Kette. (2).
Jeder Schritt, der mir gelingt, wirbelt, wie Staub, ganze Hocken vergessener Zeit auf, die sich erst langsam wieder über Boden und Gegenstände zurücklegt. Ich bin schwerer als die Dinge, noch immer, schwerer als diese Zeit, weshalb sie dazu neigt, sich in kleinen schrägen Haufen an meine Füßen zu lagern: Das ist es, nicht etwa der Filz, was sie so festhält. Ich muß nur lange genug an einer Stelle stehenbleiben. Man kann es fast sehen. Meist aber folgt der Zeitstaub der ungleich massiveren Gravitation dieser Bilder. Die auch auf mich wirkt, auf etwas in mir, das aus meinen Augen, meinen Ohren, aus Mund und Nase entweichen will. Doch immer noch nicht kann. Jedenfalls nicht, begebe ich mich nicht endlich wieder auf diesen Tisch zurück. Noch schau ich stur die Stilleben an. Viel totes Tier. Rißzeichnungen, anatomische Studien. Jagdszenen, auf denen Eber verbluten. Ein Schlachtpanorama, deutlich an Tübke gemahnend. Dazwischen Früchte und Schalen. Zerlegte Insekten von Modellflugzeuggröße. Gräser und Obst. Meditationen über Muskeln und Sehnen, wie DNS in sie verdreht. Sie könne sich bemühen, wie immer sie wolle, hatte mir die Dame erzählt, immer fehle dem Abbild das Leben. Imgrunde sei ihr keines dieser Bilder gelungen. „Es ist keine Frage des Handwerks, verstehen Sie das? Ich bin überzeugt, es liegt am Modell.“ Doch ich, ja, ich, davon sei sie überzeugt, könne ihr helfen. Wenn ich denn wolle. Es stehe außerhalb ihrer Macht, mich zu zwingen. Man müsse bereit sein, alles andere wäre vergeblich, so oder so. „Sie sind ein so schöner Mensch! Und ein kluger Mensch! Sie werden sie mir zeigen, werden sie mich malen lassen: Ihre Seele. Nur darum, nur um Seele, geht es mir. Keinem Künstler, der das auch w a r, ist es je um etwas andres gegangen. Nur darum tragen wir alle das Risiko wie eine ständige“, sie hob die Fingerrücken zur Schläfe, „Migräne: daß wir das tiefste Innere unserer Gegenstände verfehlen.“
[Die Niedertracht der Musik.]
[Die Niedertracht der Musik.]
albannikolaiherbst - Dienstag, 2. November 2004, 15:26- Rubrik: Arbeitsjournal
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