poetenladen    poet    web

●  Sächsische AutobiographieEine Serie von
Gerhard Zwerenz

●  Lyrik-KonferenzDieter M. Gräf und
Alessandro De Francesco

●  UmkreisungenJan Kuhlbrodt und
Jürgen Brôcan (Hg.)

●  Stelen – lyrische GedenksteineHerausgegeben
von Hans Thill

●  Der gelbe AkrobatGedichtkommentare
Braun / Buselmeier

●  ZeitschriftenleseMichael Braun und
Michael Buselmeier

●  SitemapÜberblick über
alle Seiten

●  Buchladenpoetenladen Bücher
Magazin poet ordern

●  ForumForum

●  poetenladen et ceteraBeitrag in der Presse (wechselnd)

 

Ann Cotten
Rosa Meinung

In des Landgerichtes Fotze
geh ich als ein blasser Traum,
Frau ist alles, was ich kotze,
lauter Wahrheit dieser Raum.

Dass man mir mein Schwärmen nähme
denk ich, aber glaub es kaum:
Dieser Prunk im schmalen Schoße
ist der Trödelväter Schaum.

Wenn ich nur die Arme breite,
ächzt er wie ein Eichenbaum,
kracht in brüchig tausend Scheite,
schäumt, dass ich, Blitz, ihn ableite.

Brenn zu Asche, mich zu wärmen!
(Denn ich will von Deutschland lernen.)


  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 23

Michael Braun
Von Deutschland lernen?



Dieser Text provoziert zunächst durch seine Drastik. Die rohe Benennung des weiblichen Ge­schlechts­organs gleich in der ersten Zeile scheint eine porno­grafi­sche Pointe vor­zu­bereiten. Die An­rufung des Geschlechts wird aber appli­ziert auf eine Insti­tution des Rechts. Bei dieser kalku­lierten Irri­tation bleibt es nicht. Ro­man­tik und Vul­garität, lyrische Feier­lich­keit und harte Zote stoßen in der ersten Stro­phe mehr­fach zusammen. Auf die paradox erschei­nen­de Kombi­nation der „Fotze“ mit dem „Land­gericht“ folgt zunächst ein fast begü­tigend-melancho­lischer Vers, in dem sich das Ich wie in den Gedichten Else Lasker-Schülers oder Emmy Ball-Hen­nings als „ein blasser Traum“ imaginiert. Darauf lässt Ann Cotten aber sofort wieder eine kämpfe­rische und radikal exhi­bitionis­tische Zeile folgen, die einen un­ortho­doxen Femi­nis­mus lanciert: „Frau ist alles, was ich kotze.“ Bereits der Titel des Ge­dichts formu­liert ja eine iro­nische Liebes­erklä­rung, eine „rosa Meinung“, wenn man hier die mittel­alter­liche Bedeu­tung des Verbs „meinen“ im Sinne von „lieben“ gel­tend machen will.
  Diese schroffen Tonwechsel passen zu einer Autorin, die nichts so sehr liebt wie die ästhe­ti­sche Attacke, den Über­ra­schungs­angriff auf die lite­rarische Kon­ven­tion.
  „Sprache und Überfall“, hat die Ann Cotten ein Kapitel aus dem kol­lektiv ver­fass­ten Poetik-Buch „Helm aus Phlox“ (2011) über­schrieben. In dieser Reflexion auf das Ver­häl­tnis von Sprache und Gewalt ist auch ein Konzept ästhe­tischer Unbe­rechen­bar­keit ein­ge­schrieben, das bewusst die Außer­kraft­setzung der kon­ven­tionellen Sprac­hor­dnun­gen anstrebt. Cotten ver­folgt einen sprach­mate­rialis­tischen Ansatz, der im Zweifels­fall die auf Kohärenz gebaute, irri­tations­frei dahin­fließende Sprache dere­guliert oder gleich blo­ckiert: „Ein gutes Buch blo­ckiert also den Lite­ratur­betrieb.“ Was für die lite­rarische Praxis be­deutet: Die tra­dierten Sprech­weisen und meta­phori­schen Reper­toires der Dicht­kunst sollen in ästhetisch wider­borstigen, in anti­gramma­tischen und traves­tie­renden Ver­fahren auf ihre Halt­bar­keit geprüft werden.
  Das Gedicht „Rosa Meinung“ entstand nach einem Besuch der Autorin im Jugend­stil-Bau des Land­gerich­tes Berlin, dessen Ei­ngangs­halle durch zwei im Aufbau iden­tische Treppen beherrscht wird. Die Treppen mit ihren üppigen Orna­menten, auf­fäl­ligen flo­ralen Mustern und schmiede­eiser­nen Gelän­dern scheinen sich wie Wasser­fälle in die Halle zu ergießen. Eine Foto­grafie von Alexander Paul Englert zeigt Ann Cotten, wie sie sich lässig in diesem Jugend­stil-Prunk bewegt, ohne vom archi­tekto­nischen Pathos über­wältigt zu werden. Das Gedicht frei­lich setzt ein mit einem ag­gres­siven Gestus und ver­knüpft dann die romantische Volks­lied­strophe mit einem Voka­bular der ob­szönen Drastik. Zunächst erlebt sich das Subjekt als Wanderer in den Intim­zonen der deutschen Justiz. Je weiter das Gedicht fort­schrei­tet, desto empha­tischer schreibt sich das Ich ein in die Topoi und Töne der Romantik. Die Re­mini­szenz an den „Eichen­baum“ zitiert ironisch ein Gedicht Hein­rich Heines und dessen wehmütigen Rück­blick auf sein verlorenes Vater­land: „Ich hatte einst ein schönes Vaterland. / Der Eichenbaum / Wuchs dort so hoch, die Veilchen nickten sanft.“ Nun hat sich Ann Cotten, die 1982 in Iowa geborene und in Wien auf­ge­wachsene Dichterin, an ihre Wahlheimat Deutsch­land und deren romantische Tra­ditions­bestände heran­geschrieben. Der „brüchig“ gewordene Ei­chen­baum verbrennt indes in ihrer provokativen Poesie zu Asche, so dass auch die Confes­sio der Schluss­strophe ambi­valent bleibt. Nach den poetischen Volten, die das Gedicht schlägt, klingt das Be­kennt­nis, von Deutsch­land „lernen“ zu wollen, wie ein Hohn. *

