Blog vom 5.11.
Ein paar Gedanken über Blicke
Najem Wali erzählt mir eine Geschichte: Im Februar sei er mit anderen europäischen Schriftstellern in Tunis zu Gast gewesen. Organisiert habe die Reise die EU-Kommission, wobei der zuständige Beamte aufgrund islamistischer Anschläge in jüngerer Vergangenheit Sorge hatte, ob die Sicherheit der Teilnehmer gewährleistet sei. Vielleicht, so sein Argument, sei es doch besser, man treffe sich in Brüssel.
Man entschied sich dennoch für Tunesien, die Konferenz verlief ohne Zwischenfälle. Kurz darauf, am 22 März, wurde der besorgte EU-Beamte in der Brüsseler Metro durch eine Bombe getötet. So tragisch diese Geschichte ist, man lernt aus ihr, dass Angst oft nicht auf Tatsachen gründet, sondern auf Vorstellungen. Die Angst des Beamten beruhte auf der Vorstellung, man begebe sich unweigerlich in die Hände islamistischer Terroristen, wenn man als Europäer ein muslimisches Land bereist. Es stimmt schon, es sind in Tunesien gezielt Europäer getötet worden, in Madrid, London, Paris und Brüssel allerdings auch. Dennoch – und jetzt spreche ich von mir und vermutlich von den meisten Bürgern Europas, die kaum Erfahrungen haben mit dem Maghreb und dem Nahen Osten – fühlt man sich im christlich-abendländischen Kontext sicherer und aufgehobener als in Tunis, Kairo oder Amman.
Dass das so ist, hat mit kultureller Prägung zu tun, Najem Wali und Mathias Énard haben am Freitagabend darüber gesprochen - Stichwort Orientalismus. Damit ist der kulturell vermittelte Blick westlicher Gesellschaften auf den Nahen Osten und die arabischen Länder gemeint. Ein Blick, der im 19. Jahrhundert romantisierend und exotisierend auf Leinwänden, in Gedichten und Prosa, etwas später dann auch im Film festgehalten wurde. Es war ein überlegener Blick, wie der kultivierte Vater auf das ungezogene Kind schaut, dem er einerseits christenmenschliche Zucht und Ordnung beibringt, in welches er andererseits seine Sehnsüchte nach einem gefühlten Ursprung, nach einer diffusen Sinnlichkeit projiziert. Sehnsüchte, die er sich selbst wieder austreiben muss, indem Schönheit und Sinnlichkeit mit Gefahr und Heimtücke belegt werden. Odysseus bindet sich am Mast des Schiffes fest, um sich nicht den unwiderstehlichen Sirenen hinzugeben, der vom Orientalismus angefixte Europäer hat daraus das Recht abgeleitet, den Orient zu domestizieren. Der Orientalismus hat die Muslime klein gemacht und klein gehalten. Und wenn ich gestern in Bezug auf Robert Menasse geschrieben habe, dass eine wesentliche Erfahrung des Schriftstellers seine Machtlosigkeit ist, muss ich doch zugeben, dass die Literatur – weit mehr als die Malerei – in Sachen Orientalismus von enormer Nachhaltigkeit war. Jedenfalls so lange, bis Literatur aus dem arabischen Raum und dem Nahen Osten in Europa wahrgenommen wurde. In Deutschland und Österreich war das sowieso bis zur Jahrtausendwende terra incognita. Wenn man etwas kannte, dann Bücher von Exilanten in Frankreich wie Tahar Ben Jelloun, Adonis oder Assia Djebar. Selbst die Arabische Welt als Gastland bei der Frankfurter Buchmesse 2004 hat kein gesteigertes Interesse generiert. Es war, als wollte man sich die Vorstellung des Orients von Autorinnen und Autoren aus den betreffenden Ländern nicht kaputt machen lassen. Dazu passt die Bemerkung der deutsch-arabischen Schriftstellerin und Übersetzerin Rasha Khayat, dass bei der diesjährigen Frankfurter Buchmesse nicht ein einziges aus dem Arabischen ins Deutsche übersetztes Buch vorlag.
