wird quasi überbrückt, was ich einmal den Widerstand des funktionalen Materials nennen möchte. Eine solche scheinbare Unmittelbarkeit kommt auch sehr vielen ‚normalen’ Weblogs zu, da sie, glaube ich, die distanzierteste Form höchster Intimität sein können, also völlig offenbarend und zugleich ebenso schützend, die sich vorstellen läßt: Die Öffentlichkeit bekommt sozusagen die Rolle eines oft auch zustimmenden Beichtigers. Sie wird, in der Form einer mehr oder minder anonymen community, ElternObjekt. Dies nun beschreibt ziemlich genau das Verhältnis des Schriftstellers als Künstler (nicht des Schriftstellers als journalistischer Aufklärer; das sind zwei verschiedene Berufungen) zur Öffentlichkeit, insoweit sie metaphorischer Stellvertreter des Idealen Lesers und eben nicht funktionale - auf einen Mehrwert definierte - Zielgruppe ist. Selbstverständlich ist der Ideale Leser zugleich eine Projektion des Künstlers, indes seine notwendigste: denn ihm vertraut er sich völlig an, wenn er gräbt.
albannikolaiherbst - Donnerstag, 3. November 2005, 12:44- Rubrik: Arbeitsjournal