Blog vom 6.11.
Spitzer Lektionen
Der Frühling der Barbaren währt das ganze Jahr. Für sie ist immer Frühling, weil sie mit der Vorstellung leben, der Höhepunkt sei noch lange nicht erreicht. Sie verschicken ihre käsigen Körper in den Süden, in einen tunesischen Luxusferienclub etwa, und leben den maghrebinischen Dienstleistern vor, was es heißt, Sorgen zu haben. Eine Hochzeit um 250.000 Englische Pfund zu organisieren etwa oder den grotesken Tod einer Tochter zu verdrängen. Dafür lohnt es sich nun wirklich nicht, in einem notdürftig geflickten Boot übers Mittelmeer zu schippern. Schon Hannibal ist an Europa gescheitert. Anderswo in Europa hat eine Mutter ihr Kind ertränkt. Auch sie leidet. Weniger an ihrer Schuld, sondern vielmehr an der Sprachlosigkeit. Man kann auf diesem Kontinent niemandem sanktionsfrei erzählen, dass man eine Kindsmörderin ist. Da fährt man dann schon nach Afrika und schmiegt sich an einen jungen schwarzen Körper und befreit sich von der Last der ungeheuerlichen Tat. Dass an italienischen Stränden tote Körper angeschwemmt werden, schwarze Körper, Kinderkörper, wiegt da nicht so schwer. Das mag man nicht sehen und man will schon gar nicht darüber sprechen. Das ist Futter für die Gutmenschen. Die Europäer haben ohnehin andere Probleme. Sollen sie eine Republik werden? Sollen sie für oder gegen Freihandel sein? Sollen sie den Nationalismus verurteilen oder glauben sie ernsthaft daran, dass er sie vor dem Ansturm der Hannibals schützt?
Spitz an der Donau ist der Nabel Europas, bildlich gesprochen, weil der Ort zwischen dem Magen und den Genitalien der Donau liegt. Der Tausendeimerberg in Spitz heißt so, weil ein Eimer eine Maßeinheit der Winzer ist und ein 56-Liter-Fass meint. Der Ertrag aus den Trauben, die am Tausendeimerberg wachsen, entspricht etwa 56.000 Liter. Also tausend Eimer. Die Gastronomie- und Beherbergungsbetriebe sind ein schönes Beispiel dafür, was es heißt: sich selbst treu bleiben. Seit hier Mariandl gedreht wurde, hat sich nichts geändert. Außer W-LAN und Flachbildfernseher. Beim letzten Hochwasser wäre man übrigens in der Wirtsstube des Wachauerhofes – hätte der Wirt einen dort eingesperrt – zwangsläufig ertrunken.
Als Schriftstellerin aus Zimbabwe, die in Graz studiert hat und als Handelsrechtsexpertin bei der WTO in Genf arbeitet, muss man sich darauf einstellen, nichts weiter als eine Afrikanerin zu sein (Richard Lugner, ein österreichischer Barbar, der, wie viele Barbaren, viel Platz im Fernsehen hat, meinte einmal über einen seiner Opernballgäste: sie sei sehr intelligent, denn sie spreche Englisch und Afrikanisch). Oder eine Dealerin. Als in Deutschland geborene und lebende Tochter einer Deutschen und eines Saudi-Arabers mit entsprechend orientalisch anmutendem Namen, muss man sich immer wieder das Lob gefallen lassen, dass man doch wirklich gut Deutsch spreche. Die Sache mit dem Orientalismus ist noch immer nicht gegessen. Einen gewissen Reiz haben Muslime nur, wenn sie auf der anderen Seite des Mittelmeers Wasserpfeife rauchen und mit vierzehn Jahren anfangen, Großfamilien zu gründen. Wenn sie aber in unseren Schulklassen sitzen, geht selbst den liberal Gesinnten der Hut hoch. Unter Gleichgesinnten jedenfalls.
Najem Wali ist laut, erzählt ununterbrochen Geschichten und kennt jeden, den er nicht kennt. Ist er ein typischer Orientale? Hans-Christoph Buch sagt öfter Ich! als sein Gegenüber ein- und ausatmen kann. Ist er ein typischer Europäer?
Rüdiger Wischenbart sammelt Daten und erstellt Statistiken, um zu erklären, wer was wo liest und wie der Buchmarkt funktioniert. Ist das typisch österreichisch? Man sagt den Österreichern ja nach, dass sie einen schlampigen Umgang mit der Wahrheit haben, aber als Bürokraten sind sie unschlagbar. So wie mein Abbild im Datenmüll des Statistischen Zentralamts nichts über mich aussagt, so wenig hat Rüdiger Wischenbarts Diversity Report etwas mit Literatur zu tun. Aber Bücher sind eben auch eine Ware. Als Autor sieht man dieser Tatsache ungern ins Gesicht, aber fragen Sie einmal einen Buchhändler, bei welchen Umsatzzahlen seine Liebe zur Literatur erlahmt.