Das Paradoxe dabei ist, dass der ehemals literarisch vermittelte Orientalismus einem medial vermittelten gewichen ist. Kein ernstzunehmender Schriftsteller schreibt heute einen exotisierenden Morgenlandroman. Das wäre politisch schlichtweg inkorrekt. Allerdings – und jetzt bin ich wieder bei der Angst des EU-Beamten, die typisch ist für die Angst der meisten Europäer – ist in der Medienberichterstattung dieser Exotismus einem nicht minder nachhaltigen Brutalismus gewichen, bei dem es wie zu Zeiten des blühenden Orientalismus darum geht, einen Blick zu konstruieren. Einen Blick, der politisches Agieren notwendig erscheinen lässt.
Im Zuge der Balkankriege und der NATO-Angriffe auf Serbien in den neunziger Jahren hat Peter Handke darauf hingewiesen, dass das politische Eingreifen der Europäer und Amerikaner auf der medialen Konstruktion des westlichen Blicks auf DIE Serben beruht. Was als Verklärung des serbischen Volkes und vor allem seiner Führer von eben jenen Medien, die er kritisierte, missverstanden wurde, war der Versuch, den Menschen klar zu machen, dass eine Interessensgemeinschaft von Politik- und Informationseliten sich die Definitionshoheit über Gut und Böse unter den Nagel gerissen hat. Warum? Um das Versagen der Europäer wie auch der Großmächte angesichts des nachtitoistischen Zerfalls Jugoslawiens zu vertuschen. Mit Schadenfreude wurde der Kommunismus per Arschtritt aus Europa verabschiedet – bloß: in einem ethnisch so komplexen Gebilde wie Jugoslawien konnte das nicht gut gehen. Niemand wusste das übrigens so gut wie die Österreicher. Weil aber nicht sein kann, was nicht sein darf, musste Serbien als alleiniger Aggressor herhalten. Dass die Medien bei diesem zynischen Spiel mitmachen: darum ging es Peter Handke.
Worauf ich hinaus will ist: an diesem Spiel hat sich nichts geändert. So wie in den James-Bond-Filmen je nach Weltlage der Bösewicht ein Russe ist, ein karibischer Diktator, ein Chinese oder ein südamerikanischer Drogenboss, kreieren Medien – oder meinetwegen die Informationsindustrie mit ihren vielfältigen Kanälen – Bilder, die von uns Medienkonsumenten als Wirklichkeit wahrgenommen werden. Und sie scheinen gerade deshalb so wirklich, weil sie starke Emotionen vermitteln: Hass, Wut, Verzweiflung, aber auch die Entschlossenheit, die Festung Europa zu stürmen.
Wenn hier in Spitz also von Orientalismus gesprochen wird, aber auch von Kolonialismus (denn es geht ja nicht allein um Europa versus Muslime), dann kommt man nicht umhin zu sagen, dass es sich dabei nicht um historische, um überwundene, um mehr oder weniger aufgearbeitete Phänomene handelt, sondern lediglich um die Transformation des Blicks der einen auf die anderen. Und dass der Blick die Tat rechtfertigt (wie human/inhuman gehen wir mit den anderen um), ist eine historische Erfahrung. Wir sind auch Kolonisten, wenn wir zulassen, dass das Fremde in ein verzerrtes Bild gerückt wird.
Blog dated 5.11. (Translated by Suzanne Kirkbright)
Some Thoughts About Views
Najem Wali tells me a story. In February, he was invited to Tunis with other European writers. The visit was organized by the EU Commission. Because of recent attacks by Islamists, the responsible official was worried about guaranteeing security for the invited guests. Perhaps, he argued, it would be better to meet in Brussels after all.
In the end, the decision was taken to meet in Tunisia and the conference went ahead without incident. Shortly afterwards, on 22 March, the worried EU official was killed by a bomb in the Brussels Metro. As tragic as this story is, it highlights a lesson that fear is often founded not on facts but on imagined facts. The fear of this individual was grounded on the notion of inevitably falling into path of Islamist terrorists by travelling as a European in a Muslim country. While it’s true that Europeans have been deliberately targeted in Tunisia, the same is also true in Madrid, London, Paris and Brussels. Nonetheless – and now I speak for myself and presumably for most citizens in Europe who hardly have any experience of the Maghreb and Middle East – one feels safer in a Christian and Western context than in Tunis, Cairo or Amman.
