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"So mußte also ziehen die Geschichte der Tochter, in der Mutter. (Achten Sie auf dieses „die Geschichte der Tochter in der Mutter“!) Und aber es sollte gekommen sein, dann; ganz anders und die Mutter des Landes fürchtete, es könne die Lösung nicht gewesen sein und Magdalen trotzdem, irgendwo, unterwegs. Steinchen anders nicht weinen wie ihre Mutter. Ohne Wasser, ohne Salz."
Marianne Fritz, Dessen Sprache Du nicht verstehst.
Das i s t er, in Quintessenz, der dem mythischen so verwandte phantastische Ton. Daß ein Mädchen, wie schon die Mutter, Steine weint, ist bei der Fritz keine metaphorische, sondern konkrete Formulierung, die Handlungsfolgen hat; der metaphorische Charakter ist aber dennoch gegeben. Alleine er bindet die Formulierung ins lesende Subjekt, in Leserin und Leser, ein. Sofern sie nicht von vornherein abgewehrt wird („so etwas lese ich nicht!“), findet sie dort den Kontakt zum innersprachlichen symbolischen Raum, der den „Gesetzen“ des Realismus niemals gehorcht, aber dennoch ein wirkender Teil auch alltäglicher Realität ist. In dieser schwer definierbaren psychischen Sphäre entfaltet Phantastik ihre große sinnliche Kompetenz. Daß sie gängigen SF- und Horror-Genres verschlossen bleibt (verschlossen bleiben m u ß, wenn sich ein Stück Unterhaltungsliteratur mit kommerziellem Erfolg absetzen soll), liegt auf der Hand.
Der Fantastische Raum ist ein Schlüssel, gewissermaßen möbliert er die aus der Verdrängung herausgestemmte Fantasie in Gegenräumen. Deren vorgebliche Verzerrungen sind Projektionen mehrdimensionaler, nämlich seelisch konnotierter und deshalb ausdehnungsloser Wirkkräfte ins dreidimensionale Vorstellungsvermögen des Lesers (und Autors). Nur als solche Projektionen und eben verzerrt lassen sie sich erfassen. Was die sog. Realistische Literatur nicht thematisiert und auch gar nicht thematisieren w i l l – das unsere Handlungen und Haltungen bestimmende irrationale Gefüge aus Prägungen und/oder Ängsten -, ist ein weiterer Gegenstand, ist der Zustand Fantastischer Literatur.
[Phantastik-Aufsatz.]
albannikolaiherbst - Mittwoch, 1. Dezember 2004, 19:48- Rubrik: Arbeitsjournal
 Als der Sanfte im Jahr darauf zurückkam und schaute, ob er sein Garag’chen werde wieder beziehen können, war die ganze Brache umgestaltet, stand nicht das Fliederbäumchen mehr, nicht mehr wucherte das wilde Biotop. Sondern ein sauberer Spielplatz mit Schaukel Sandkasten Wippe wurde von gutbehüteten Kindern durchtobt. Sauber die Bänke, sauber die grauen Mülleimer an ihren metallenen Pflöcken. Ein Zäunchen um alles her, damit die Kleinsten nicht ausbüchsen können.
 Er freute sich, unser Sanfter, über das lachende perlende Geschrei. Er sah das Eis in der Waffel Kekse Kinderwagen Mütter. Und wandte sich, mit kaum einem leisen melancholischen Zucken seiner Lippen von auch dieser Heimat ab. Womit wir die kleine Binnenerzählung, hier jedenfalls, beschließen.
[Auch d a s ist – Geschichte.]
(Nicht uninteressant für ARGO, daß die Arbeiter in eine Art Strahlenschutzanzüge gekleidet sind. Unbedingt verwenden.)
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albannikolaiherbst - Mittwoch, 1. Dezember 2004, 16:26- Rubrik: Arbeitsjournal
Bezeichnend, daß Veröffentlichungen, die nicht gefallen, von manchen Beiträgern nicht etwa diskutiert werden, sondern sie leben ihren Ärger in Form heftiger Attacken, die meist völlig den Ton verlieren, gegen den Autor persönlich aus. Das geschieht fast durchweg durch solche Kommentatoren, die sich verstecken, also denunziativen Charakters sind. Mag ein, daß sich das daraus erklärt, daß jemand sein soziales Leiden verschiebt und ersatzhaft ein im Wortsinn Müt c h e n zu kühlen versucht (das Netz tendiert ja auch zur ersatzhaften community-Bildung); dann gehörte das Phänomen in psychiatrische Behandlung. Mag aber eben a u c h sein, daß hier dieselbe Struktur wirkt, die Leute dazu veranlaßt hat, ihre jüdischen Nachbarn anzuzeigen, auf daß man sich hämisch und geschützt deren Leid zum imaginierten Feierabendsvergnügen machen konnte. Nichts eignet sich so sehr für üble Nachrede wie das Internet, da die Wahrscheinlichkeit denkbar gering ist, etwa in Anspruch genommen zu werden. Solange sich der Kommentator bedeckt hält, bzw. nicht konkret nachweisbar ist, daß den in Rede stehenden Kommentar jemand Konkretes schrieb. Die Dschungel werden diesen Zusammenhang fortan den PUCK-KOMPLEX nennen. Shakespeare möge ihnen vergeben.
[Die Dschungel haben gegenüber anderen Weblogs den Vorteil, daß ihnen jedes Phänomen sofort zu einem Werkstück gerät; sei es angenehm, daran zu feilen, sei es unangenehm. In keinem Fall sind sie hilflos.]
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albannikolaiherbst - Mittwoch, 1. Dezember 2004, 10:45- Rubrik: Litblog-THEORIE
Wenn indes schon des Erzählers Perspektive fragwürdig ist, wie soll dann der Leser eine gesicherte gewinnen? Jemand, der solche Lektüre ernst nimmt (und nur, um sie zu konsumieren, ist sie zu schwierig nachzuvollziehen), sieht sich der Dekonstruktion seiner normierten Wirklichkeit gegenüber. Er muß nun nur noch überlegen, daß er die Krümmung der Zeit so wenig wie die „Organotronik“ seines eigenen Gehirns begreift, um ebenso ins Schlingern zu geraten wie der Autor der kleinen Erzählung. Wenn der denn geriet und nicht alles nur eine Fiktion ist, was sich aber nicht anders entscheiden läßt, als indem man das eine oder andere glaubt. Das ist kein überaus sicheres Fundament, dieser Rückzug in den gesunden Menschenverstand. Der würde schon, und wir wissen das, in Krankenhäusern versagen.