Ann Cotten, geboren 1982 in Ames/Iowa (USA), lebt in Berlin. 2006 promo­vierte sie mit einer Arbeit über „die Listen der konkreten Poesie“. 2010 erschien ihr Band „Florida-Räume“ (Suhr­kamp Verlag). Das Gedicht „Rosa Meinung“ ist dem Foto-Band „Momen­tum – Dichter in Szenen“ (Wienand Verlag) von Alexander Paul Englert entnommen, den Jutta Kaußen mit einem kundi­gen Nachwort versehen hat.




Zarathustrischer Kniestil
* Kommentar von Ann Cotten

Zunächst hat die Interpretation von Michael Braun bei mir feuer­züngelnde Indignanz hervor­gerufen, erst bei der dritten Lektüre habe ich mich an die durchaus sanften und subtilen Töne heran­gehört, die die Inter­pretation aus­sendet, sofern nur die Wasser des akade­mischen Kanals die Barke tragen. „Auf Halt­barkeit geprüft“ – „Kalku­lierte Provo­kation“ – Es sind Phrasen, die mich beim ersten Lesen vor Wut schnauben lassen, aber mit dem selben Wohl­wollen gelesen, den ich von einer Lektüre will, können sie auch duften: der Verfasser meint etwas damit. Er will nicht bloß genügen. Das darf ich nie vergessen. Das meine ich mit von Deutschland lernen: wie man gewisse Herb­heiten in eine ruhige Ecke bringt, um ihren süßen Duft wahr­zunehmen. Kann sein, dass ich dafür Japan brauche.