The reason why this is the case is related to cultural conditioning. On Friday evening, Najem Wali and Mathias Énard alluded to this under the keyword of Orientalism. That means the culturally filtered view of Western societies in relation to the Middle East and Arab countries. In the 19th century, this view was captured in a romanticized and idealized exotic sense on canvases, in poetry and prose and then slightly later in film. It was a superior view, like a cultivated father who regards an unruly child in whom he instils in one sense Christian values and discipline, and on whom he projects in another sense his yearnings for an instinctive origin and diffuse sensualism. Yet again, he must exclude such longings by defining beauty and sensuality as danger and perfidy. Odysseus binds himself to the ship’s mast to avoid succumbing to the irresistible sirens; and the European mesmerized by Orientalism has derived from this the right to domesticate the Orient. Orientalism has diminished Muslims and kept them so. Yesterday, when I wrote in relation to Robert Menasse that the writer’s basic experience is his powerlessness, I actually have to admit that literature – more so than painting – proved tremendously sustainable in relation to Orientalism. At least, this was as long as literature from the Arab region and the Middle East was perceived in Europe. Anyway, in Germany and Austria this region was terra incognita until the turn of the century. If anything was familiar, then it was books by exiles in France like Tahar Ben Jelloun, Adonis or Assia Djebar. Even in 2004 when the Arab World was a guest country at the Frankfurt Book Fair no heightened interest was generated. It was as if there was no inclination to shatter the idea of the Orient by writers from the respective countries. This fits in with the comment made by the German-Arabic writer and translator, Rasha Khayat, that at this year’s Frankfurt Book Fair not a single book was showcased in Arabic–German translation.
The paradox here is that Orientalism previously filtered through the prism of literature has now given way to Orientalism filtered by the media. Today, no writer worth his or her salt writes an idealized exotic novel about the Orient. That would be politically just incorrect. Yet – and here I’m reminded of the poignant fear of the EU official that is typical of the anxiety felt by most Europeans – in media reports this exoticism has made way for no less sustainable brutalism, and here as in the heyday of Orientalism the very point is to construct a view. This particular view makes political action seem imperative.
In the course of the Balkan wars and NATO attacks on Serbia in the 1990s, Peter Handke pointed out that the political intervention of the Europeans and Americans was based on the media construction of the West’s view of THE Serbians. What was misconstrued as the transfiguring of the Serbian people and particularly its leaders by precisely those media, which he criticized, was the attempt to make it clear to the public that a lobby of political and media elites had secured the right to define good and evil. Why? To cover up the failure of the Europeans and major powers in the light of the post-Tito collapse of Yugoslavia. Communism was unceremoniously kicked out of Europe with a sense of malicious enjoyment – except that in an entity as ethnically complex as Yugoslavia this was not destined to end well. Incidentally, nobody knew this as keenly as the Austrians. But because what cannot exist ought not to exist, Serbia had to be made an example of as the sole aggressor. Peter Handke’s point was to expose how the media was complicit in this cynical game.
Finally, my message is that nothing about this game has changed. It’s like in the James Bond films where depending on the global situation the bad guy is a Russian, a Caribbean dictator, a Chinese man or a South American drug baron, so the media – or in my view the information industry and its multiple channels – create images that we media consumers perceive as reality. And they seem so real to us precisely because they convey intense emotions: hatred, rage, desperation, yet also determination to storm the Fortress Europe.
When the debate here in Spitz is about Orientalism or even Colonialism (because it’s not just about Europe versus Muslims) one cannot help stating that this is not about historical phenomena that are finished or more or less worked through, but purely about the transformation of the view of one in relation to the others. That the view justifies the deed (how humanely/inhumanely we interact with the others) is a historical experience. We are also colonizers when we tolerate a view of foreignness represented in a distorted image.