Phantastik kennt insofern nicht etwa nur nicht die Antworten auf ihre Fragen, sondern diese selbst formulieren sich überhaupt erst durch die erschriebene Lektüre. Man kann hilfsweise sagen: Der Text selbst stellt sie dem Autor. Selbstverständlich ist es komplizierter, da der Autor seinen Text ja schreibt. Dennoch ist seine Autonomie ebenso wie später die des Lesers aufgehoben. Genau darum geht es in Fantastischer Literatur: Das Es zum Sprechen zu bringen. Hier liegt die Verwandtschaft mit den Träumen, die sich geradezu nach Art einer Feldforschung die surrealistischen Traumversuche zum Gegenstand erkoren, was wiederum eine Erbschaft des romantischen Einspruchs gegen die allewelt funktional zurichtende Industrialisierung war und logischerweise ein Reflex auf die Aufklärung. Horkheimer und Adorno haben gezeigt, wie diese selber mythisch wurde. Auch davon legt Phantastik bildhaft Zeugnis ab. Vielleicht hat sie das Privileg, wie in seinen besten Arbeiten Lem, ungefähre Perspektiven einnehmen zu können, vielleicht weiß sie, wie Borges, um ihren Rang. Doch immer schreibt sie mit Tinte in Sand. Oder zeitgenössischer: Sieht Tiefe, wo nur Screen ist. Und weiß zugleich, der Screen i s t nicht tief, kaum räumlich, doch die flachen digitalen Zeichen sind wie spins unendlich ineinandergerollt. Eine andere Tiefe hat Phantastik weniger vor Augen und schon gar nicht im Begriff, als daß ihr Instinkt sie spürt. Deshalb wittert sie der Fährte nach, wie einer sich durch einen knalldunklen Raum tastet, der ungefähr weiß, wo die Tür ist.
albannikolaiherbst - Donnerstag, 2. Dezember 2004, 23:26- Rubrik: Arbeitsjournal
Heute arbeiten die Arbeiter auf dem Grundstück des Sanften nicht. Ich stelle dennoch mein Fahrrad gegenüber an die Hauswand, bin ja fünf Minuten zu früh. Will hinüber, vielleicht doch durch die Absperrung KINDER HAFTEN FÜR IHRE ELTERN ein reiner Unsinnssatz, sagte Gregor. Durch die langen verklebten Sperrbahnen rotweiß, die das herausgerissene Gatter ersetzen, hindurchschlüpfen an den riesigen Containern vorbei. Am Boden gucken vielleicht find ich was das mich erinnert.  Da fällt mein Blick, ich will das Rad anschließen, an den Hausrand, die kleinen hineingehämmerten Steine des Bordwegs.  Gleich da liegt eine Buchseite, nicht herausgerissen, herausgefallen einfach; ein schlecht verleimter Papierstoß wird das gewesen sein. Ich nehme die Seite auf, 147/148, sie ist eingeknickt, von einem Fußabdruck dreckig. Ich beginne zu lesen und bin eine Minute lang fort.
Nun kamen auch die anderen Personen näher, betasteten neugierig Nadias Schultern, vergruben ihre Finger in ihrem Haar, tuschelten und lachten. Im Handumdrehen hatten sie in der Berührung, in Mimik und Gestik eine gemeinsame Sprache gefunden und der Rest war einfach. Die Pygmäinnen spielten Nadia vor, was mit ihnen geschehen war, und sie begriff, dass die Frauen von ihren Männern getrennt worden waren, dass die Männer für Kosongo Elefanten jagen mussten, nicht wegen des Fleisches, sondern wegen der Stoßzähne, die er wahrscheinlich an Schmuggler verkaufte. Wenn sie es richtig deutete, gab es noch eine zweite Gruppe Männer, die für den König in einer Mine weiter im Norden Diamanten schürften. Daher stammte sein Reichtum. Die Männer bekamen für ihre Arbeit Zigaretten und etwas zu essen und durften hin und wieder ihre Frauen sehen. Lieferten sie nicht genug Elfenbein oder Diamanten, trat Kommandant Mbembelé auf den Plan. Es gab viele Strafen, Leute wurden umgebracht, aber am meisten fürchteten die Frauen, dass man ihnen ihre
Kinder wegnahm? dachte ich. Doch die Seite 149 verloren wie der Sanfte, der immerhin auch nach dem Süden wollte. War er übergesetzt nach Marokko? Von dort weiter, immer weiter, bis zur Elfenbeinküste hinunter? Ist ihm der furchtbare Mbembelé, nachdem er seinen Dienst im Osten quittiert hat, in einer der Brachen begegnet, die für Buenos Aires ein neues Afrika sind? Wird er dort Nadia treffen? Nimmt sie ihn an den Samt ihrer Brust? Ach Geliebte, wird er träumen, nachdem er für die Nacht direkt an der Spree einen Unterschlupf fand, ach Geliebte, deine rosenschwarze Haut...
[Ich pinne die Seite an die Wand links neben den Ofen.]
albannikolaiherbst - Donnerstag, 2. Dezember 2004, 12:49- Rubrik: Arbeitsjournal
albannikolaiherbst - Donnerstag, 2. Dezember 2004, 10:35- Rubrik: ARGO-ANDERSWELT
Herbst hatte den Eindruck, durch seine rechte Hand gucken zu können, sie bekam etwas erschreckend Transparentes. Immer wieder sah er diese Hand an. Dann - oder deshalb - ging es auch mit der linken los, was besonders irritierte, weil er die Hände zum Tippen so brauchte. Wobei Cordes, der endlich heil in der Schönhauser Wohnung angekommen war und schlaflos im Bett lag, nicht umhin kam, sich zu fragen (mußte), weshalb ich ü b e r h a u p t tippe. Ich meine, ich bin... gut: war Programmierer, also in Beelitz. Was ich hier war, davon hat Cordes ja noch kein Wort erzählt. Auch ich muß mir mein Leben verdienen, ob nun in Garrafff, Anderswelt oder Welt, das ist wurscht. Autoren machen es sich in dieser Hinsicht immer etwas einfach. Seit der bürgerliche Roman zerbrochen ist, kann man nicht mehr von Erbschaften schreiben, die sich aufzehren lassen, aristokratische Modelle greifen insgesamt nicht, aber die Alternative, sagen wir VERKÄUFER SCHREIBEN ÜBER VERKÄUFER (jaja, „Literatur der Arbeitswelt“, das hat’s mal gegeben... wie schreibt so präzis Hella Streicher?: „Bà!“)... nein, das k a n n es einfach nicht sein.