Die eine Referenz, die eigentlich ins Auge knallen müsste, hat der Inter­pret gewiss ver­schwiegen, um seine Leser nicht mit redun­danten Hinweisen vor den Kopf zu stoßen, es sei dennoch hier, aus Lieb­haberei, erwähnt, Nietzsches „Ecce Homo“ steht natürlich mit riesen­großem Schatten hinter diesem Gedicht. Nämlich nicht nur durch richtig­gehende Satz­schab­lonen, sondern massiv auch durch das Metrum, die weib­lichen Vierheber: „Licht wird alles, was ich fasse, Kohle alles, was ich lasse, Flamme bin ich sicher­lich!“ Hier spricht das Ich schlecht­hin. Wenn man das Gedicht feminis­tisch lesen möchte (ist der Feminismus nicht notwendig unortho­dox, wenn er nicht belämmert sein will? // Ach, gilt das nicht für das Leben generell?) könnte man meinen, ich lasse das Ich schlechthin diesmal in nicht­phalli­schen Bildern sprechen, wobei das für mich bloß bedeutet, ein über­treibendes Phallus­erkenn­programm in der Hierarchie herabzustufen. Denn ein Blitz in einer hohlen Welt, ist das nun Klitoris oder Schwanz? Man weiß es nicht. Im Gericht steckt das Ich natürlich sprach­lich immer drin, bildlich gesehen mag es nahe­liegen, den Schwanz mehr mit dem Knüppel, das Gericht mit der Vagina zu identi­fi­zieren, jedoch würde ich mich ent­schieden weigern, mich mit dem Gericht zu iden­ti­fi­zieren, bin im Gericht un­gerecht bis zum Verbrechen und jedenfalls unbefugt, also, wenn man so will, gehe ich darin als ungerecht, will­kürlich flam­mender Kitzler. Bleibt noch auf die beiden in der Archi­tektur integrierten Öfen hinzu­weisen, die vermut­lich zur Behei­zung dieser rie­sigen Halle vor­gesehen sind, obwohl ich nicht wüsste, ob sie jemals in Betrieb genommen worden sind.

Wichtig erscheint mir auf den Ernst des Schlusses zu pochen, der nicht als Hohn gemeint ist. Wenn man mir das sagt, dass es wie Hohn erscheint, kann ich es nur als Vorwurf lesen: dass ich mich so aufgeführt habe, dass man mir meine auf­rich­tigen Regungen nicht mehr abnimmt. Die letzten zwei Zeilen drücken aber von meiner Seite ein zärt­liches, wenn auch brutales, jedenfalls ernst­gemeintes Verhältnis zu den älteren Genera­tionen, ihren Gerichten, ihrem Logos, ihren Öfen und Symbolen aus.

Ann Cotten


Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (1. Band)
100 deutsche Gedichte der Gegenwart,
kommentiert
Taschenbuch
360 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2011

Weitere Details   
portofrei online   

  M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (3. Band)
60 deutsche Gedichte der Gegenwart,
kommentiert
Broschiert mit farb. Vorsatz
216 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2019

Weitere Details   
portofrei online   

 


08.11.2012



 

Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Ann Cotten
Liste
Gefördert vom
Deutschen Literaturfonds



  102   Brigitte Oleschinski
    
wie die Wörter auftauen
  101   Franz Josef Czernin
    
dunkel ortlos, hergezogen
  100   Johann P. Tammen
    
Ein Poet nimmt Platz
  99   Joseph Kopf
    
Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn
  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
  97   Sandra Burkhardt
    