Wir müssen kein Land erobern, um Kolonisten zu sein. Wir müssen niemanden unterdrücken, um ihn klein zu machen. Es reicht, wenn wir ideologisch aufrüsten und Trennlinien definieren. Dazu müssen wir den europäischen Kontinent nicht verlassen. Wir machen aus dem Kontinent eine Festung und nehmen in Kauf, dass es innerhalb der Mauern nicht gut riecht. Wer Feinde außerhalb der Wehranlagen vermutet, die sieht sie auch innerhalb. Wir haben noch gar nicht über die innere Migration gesprochen, das Aufgeben, das Verstummen. Ausgewanderte gibt es auch in der Ersten Welt. Die haben keine Koffer gepackt, die haben bloß die Tür zugemacht. Möglicherweise denken sie darüber nach, was Zeit ist oder wie man sich im Kaninchenbau und hinter den Spiegeln zurecht findet.
Was würdest du mir bitte sagen, wie ich von hier aus weitergehen soll?
Das hängt zum größten Teil davon ab, wohin du möchtest, sagte die Grinsekatze.
Ach wohin ist mir eigentlich gleich, sagte Alice.
Dann ist es auch egal, wie du weitergehst, erwiderte die Katze.
Blog vom 6.11. (Translated by Suzanne Kirkbright)
Spitz Lessons
The “Frühling der Barbaren” or “Barbarians’ Spring” lasts all year round. It’s always Spring for them because they live with the notion that the best times are yet to roll. They farm out their sleazy bodies somewhere south, like a Tunisian luxury holiday resort, and act out for the Maghrebi hosts what it means to have worries. To organize a quarter-of-a-million-pound wedding, or to suppress the grotesque death of a daughter. It’s really not worth floating along across the Mediterranean in a haphazardly repaired boat. Hannibal already foundered over Europe. Elsewhere in Europe a mother drowned her child. She also suffers. Less for her guilt than the speechlessness. On this Continent no woman can own up to being a child murderer without penalties. Rather, one travels to Africa and nestles up to a young black body and feels a release from the burden of the monstrous act. The fact that corpses are washed up on Italian beaches, black bodies, children’s bodies, doesn’t weigh so heavily then. People don’t like to see it, and not even to talk about it. That’s fodder for the do-gooders. Anyway, the Europeans have other problems. Should they become a republic? Should they be for or against free trade? Should they condemn nationalism or do they earnestly believe it will protect them from the surge of the Hannibals?
Spitz an der Donau is the navel of Europe, metaphorically speaking, because the place is situated between the belly and genitals of the Danube. Spitz’ Tausendeimerberg (the “hill of a thousand buckets”) earns its name because a bucket is a vintner’s unit of measure and another way of describing a 56-litre barrel. The harvest from the grapes grown at the Tausendeimerberg is about 56,000 litres, or a thousand buckets. The hotel and restaurant trade are a good example of what it means: staying loyal to oneself. Nothing has changed since Mariandl was filmed here. Apart from WIFI and flatscreen televisions. During the last floods, incidentally – if the landlord had locked someone in the bar in the Wachauerhof – the person would inevitably have drowned.
As a Zimbabwean writer who has studied in Graz and works as a trade expert at the WTO in Geneva, one must be prepared to be nothing other than an African (Richard Lugner, an Austrian barbarian who, like many barbarians enjoys plenty of TV coverage, once said of one his guests at the opera ball: she was highly intelligent, as she spoke English and African). Or a dealer. As a daughter born and resident in Germany with a German mother and a Saudi Arabian father and with a suitably oriental-sounding name, one must develop the good grace to bear the constant praise of speaking excellent German. The issue about Orientalism has not yet been fully dealt with. Muslims only have a certain charm when they’re on the other side of the Mediterranean, smoking hookah and starting large families age fourteen. But when they’re sitting in our school classes, even liberal-minded folk feel outrage. Among like-minded folk, at least.
Najem Wali is loud, he incessantly tells stories and knows everybody whom he doesn’t know. Is he a typical Oriental? Hans-Christoph Buch says ‘I!’ more times than his counterpart can breathe in and out. Is he a typical European?
Rüdiger Wischenbart gathers data and compiles statistics to explain who is reading what and how the book market works. Is that typical Austrian? People say that the Austrians have a careless way of dealing with the truth, but as bureaucrats they are second to none. Just as my avatar-image in the data trash of the Austrian statistical office says nothing about me, Rüdiger Wischenbart’s Diversity Report has little to do with literature. By the way, books are also a commodity. As a writer, it isn’t so nice to stare this fact in the face, yet try asking a bookseller which sales statistics make his love of literature start to fade.
We don’t have to conquer any country to be colonizers. We don’t have to suppress anybody to make him small. It’s enough if we ramp things up ideologically and define the red lines. To do that, we have no need to leave the European Continent. We make the Continent into a fortress and accept the fact that it doesn’t smell nice inside the walls. Those who suspect enemies outside the ramparts will also see them inside. We haven’t even got round to talking about inner migration, about giving up and falling silent. Migrants also exist in the First World. They haven’t packed any suitcases; they’ve only closed the door. Possibly, they’re thinking about the nature of time or how one finds one’s way in a rabbit warren and behind the looking-glass.
‘Would you tell me, please, which way I ought to go from here?’
‘That depends a good deal on where you want to get to’, said the Cheshire Cat.
‘I don’t much care where–’ said Alice.
‘Then it doesn’t much matter which way you go’, said the Cat.