Ich komm jetzt richtig ins Grübeln. Was kann einer wie ich in Buenos Aires schaffen? Ich bin ja insgesamt ein parasitäres Modell. Deters selbst war, wurde gesagt, Börsenmakler. War er denn noch tätig? Wundern wir uns also nicht, daß Cordes einfach nicht einschlafen kann. Nein, es liegt nicht am Alkohol. Nein, er kriegt es mit seiner Schriftstellerehre zu tun. Nachts. Ganz furchtbar. Mir war nicht zuzutrauen, daß ich nach meiner Ankunft zum Abeitsamt ging. Übrigens hätten die mein Anliegen auch gar nicht verstanden. „ Woher sind Sie?“ „Aus Garraff.“ „Äh?“ „Das ist... passen Sie auf!“ Ein Papier vom HolzIkea genommen. „HamSe mal nen Stift?“ Und mit paar Strichen den kybernetischen Regelkreis skizziert. „SehnSe? Das hier ist Ihre Welt, das da meine. Hier lebte Deters, da ich. Und weil Sie von mir programmiert worden sind...“ „Wie was?“ „HörnSe doch zu! Sie sind Teil eines simulierten Prozesses... wir testen unter anderem Medikamente... wir testen ökologische Settings...“ „Was wollnSe von mir!?“ „Ich erkläre es gerade. Wenn Sie nicht aufpassen, dann k ö n n e n Sie es nicht verstehen.“ „Aufpassen? Äh? Bei was?“ Ich zerknülle das Papier, werf es in den hübschen, mit OraCal-Dekofolie beklebten Pappeimer, setze neu an. „Okay. Bei Ihnen hat einer gelebt, der Hans Deters heißt. Der Mann ist Börsenmakler gewesen.“ Also s o weit m u ß der Ätmler den Mund nicht öffnen. Egal. „Ich hab ihn in einer Archivdatei festgesetzt und mich an seiner Stelle in Ihre Welt projeziert.“ Tatsächlich geht der Mund n o c h weiter auf. „Ich habe aber keine Ahnung von der Börse. Und deshalb, um es kurz zu machen: Ich such einen Job.“ Wenn ich Glück habe, fragt man mich jetzt, was ich mir so vorstell, was ich so kann, ob ich Abschlüsse hab. Dann kann ich mit der Programmiererei kommen, aber da gibt’s ja kaum noch freie Stellen. Versuchen S i e das mal heutzutage mit IT. Hab ich allerdings Pech, dann ruft der Ämtler um Hilfe. Dann muß ich abhauen. Nein, Cordes hat allen Grund, nicht schlafen zu können. Darauf hab ich, so gesehen, ein Recht.
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albannikolaiherbst - Donnerstag, 2. Dezember 2004, 09:28- Rubrik: ARGO-ANDERSWELT
Daß der Realismus eines Computerspiels gerühmt wird (und zu Recht gerühmt werden k a n n), verrät den Realismus.
(CXVI).
herbst & deters fiktionäre
albannikolaiherbst - Freitag, 3. Dezember 2004, 23:40- Rubrik: Paralipomena
J e d e r Roman, auch ein utopischer, ist historisch.
(CXV).
albannikolaiherbst - Freitag, 3. Dezember 2004, 20:25- Rubrik: Paralipomena
Kein Satz dümmer als dieser: “Du überforderst Dein Kind.“ Denn das Verhältnis des Geistes zu Bildungsangeboten entspricht dem des Körpers zu Vitamin C: Was er nicht verarbeiten kann, scheidet er aus.
(CXIV).
[Das gilt n i c h t nur für Kinder.]
albannikolaiherbst - Freitag, 3. Dezember 2004, 15:11- Rubrik: Paralipomena
Die Gefühle, die sie wie Blätter umgeben.
albannikolaiherbst - Freitag, 3. Dezember 2004, 13:07- Rubrik: NOTATE
Schon der zu Anfang exhibitionierte Körper Will Smiths berührt unangenehm in seiner maschinellen Selbstdarstellung... ist dabei zugleich die Wahrheit des Films, die eine über Kosmetik ist. Darüber nachzudenken, dagegen richtet sich von allem Anfang an der geschmierte, an den Sozialgesetzen der political correctness orientierte Actionismus. Selbstverständlich hat der Filmheld Vorurteile und selbstverständlich darf man sie nicht haben, zum Beispiel gegen Schwarze (oder Roboter). Selbstverständlich bekommen sie und damit das Selbstverständnis des middle west US-American letztendlich recht, und die Schwarzen... äh... natürlich die Roboter... sind eine Gefahr. Hin und wieder mag es freilich selbst unter Robotern Ausnahmen geben, sonst wäre ja Powell nicht möglich, und vor allem nicht er selbst, Will Smith. Er rettet nämlich die menschliche Welt ganz ebenso wie Sunny die positronische, denn das ist der Auftrag des netten robotischen Jungen (und vielleicht der Beginn eines vorausgeplanten Serials). Daß Sunny das vermittels menschlicher Werte tun soll (also US-amerikanischer) - völlig schnuppe, ob sie positronischen überhaupt angemessen sind -, ist ein gutes Beispiel des westlichen „Verständnisses“ für andere Kulturen.
Das Problem des Films ist aber nicht so sehr seine durchschaubare rassistische Ideologie, die sich auch gut gegen Islami in Bewegung setzen läßt, bzw. Vorurteile gegen Islami auf dem Wege der Verschiebung bestätigt, sondern seine ästhetische Peinlichkeit. Kein besseres (also schlechteres) Bild dafür als der mehrfach groß inszenierte AUDI, den Will Smith fährt. Schon in seiner Formgebung ist er nichts als das regredierte Symbol einer schlechtbehaupteten Potenz und darin Will Smith auf erschreckend pubertäre Weise ähnlich. Man vergleiche nur, welche Rolle die Mutterfigur in dem Film für ihn spielt.
albannikolaiherbst - Samstag, 4. Dezember 2004, 23:30- Rubrik: Filme
An den Redakteur der horen:
P.S.: Wenn Azred zu lang war.... hier, das ist ein Agebot, das ich sonst nicht gerne mache, das erste, "Nullgrund" genannte Kapitel des dritten Bandes "Argo" meiner Anderswelt-Trilogie, woran ich zur Zeit wie wahnsinnig arbeite. Vielleicht ginge ja dieses anstelle von Azred. Guck's Dir mal an.
Vom Redakteur der horen:
P.S.: Dein Romankapitel habe ich gelesen. Ich bewundere Deine infernalische Metaphorik. Im Zusammenhang mit dem Gesamttext wäre das sicher sehr interessant, als Beitrag für unsere Ausgabe jedoch vom Leser schwer zu verarbeiten.