Die Bahn einer Meeresschildkröte
  96   Ernst Blass
    
An Gladys
  95   Michael Buselmeier
    
Holzpuppe
  94   Heiner Müller
    
Traumwald
  93   Thomas Böhme
    
Neunundzwanzigster Februar
  92   Katrine von Hutten
    
Beschreibung
  91   Dieter M. Gräf
    
Nach Mattheuer
  90   Arnfrid Astel
    
Leda
  89   Michael Krüger
    
Im Winter
  88   Ralph Dutli
    
Salzzauber
  87   Christiane Heidrich
    
Today I am functional (1)
  86   Wulf Kirsten
    
die rückkehr der wölfe
  85   Maren Kames
    
Im Siel
  84   Gregor Laschen
    
Drüben, im ›Winkel von Hardt‹
  83   Christoph Wenzel
    
ländlich, der mundraum
  82   Werner Lutz
    
Ja, bin unterwegs
  81   Kenah Cusanit
    
Gottesgedicht, unberuhigt
  80   Sascha Kokot
    
sobald die Stadt ...
  79   Ror Wolf
    
Dritter unvollständiger Versuch
  78   Horst Bingel
    
Felsenmeer
  77   Tristan Marquardt
    
nachts, ich laufe nach hause
  76   Harald Gerlach
    
Gründe, linkselbisch
  75   Birgit Kreipe
    
schienen stillgelegt
  74   Hanns Cibulka
    
Böhmischer Rebstock
  73   Karin Fellner
    
Eine Zeitfalte weiter
  72   David Krause
    
Wolken
  71   Jürgen Nendza
    
An manchen Tagen
  70   Harry Oberländer
    
kurz vor der revolution
  69   Mara-Daria Cojocaru
    
Ich bin
  68   Hilde Domin
    
Antwort
  67   Elisabeth Borchers
    
Zukünftiges
  66   Günter Herburger
    
Großjean, der aus einem ...
  65   Georg Leß
    
Kondorlied
  64   Thomas Kling
    
Tessiner beinhaus. wandbild
  63   Rainer René Mueller
    
Da ist es
  62   Ernst S. Steffen
    
Man sagt
  61   Henning Ziebritzki
    
Elster
  60   Jürgen Brôcan
    
Fremde ohne Souvenir
  59   Carolin Callies
    
wackersteine im wams
  58   Friedrich Ani
    
Versehrte Verse
  57   Elke Erb
    
»Ursprüngliche Akkumulation«
  56   Uwe Kolbe
    
Heidelberg, den 14ten August
  55   Sonja vom Brocke
    
Kunde
  54   Sünje Lewejohann
    
krähen
  53   Jan Wagner
    
im brunnen
  52   Susanne Stephan
    
Frontier
  51   Silke Scheuermann
    
Uraniafalter
  50   Mirko Bonné
    
Der Zischelwind
  49   Judith Zander
    
fürs erste leb im später
  48   Andreas Rasp
    
diese steine hier
  47   Marcus Roloff
    
hl. grab, eingang wahlkapelle
  46   Clemens J. Setz
    
Motte
  45   Martina Weber
    
jetzt, da die letzten bilder verschwunden sind
  44   Paul Zech
    
Der Nebel fällt
  43   Klaus Merz
    
Expedition
  42   Christian Lehnert
    
Du bist die Aussicht  ...
  41   Àxel Sanjosé
    
Zum Abschied hell ...
  40   Ulrike Draesner
    
feld elternlos
  39   Ursula Krechel
    
Weiß wie
  38   Heinrich Detering
    
Kilchberg
  37   Hendrik Rost
    
Requiem
  36   Walle Sayer
    
Vom Flüchtigschönen
  35   Nico Bleutge
    
grauwacke
  34   Rolf Haufs
    
Kinderjuni
  33   Thomas Rosenlöcher
    
Die Hoffnungsstufen
  32   Jan Koneffke
    
Dem toten Kind in einer Oktobernacht
  31   Arne Rautenberg
    
drei amseln
  30   Oskar Loerke
    
Ans Meer
  29   Jean Krier
    
„Alles ist in den besten Anfängen“
  28   Werner Laubscher
    
Winterreise. Wintersprache
  27   Wolfgang Schlenker
    
stichwort minimieren
  26   Christoph Meckel
    
Kind
  25   Günter Grass
    
Die Vorzüge der Windhühner
  24   Jürgen Theobaldy
    
Blume mit Geruch
  23   Ann Cotten
    
Rosa Meinung
  22   Horst Samson
    
Edoms Nacht
  21   Christian Steinbacher
    
Belegte Brotzeit
  20   Bianca Döring
    
Allein
  19   Simone Kornappel
    
muxmäuschen
  18   Jörg Burkhard
    
in gauguins alten basketballschuhen
  17   Konstantin Ames
    
dreißig lenze
  16   Wilhelm Lehmann
    
Auf sommerlichem Friedhof
  15   Joachim Zünder
    
Die Finnische Bibliothek
  14   Kathrin Schmidt
    
waage, vorm wasser
verchromt, gestählt
  13   Marion Poschmann
    
latenter Ort
  12   Rainer Malkowski
    
Bist du das noch?
  11   Gerhard Falkner
    
die roten schuhe
  10   Wolfgang Hilbig
    
Pro domo et mundo
  9   Katharina Schultens
    
die möglichkeit einer verwechslung ...
  8   Michael Donhauser
     Lass rauschen Lied ...
  7   Ulrich Zieger
     an den vater von sem,
  6   Elisabeth Langgässer
     Erster Adventssonntag
  5   Levin Westermann
     wie ein fresko
  4   Dirk von Petersdorff
     Raucherecke
  3   Ulrich Koch
     Danke
  2   Steffen Popp
     Fenster zur Weltnacht
  1   Adolf Endler
     Dies Sirren
     
Neue Folge