Wir sollen, zu Recht, Auschwitz verarbeiten, Vietnam verarbeiten, die 500.000 verhungerten irakischen Kinder verarbeiten, den Völkermord auf dem Balkan verarbeiten, Ground Zero verarbeiten. Aber wir dürfen dem keine Bilder schaffen. Denn als Literatur ist es zu schwer.
ARGO. ANDERSWELT. (62)
[Erstaunlich, daß Redakteure immer so genau wissen, was ein Leser verarbeiten kann. Sie kennen sich offenbar selbst zu gut.]
>>>> ARGO 63
ARGO 61 <<<<
albannikolaiherbst - Samstag, 4. Dezember 2004, 09:05- Rubrik: ARGO-ANDERSWELT
Zum Burschen: „D a s sind wir, so mit euch zu sprechen.“ „Ach so“, antwortete der, guckte grübelig schief und verzog sich. In Buenos Aires hätte man fortan ein Auge auf ihn gehabt, die Daten sämtlicher Telefonate wurden seit Jahren gespeichert und bei Bedarf einer Sichtung unterzogen, Goltz hatte, seinerzeit, auch dieses im Verbund mit der europäischen DaPo und Ungefuggers Sicherheitsstaffel im Europarat hartnäckig durchsetzen lassen, damals, als die Kommandozentrale der Tranteau zerstört und die holomorphe Rebellin selbst gelöscht worden war... zu früh zu früh! er hatte seine Wut kaum anbinden können. Die ganzen Daten waren mit den Selbstprojektoren vernichtet worden, Nukula Nuklea, hatte Goltz damals gedacht, genau dasselbe wie, übrigens, der bei der Gelegenheit inhaftierte Deters. Goltz hatte mit Ungefugger telefoniert: „Wir müssen ein Archiv anlegen, ein riesiges Archiv, auf das man über die genetischen Signaturen jedes Bürgers bei Bedarf zugreifen kann.“ Die Signaturen waren auf Chipcards gespeichert, jeder Porteño trug sie wie eine Greencard als Ausweis bei sich - sowieso, da sie zugleich als Beleg für die applizierte Wahrheitsimpfung diente. Man konnte die Card sogar als Zahlungsmittel verwenden, obwohl im täglichen Geschäft das Chiroscan-Verfahren vorgezogen wurde. Jedenfalls sei die massenhafte Datenspeicherung, hatte von Zarczynski, der schon damals das Ministerium leitete, vorm Europarat argumentiert, für „die Zwecke der Vorbeugung, Untersuchung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten, einschließlich Terrorismus“ unabdingbar. Dabei hatte er sich auf Beschlüsse berufen, die von Buenos Aires’ Bezirkschefs bei ihren Gipfeltreffen nach den Terroranschlägen von Salamanca und Madrid auf Anraten der SZK getroffen worden waren. „Es ist geraten, daß die Bezirksregierungen in direktem Zugriff auf die Fernmeldefirmen jedes Telefongespräch im Festnetz oder per Handy archivieren, ebenso SMS-Kurzmitteilungen und sowieso die Übertragungsprotokolle ihrer gesamten Euroweb-Kommunikation.“ Selbstverständlich hatte es anfangs Widerstände gegeben, nicht nur den sentimentalen Protest der Datenschutz- und Bürgerrechtsverbände, sondern vor allem seitens Frank Phersons, dessen PHERSON’S LIMITED sich mit einer Mehrbelastung in Höhe dreistelliger Millionenbeträge konfrontiert sah; andererseits hätte von Zarczynskis Vorstoß, sofern erfolgreich, den Markt ausgewaschen. Denn es könnten, so eine Expertin des Bundesverbandes der Europäischen Industrie (BEI), vor allem kleinere Euroweb-Firmen die schätzungsweise 50 Millionen Euro kaum aufbringen, die für die nötigen Programme aufzuwenden wären: „Die müssten dicht machen.“ Zwar waren einige Daten für fiskalische Zwecke sowieso gesammelt worden, aber auch diese hatten gemäß des europäischen Datenschutzrechts nach achtzig Tagen gelöscht werden müssen. Ungefugger selbst hatte das Vorhaben selbstverständlich unterstützt, schließlich war es nur noch um die Dauer gegangen, für welche die Daten einsehbar gehalten werden mußten. Die Kostenfrage war einerseits vermittels deutlicher Steuervorteile, andererseits durch staatliche Zuwendungen einigermaßen in den Griff bekommen worden. Was in den durch AUFBAU OST ohnedies arg belasteten Haushalt weitere Lücken gerissen hatte und selbstverständlich ein weiteres Mal auf Ungefuggers politisches Stimmungsbarometer gedrückt hatte.
Aber, selbstverständlich, sie waren nicht in der Zentralstadt. Das war, dachte die Goltzin, der Osten, nicht einmal jeder Zehnte war registriert, vielleicht nicht einmal einer von zwanzig. Man wußte ja nicht einmal, wieviel humanoide Mutanten – Schänder, Devadasi, Hundsgötter – es gab, von den animalischen und den Hybriden zu schweigen. Die Asfaltierungskampagne brachte nahezu täglich neue Funde an den Tag. Und: Wie anders war nun alles geworden! das dachte er a u c h, dieser zur Frau verwandelte Polizist, als der verärgerte Bursche um die nächste Ecke verschwunden war. Ich würde ihn heutzutage beobachten lassen, weil er möglicherweise mit Buenos Aires kooperiert, kleiner Spitzel, dachte Cordes, der die Szene geträumt hatte, jedenfalls teilweise, wenn auch nicht so klar konturiert, er sah nur ein ihm fremdes Gesicht.
Es war früher Morgen, der Wecker hatte noch gar nicht geklingelt, als Cordes mit diesen Bildern erwachte. Denn Goltz’ Instinkt hatte in der Goltzin durchaus nicht getrogen. Nämlich hatte der Bursche, nennen wir ihn Präparat, auf dem Nachhauseweg grummelnd einen Entschluß gefaßt, sein Handy aus der Hosentasche geholt und Brem angerufen, den man im Osten Gelbes Messer nannte. In der Zeit nach Nullgrund avancierte der, zusammen mit dem Roten Mahmud, zum neben Odysseus selbst meistgesuchten Ost-Terroristen; davon war aber bislang keine Rede. Cordes, noch immer in dem Hochbett dösend, sah ohnedies die Zusammenhänge nicht, sondern nur, wie sich über die Siedlungsszene aus Hänger Achäer Unimog Frauen ein Gesicht projezierte, transparent nur, aber eine minutenlang stehende Überblendung: und tatsächlich nicht das ganze Gesicht, sondern bloß das linke, überschattete Auge, dreieckig hingen die Brauen darüber hinab, wenig spirriges Haar jenseits der Schläfen; schartig fast, wie erodiert, die Hauterhebung unterm schrägen Tränensack, und die Nasenwurzel derart eingekerbt, als hätte der Mensch die Lefzen geschürzt. So drohend war der Blick.
>>>> ARGO 64
ARGO 62 <<<<
herbst & deters fiktionäre
albannikolaiherbst - Sonntag, 5. Dezember 2004, 09:19- Rubrik: ARGO-ANDERSWELT
Dies war nun ein Kitzel, den Cordes festhalten wollte; zugleich erleichterte es ihn, daß es so schnell vorüberging. Er sah von hoch oben auf Wagen Frauen Publikum, dann schon den Ort insgesamt, aber schließlich nicht etwa Welt, sondern flüchtige, sich ständig erneuernde Kondensstreifen, kurze dünne Fäden und sich aufblähende Körper wie von Gespenster-Raupen, dann schon den glasgedeckten Kasten, vielleicht zwei Meter auf zwei Metern Fläche – und ein Gesicht, meines, das hineinschaut und den beiden Jungens erklärt: Alles, wir, der Raum, der Boden, die Versuchsgegenstände, die Berge und Häuser, der Kosmos selbst, sei durchzogen davon, so daß die Verfaßtheit von Welt, fotografierte man sie, aussähe wie eine tausendfach gesprungene Milchglasscheibe.
„Das ist auch in dir?“
„Auch in dir.“
„Und in Jascha?“
„Auch in Jascha.“
„Auch in der Mama?“
„Auch in der Mama. In uns allen. Und in allem. Das kennt keine Grenzen, das rast durch unsere Körper, aber nur in so einer Nebelkammer kann man es sichtbar machen.“
Die erste Berührung des kleinen Jungen mit der wirkenden Unendlichkeit. Dem wir, um uns ihr zu stellen, den Mythos schufen. Sprechen wir von ihm, dann meinen wir immer sie, meinen ihre Fremdheit, dachte Broglier, der ins Sinnen geraten war im SANGUE SICILIANO. Er stand wieder an der Theke, hörte die gegrölten Permessi des Wirts, die Schreie der Trinker waren zur Hintergrundstrahlung eines Weltalls geworden, durch das nun auch Dorata wieder einem Ziel entgegensauste, so menschenfern ungewiß, daß einem schwindlig werden konnte. Für eine Sekunde war sie, als Seele, sichtbar geworden, Spur eines Beta-Teilchens nur, gewölbt und warm hatte der Körper diese Sekunde lang an Broglier gelegen, dann war sie weitergerast, Seelen zeigen sich immer als Körper, nur so nehmen Menschen sie wahr und d e h n e n deshalb die Sekunden, falten Räume in sie hinein, in denen sie sich bergen lieben hassen können, sie stemmen sich mit Füßen und Händen gegen die Wände dieser Sekunden, drücken die Membranen auseinander, weshalb es Sekunden gibt, die Monate Jahre Jahrzehnte währen, aber sind die Jahrzehnte vorüber, ist es nur diese eine Sekunde gewesen und das Teilchen längst fort und verloren. Und man sieht dabei zu, wie selbst die S p u r zerfällt.
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ARGO 63 <<<<
albannikolaiherbst - Montag, 6. Dezember 2004, 10:03- Rubrik: ARGO-ANDERSWELT
Jede neue Frau ist die blasse Reinkarnation der Einen.
(CXVII ).
albannikolaiherbst - Montag, 6. Dezember 2004, 08:56- Rubrik: Paralipomena
Ein Mann, der leidenschaftlich liebt, aber zurückgewiesen wird, untersteht einem Naturgesetz des Gefühls: Keine Begegnung ist, solange es bei der Abweisung bleibt, erlaubt. Er wird sonst sehr schwach. Wird krank, fahl, leuchtet nicht mehr. Für eine intensive Liebe nähme er j e d e s Risiko auf sich. Das kann die Frau verlangen. Aber nicht, wenn von vornherein der Verlust formuliert worden ist. Andernfalls wäre es kein Risiko, sondern eine selbstdestruktive Dummheit. Ein Mann hat dann kehrtzumachen... und zwar ganz besonders, wenn sein Kind betroffen ist. Er darf sich nicht – für Nichts – zum Popanz machen. Nicht wegen des Kindes. Und nicht aus Liebe zu der Frau, die er meint.
Er hat jede Begegnung zu meiden. Wenn es sein muß: für immer.
albannikolaiherbst - Dienstag, 7. Dezember 2004, 23:16- Rubrik: NOTATE
Denn jetzt steig' ich in meinen Busen nieder
Gleich einem Schacht, und grabe, kalt wie Erz,
Mir ein vernichtendes Gefühl hervor.
Dies Erz, dies läutr' ich in der Glut des Jammers
Hart mir zu Stahl; tränk' es mit Gift sodann,
Heißätzendem, der Reue, durch und durch;
Trag es der Hoffnung ew'gem Amboß zu
Und schärf' und spitz' es mir zu einem Dolch;
Und diesen Dolch jetzt reich' ich meiner Brust:
Bei Kleist.
albannikolaiherbst - Dienstag, 7. Dezember 2004, 20:08- Rubrik: Arbeitsjournal
Selbstverständlich schaute Willis mehr als verdutzt aus der Wäsche, als ihn der schlimm verkaterte Broglier am nächsten Morgen fragte und dabei die Diskette aus dem Etui nahm: „Sag mal, Kalle...“, druckste rum, setzte neu an: „Wie lange muß man trauern?“ Unmittelbar: „Bisde nich mehr unjerecht bist.“ Das verstand nun Broglier nicht. „Schau mal“, sagte Willis, „wennde dir nach Dolly sehnst, dann is da doch keen P l a t z für ne andre. Dann is da doch Dolly immer noch da. Das mußte ner Neuen doch verschwiegen. Und s a a c h s t e s ihr, dann k n a l l s t e ihr sozusajen eine für was, womit die jar nix zu tun hat. Dat mein ich mit unjerecht.“ Und er fing an, von seiner Trennung zu erzählen, von s e i n e r Frau, „eines Tages isse wech, mit irjend sonem Laffen vonner Bank. Ick hab jetobt, hab dem Arschloch eins auf die Fresse jejeben, Strafanzeije, klar, zwee Monate wejen einfache Körperverletzung, nix Bewährung... war dat Beste, wat mich passiern konnte, ick hätt die Knalltüte sonst beim nächsten Mal abjemurkst. Als ick rauskam, war die Wut wech, war da nur noch sone Sehnsucht. Sone verdammte scheißige Sehnsucht, weeßte. Dat hat nie aufjehört. Nie.“ Beide schwiegen, Broglier spielte auf dem Tisch mit der Diskette herum. „Fünf Jahre her, so ziemlich, un es hat“, wiederholte er, „bis heute nich aufjehört. Nu hat se drei Krümel von dat Arschloch, nu is sowieso allet anners.“ „Und keine neue Frau seitdem?“ Willis lachte laut auf. „E e n e? Ick hab jevöjelt wie’n antiker Halbjott inne erste Zeit! Een, vielleicht zwee Jahre lang jedes Loch jestoßen, dat ick mir uffreißen konnte. Aber weeßte... irjendwann... Dat war mir eenfach zu ville, wenn die anfingen zu heulen, die heulten immer irjendwann... die wollten wat, verstehste? die hatten recht, wat zu wollen! Dat mußte erst mal kapiern, dat die recht hatten! Und dat de denen wat v e r p a ß t für wo se r e c h t ham! Dat mein ich mit unjerecht. Solange de eene andre liebst, darfste nix mit eener anfangen, die a u c h jeliebt werden will. Und se wollen alle jeliebt werden.“ „Du hast dann wirklich keine mehr angefaßt?“ Abermals lachte Willis auf. „Ick bin keen Asket, nee. Aber d a f ü r, weeßte, jibt’s ja Puffs. Dat is ne klare Sache, und billijer isses sowieso, als wenne ’n janzen Rummel mit Ausjehn, Essenjehn, Kino, Blumen, wat weiß ich noch allet, machst, nur um irjengwann zu kapiern, daß de eingtlich nur deene Ulla liebst un daß de vonner annern immer nur wiederham willst, wasse dir wirchlich nich jeben kann. Unnich jeben w i l l , kapierste? Weil se damit eem so kacke Recht hat. Is ja’n M e n s c h unnich ne Kopie.“
>>>> ARGO 66
ARGO 64 <<<<
albannikolaiherbst - Dienstag, 7. Dezember 2004, 13:17- Rubrik: ARGO-ANDERSWELT
Vielleicht säßen ein paar desolate Geschäftsleute in Begleitung von Mädchen herum, die mein Freund Gregor und ich immer „Handtaschen“ nannten, die Ungarin Erica zum Beispiel, mit der ich mal anbändeln wollte, bis herauskam, daß sie nicht wußte, wer Stalin war. Auch von Karl Marx hatte sie niemals gehört, und wegen des riesigen Mao-Bildes, das in der Lützowbar hängt, hatte sie mich damals gefragt, wer d a s denn sei. So war plötzlich klargeworden, daß ich mit ihr ganz sicher nichts anfangen würde, schon gar nicht gegen Bezahlung.
[Weihnachtsgeschichte für den SWR.]
albannikolaiherbst - Dienstag, 7. Dezember 2004, 11:26- Rubrik: Arbeitsjournal
Am 14. Juli fiel sein Blick auf eine alte Fotografie: - seltsam saß wieder diese ewige Katze dort, und er erinnerte sich: - keine vier Monate lang war sie kindlich gewesen, dann hatte sie sich, als wäre ihr Lebenssinn erkannt, unter die Schreibtischlampe gesetzt. Zwar, in Wirklichkeit ging sie, ja lief, wenngleich enorm arrogant, zuzeiten herum; war sie beobachtet, ohnedies. In Wahrheit aber saß sie dort alle achtzehn Jahre und überwachte Dichtung und Dichter. 
Er sah auf: Ein leichter feimender Dunst flimmerte im gelben Kegel unter dem art-deco-grünen Schirm. Verwirbelte nicht, sondern hielt sich. Sein leichtes Schaudern blies hinein, und die Erscheinung verschwand. Doch wallt sie nun, beharrlich, wie nur Katzen sind, bisweilen wieder auf. Bis sie mein zärtlicher Puster jedesmal löscht.
[Für Sancha.)
albannikolaiherbst - Dienstag, 7. Dezember 2004, 11:06- Rubrik: Texte
Nicht uneigentlich lieben wollen, sondern intensiv. Das bedeutet: begeistert. Eben n i c h t distanziert. Leidenschaftlich zu lieben ist das Gegenteil einer pragmatischen Handlung.
[Das unterscheidet die Geschlechter- von der Menschenliebe. Diese ist immer sozial, jene, wie die Kunst, ist es nicht. Jedenfalls nicht notwendigerweise.]
(CXVIII).
albannikolaiherbst - Dienstag, 7. Dezember 2004, 10:49- Rubrik: Paralipomena
Der Erzähler von damals weiß, daß er den Auftrag zu erzählen sich selber erteilt, daß keiner ihn ihm abnimmt. Dennoch bleibt die Tatsache einer Spaltung bestehen, ist es ein für allemal festgehalten, daß ein Erzählen mit solch umfassendem, tiefgeifendem Anspruch den Autor aufspaltet: in eine Kraft, die den Anstoß gibt, auslösend ist, motiviert - und das immer wieder -, und eine andere, ausführende, die den Anstoß aufnimmt als Zwang zur Sprache und Poesie.
Die großen Epen der Menschheit sind alle unter dieser Voraussetzung entstanden; derjenigen also, daß zur Fähigkeit zu erzählen, zu Form- und Sprachbewußtsein, Sprachgewalt, zum „Musischen“ hinzu jene treibende, antreibende, immer neu appellierende Instanz kam, die allein dem Erzähler dann auch Zweifel, Erschöpfung und Mutlosigkeit ausredet.
[Marianne-Fritz-Exzerpt.]
albannikolaiherbst - Mittwoch, 8. Dezember 2004, 22:53- Rubrik: Arbeitsjournal
Erwachsen sein. Ein anderes Wort für aufgegeben haben. Distanz entwickeln zu sich selbst. Sich veruneigentlichen.
Dagegen steht, für immer, der Tristan.
(CXX).
[Der das schreibt, ist knapp fünfzig und sicher nicht naiv.]
albannikolaiherbst - Mittwoch, 8. Dezember 2004, 17:04- Rubrik: Paralipomena
Fast durchweg bei meinen Texten die oftmals sofortige Zustimmung, trage ich sie v o r. Selbst ein enger Freund, der (ohne mein Wissen) seiner Gefährtin aus dem verbotenen Buch vorlas, sagte mir hinterher: „Ich habe bis dahin nicht gewußt, welch eine S p r a c h e das ist.“
Das liegt an der musikalischen, seelischen Konzeption der Texte; alle sind sie laut gedacht, fast gesungen. Ihr Rhythmus bindet die Semantik. Was so vielen als manieriert vorkommt - ein mir geläufiger Vorwurf -, sogar als altertümlich bisweilen, das klärt sich sofort über den Klang. Aber die wenigsten Leser bemerken das, die wenigsten Feuilletonisten sowieso. Sie sind fast durch die Bank nicht musikalisch gebildet und fänden es vor sich selber peinlich, zweidrei Absätze, um in den Sprachfluß zu finden, sich erst einmal laut vorzulesen. Es ist mit vielen meiner Arbeiten wie mit Lyrik: Sie erschließen sich tatsächlich erst, wird diesem Klang Raum gegeben. Dann aber füllt er das Zimmer bis zur Decke. Dann fallen die Irritationen ganz schwerelos ab, dann wird, was dem stillen Lesen nur als Marotte wirkt, zu dem, was sie ist: Spielanweisung. Und die Semantik folgt.
Manch ein scheinbarer Manierismus hat die Funktion des Kammertons. Deshalb muß der Leser gar nicht lange laut lesen, eine halbe oder ganze Seite reicht völlig. Man lausche nur über diese kurze Zeit, schon ist der ganze innere Körper gestimmt.
albannikolaiherbst - Mittwoch, 8. Dezember 2004, 13:29- Rubrik: Arbeitsjournal
[ Martinů, Řecke Pašije.]
Ob wir simuliert, ob wir vielleicht selber nur Programme sind, spielt keine Rolle. Es ist wie mit der Liebe: Wir mögen sie uns einbilden, aber fühlen sie doch. Fühlen sie stärker möglicherweise als ihre Abwesenheit. Die dann nicht mehr wirkt. Es wirkt vielmehr die Projektion. Und schafft Realität.
(CXIX).
albannikolaiherbst - Mittwoch, 8. Dezember 2004, 10:57- Rubrik: Paralipomena
Brem also, Gelbes Messer. Eine Zeit lang hatte er zum Schutz des Thetissilbers unter Skamander gedient, hatte während der heißen Kampfphasen gegen die Schänder zu dessen Mudschaheddin gehört. Wie der war auch er ein Falludsche und stammte von der Odra. Ein guter Mann, umsichtig, grausam, nicht allzu waghalsig, ideal für die Gegend. Daß er selbst Ostler war, hatte ihm das Vertrauen seines Emirs gesichert, seinerzeit wurde er ständig in der Begleitung des Obersten gesehen, sofern man denn den Gestaltenwandler erkannte. Er unterhielt enge Kontakte in die Oststädte, in jede dritte Siedlung bis an die Karpaten heran. Sogar in die Frauenstädte reichten seine Kanäle. Als die Schänder in ihre Berge zurückgetrieben waren und sich die enge Verbindung mit dem Westen lockerte - ganze Söldner-Verbände fielen auseinander und ins Elend zurück, das scherte Pontarlier nicht -, da hatte er sich von dem westtreuen Skamander gelöst und lebte nun nahe Prag außerhalb jeder Siedlung in einem Wohnwagen, der mitten auf einem Trümmerfeld stand. Er hätte auch hinübergekonnt, nach Buenos Aires gekonnt, Skamander hatte ihm vom Präsidenten persönlich das Angebot unterbreitet, bei hohem Sold und freier Wohnung in dessen Schutzstaffel einzutreten. Aber er hatte Pontarlier die Absage erteilt. Er konnte es sich leisten. Es ging ihm also nicht um Geld, ist zu vermuten, aber um was es ihm ging, rätselhaft. Vielleicht lehnte er die Wahrheitsimpfung genauso ab wie die Schänder. Andererseits nahm er am AUFBAU OST nicht teil, blieb gegenüber den eigenen Landsleuten völlig distanziert. Die Söldnerzeit hatte ihn wohlhabend gemacht, sein Geld war im Westen angelegt, er konnte von den Renditen gut leben. Noch in Kampfzeiten hatte er einen EWGler bestellt und mit dem seine Vermögensverwaltung besprochen, Kranken- und Altersversorgung gesichert. Einmal die Woche erschien er in der Prager Hauptfiliale der Deutschen Bank, hob etwas Geld ab, tätigte seine Besorgungen, rumpelte in dem alten Armeejeep wieder davon. Er tat nichts als zu sitzen oder durch die Gegend zu wandern, wurde hier gesehen, da, traf seine Kontaktleute, trank ein Bier mit ihnen, wanderte zurück in Jeans rotkariertem Hemd Weste, die graue Basecap auf dem kantigen Kopf; olivgraue, beidseits knöpfbare OutdoorJacke aus Polyester und Nylon. Die Wangen, besonders die rechte, narbig wie verdorbene, kräuslig gewordene Erdbeermilch. In seinem Wagen gab es keine Papiere Unterlagen nicht mal das Versicherungszeug. Es gab Tisch zwei Stühle Pritsche. Keine Bilder Bücher nur Wäsche auf einem Bord, kantenscharf zusammengelegt. Den Kühlschrank Herd paar Töpfe Geschirr. Auf der Arbeitsplatte immer ein Brot, darunter zwei Opinel parallel nebeneinander. Ein Salzfaß. So lebte er in einer Zelle, mönchisch, kann man sagen. Der einzige Luxus waren sechs Parfumflacons, die teuersten Duftwässer der Welt: HOMME DE PATOUT, KAVITA von LA RENTA, KUSIA (Malz), QUAAS’AN und QUELQUES FLEURS von HOUBIGANT, LAGERFELD. Und im Unterboden des Wohnwagens knappe 50 cm MP-5N nebst einer Kiste voller Munitionmagazine. Brem hatte sie selten verwendet, war ein Schleicher gewesen, der von hinten an seinen Gegner herankriecht, selbst mitten in feindlichen Fronten war er wie ein Gespenst aufgetaucht. Es fing wundervoll zu duften an, schon hatte, daher Brems nom de guerre, sein Messer geerntet. Schon war er weg, es wurde nicht ein einziges Mal auf ihn geschossen, derart schnell war er immer gewesen. Gut zu riechen hatte er mit Schändern gemeinsam, die dufteten nach Astern, er nach herber, holziger Parfumerie.
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albannikolaiherbst - Mittwoch, 8. Dezember 2004, 10:23- Rubrik: ARGO-ANDERSWELT
Eines ist klar: Auf keinen Fall vor der Mutter sterben. Diesen Triumph gönnt man ihr nicht.
[Lawrence of Arabia: „Wer Leben gibt, darf es auch nehmen.” – Nein! S i e soll erst gehen. Danach darf man selbst es a u c h – beruhigt. Aber die Beerdigung, die will man schon sehen. ]
albannikolaiherbst - Mittwoch, 8. Dezember 2004, 00:16- Rubrik: NOTATE
albannikolaiherbst - Donnerstag, 9. Dezember 2004, 22:16- Rubrik: ARGO-ANDERSWELT
Die Dschungel merken gerade: Für ARGO gewinnt der Erzähler – in seiner Haltung, nicht seiner Abhängigkeit von den Geschehen, im S t i l also – gerade in seinen ihn aufspaltenden Spiegelungen eben die Autonomie, die mir in der Realität zur Zeit fast völlig verloren geht.
albannikolaiherbst - Donnerstag, 9. Dezember 2004, 10:32- Rubrik: Arbeitsjournal
Da standen zwei Vietnamesen, ich sprach sie um Zigaretten an, mußte warten. Offenbar war man vorsichtiger geworden mit dieser Schmuggelware aus dem Osten. Ich stand mir fast fünf Minuten lang neben dem Grabbelladen die Beine in den Bauch, bis mir ein ganz anderer Vietnamese die Stange Pall Mall unter die Jacke schob und für einen Asiaten ziemlich verdutzt aussah, als ich plötzlich zu kichern anfing. Mit war klargeworden, daß ich meinerseits Lerche und Zeuner zu erfinden begann, daß ich auf d i e schaute, wie seinerzeit immer sie und ich auf unsere kybernetischen Gebilde, die in gewisser Weise fantastische waren: durchaus auratische Figuren, die den, will ich einmal sagen, Geschmack literarischer Charaktere hatten. Man trägt sie, hat man ihre Geschichte gelesen, immer mit sich herum. Sie unterscheiden sich zunehmend weniger von realen Personen, an die man sich erinnert; schließlich werden sie denen an Gegenwärtigkeit vollkommen gleich. So ist es auch mit ‚wirklichen’ Menschen, die Aufnahme in einem Roman finden: Sie ähneln sich ihm an, unterliegen seinen Bewegungsgesetzen und w e r d e n schließlich Literatur. Für einen beliebigen Leser sind sie das schließlich m e h r, als daß er sie für real halten könnte; trifft er ihr Urbild zufällig einmal, wird er es, sofern er überhaupt Ähnlichkeit mit dem Urbild erkennt, mit der Figur nicht mehr identifizieren können, sondern neben der wirklichen steht dann eine innere, von ihr getrennte Person: gänzlich autonom. Ich allerdings hatte die Chance, einem solchen Nachbild die Hand zu geben, einem Urbild also als ausgeführter Figur. Verzeihen Sie diese Terminologie. Aber der Prozeß um das Verbot eines Buches, der mich ein wenig qualvoll in einer w i e d e r anderen Welt beschäftigt, drängt sie mir auf.
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albannikolaiherbst - Donnerstag, 9. Dezember 2004, 09:13- Rubrik: ARGO-ANDERSWELT
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Für Adrian Ranjit Singh v. Ribbentrop,
meinen Sohn.
Herbst & Deters Fiktionäre:
Achtung Archive!
DIE DSCHUNGEL. ANDERSWELT wird im Rahmen eines Projektes der Universität Innsbruck beforscht und über >>>> DILIMAG, sowie durch das >>>> deutsche literatur archiv Marbach archiviert und der Öffentlichkeit auch andernorts zugänglich gemacht. Mitschreiber Der Dschungel erklären, indem sie sie mitschreiben, ihr Einverständnis.
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E R E I G N I S S E :
# IN DER DINGLICHEN REALITÄT:
Mittwoch, den 5. April 2017
Bremen
Studie in Erdbraun
Mit Artur Becker und ANH
Moderation: Jutta Sauer
>>>> Buchhandlung Leuwer
Am Wall 171
D-28195 Bremen
19 Uhr
Sonnabend, 23. September 2017
Beethovenfest Bonn
Uraufführung
Robert HP Platz
VIERTES STREICHQUARTETT
mit zwei Gedichten von Alban Nikolai Herbst
>>>> Beethovenhaus Bonn
Bonngasse 24-26
D-53111 Bonn
16 Uhr
NEUES
Bruno Lampe - 2017/03/29 19:48
III, 280 - Bei Äskulap
Gegen zwei löste ich mich kurzentschlossen vom Schreibtisch. Es war nichts mehr abzuliefern. Aber die ... Die in einem ...
... Deckenlabyrinth sich mäandernde Inschrift...
Bruno Lampe - 2017/03/28 21:42
Vielhard, Leichtgaard:
albannikolaiherbst - 2017/03/28 07:53
Bruno Lampe - 2017/03/27 20:43
III, 279 - Oder auch nicht
Kühler Nordwind. Die Sicht ging bis zu Sant’Angelo Romano weit unten im Latium. Jedenfalls vermute ich ... Bruno Lampe - 2017/03/24 19:55
III, 278 - Einäugigkeiten und Niemande
Ein Auge fiel heraus, abends beim Zähneputzen. Es machte ‘klack’, und der Zyklop sah nur noch verschwommen. ... Danke, gesondert, an...
bei der sich in diesem Fall von einer "Übersetzerin"...
albannikolaiherbst - 2017/03/24 08:48
albannikolaiherbst - 2017/03/24 08:28
Schönheit. (Gefunden eine Zaubernacht). ...
Es juckt sie unter der Haut. Es juckt bis in die
Knochen. Nur, wie kratzt man seine Knochen?
Sein ... Bruno Lampe - 2017/03/22 19:39
III, 277 - Die Hühner picken
Irgendwas ist schiefgelaufen seit dem 9. März. Man könnte es so formulieren: die Verweigerung der Worte ... ich hör' ein heer...
ich hör’ ein heer anstürmen gegens...
parallalie - 2017/03/21 06:51
Ich höre berittene...
Ich höre berittene Landsknecht sich ballen vorm...
albannikolaiherbst - 2017/03/21 06:18
albannikolaiherbst - 2017/03/21 06:12
James Joyce, Chamber Music. In neuen ...
XXXVI.I hear an army charging upon the land,
And the thunder of horses plunging, foam about their knees: ... den ganzen tag lärmen...
den ganzen tag lärmen die wasser
ächzen schon
trist...
parallalie - 2017/03/18 09:55
Den ganzen Tag hör...
Den ganzen Tag hör ich des brandenden Meeres
Klagenden.. .
albannikolaiherbst - 2017/03/18 08:23
JPC

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Zuletzt aktualisiert am 2017/04/01 07:33
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