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Dieter M. Gräf
Nach Mattheuer

auch die Tulpen: ab
geschnitten, liegen auf

dem ewiglangen, weiß
bezognen Tisch, auf

dem der Kuchen stehen
könnte, wär man tot.

So ganz allein dahin
gemalt, bestraft

mit dünnschissfarbnem
Hintergrund: hervor

gehoben. Niedergeschlagen
die Augenlider. Wir bitten

um ein neues Bild, nun
mit verdorrten Tulpen,

um eine weitere Aus
zeichnung. Dann

um ein Bild mit leerem
Fleck statt Blumen;

eins ohne sie, das
nächste: auch noch

ohne Tisch; die Aus-
gezeichnete im Westen – –


(Die Ausgezeichnete, 1973/74)


  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 91

Michael Braun
Das falsche Rot der Utopie



Es ist eine Szene von großer Einsamkeit. Eine ältere Frau mit kurzen, ergrauten Haaren sitzt mit gesenkten Augen an einem Tisch, vor ihr ein bescheidener Blumenstrauß, ein paar rote Tulpen. Die Frau wirkt müde und erschöpft, das weiße Tischtuch, auf das ein Schlagschatten fällt, trennt sie von der Welt und von dem Betrachter. Wolfgang Mattheuer (1927–2004), der prominente DDR-Maler, hat sein 1973/74 entstandenes Bild »Die Ausgezeichnete« genannt. Es sorgte damals für Furore, denn die DDR-Kulturpolitik rieb sich an diesem Bild, das sich so demonstrativ abwandte von der Imago einer strahlenden Heldin der Werktätigen. Es geht aber in Mattheuers Bild nicht nur um die Kluft zwischen der strahlenden Verkündigung des entwickelten Sozialismus und der kargen Realität des SED-Staats, sondern auch um ein universelles Bild des Alleinseins, der Verlorenheit mitten in der blinden Geschäftigkeit des Sozialen. Der Dichter Dieter M. Gräf radikalisiert im vorliegenden Gedicht das Zeitbild des Malers. Die einsame »Ausgezeichnete«, die in Mattheuers Bild so isoliert und entrückt wirkt, wird imaginativ in die Zukunft des wiedervereinigten Deutschland projiziert. Das Porträt der »Ausgezeichneten«, so suggeriert Gräf in einer bösen Volte, hätte im neuen Deutschland keine Kontur mehr, stattdessen vollzöge sich ihre unaufhaltsame Auslöschung. So hat die »Ausgezeichnete im Westen« konsequenterweise kein Gesicht mehr, sie ist in ihrer Individualität von der Bildfläche getilgt. In der Logik des Gedichts schreitet dieser Prozess der Aushöhlung jeglicher Individualität immer weiter fort, am Ende bleibt nur ein leerer Stuhl zurück, ein Fleck oder das weiße Tischtuch.
  Dieter M. Gräf hat in seinem opulenten Gedicht- und Foto-Band »Falsches Rot« (2018) viele solcher geschichtsarchäologischen Expeditionen zu den Urszenen deutscher Geschichte komponiert. In akribisch gestalteten Langgedichten widmet er sich den Apologeten des autoritären Sozialismus, so etwa dem primären Hofdichter der DDR, Johannes R. Becher. Hier kann man sehr gut das poetische Verfahren studieren, mit dem Gräf arbeitet: viel O-Töne, purer Geschichtsstoff, Materialien und Zitate aus Zeitdokumenten, Briefen oder Tagebüchern finden Eingang in die Gedichte, werden in schroffer Fügung verbunden und mit scharfkantigen Reflexionen des Autors zusammengeführt. Das vorliegende Gedicht arbeitet mit Zweizeilern von protokollarischer Strenge, die mit schroffen Enjambements kaleidoskopisch miteinander verknüpft sind.
  Seit einiger Zeit kombiniert Gräf seine Gedichte mit Fotografien, die er ohne großen artistischen Aufwand mit seinem iPhone herstellt. »Das Fotografieren«, so schrieb er 2016 in einem Essay, »entwickelte einen Sog, der mich verblüfft, und nun bin ich kein richtiger Dichter mehr (...), sondern einer, der schreibt, publiziert, fotografiert, postet und ausstellt.« Auch sein Band »Falsches Rot« ist in dieser Hinsicht ein Hybrid-Buch. In den drei großen Kapiteln des Bandes, hier als »Räume« markiert, startet Gräf wieder seine geschichtsarchäologischen Expeditionen zu den neuralgischen Punkten deutscher Geschichte, wobei auf einzelne Gedichte jeweils eine Fotostrecke folgt. So widmet er sich etwa den Apologeten des autoritären DDR-Sozialismus, in einem überaus intensiven Stück auch dem primären Hofdichter der SED, Johannes R. Becher. In diesem Gedicht lässt Gräf all die Wirrnisse des Parteikommunisten nochmal aufleuchten. Nach einer Phase übelster Drogensucht mutierte der begabte Expressionist Becher, der als Schüler seine Geliebte erschossen hatte, zum Parteigänger der KPD und verfasste später grässlichste Hymnen auf Stalin. Aber auch die falschen Propheten des Westens haben in Gräfs Geschichtspoemen ihren Auftritt, besonders die schrillen Stimmen der RAF: Ulrike Meinhof und Andreas Baader, der darin als hemmungsloser »Leader« firmiert.

Dieter M. Gräf, geboren 1960 in Ludwigshafen am Rhein, lebt in Berlin. Veröffentlichte zwischen 1994 und 2004 im Suhrkamp und Insel Verlag drei Gedichtbände und eine Anthologie mit transzendenter, utopischer Poesie, zuletzt erschien der Band Falsches Rot (Brueterich Press, 2018), dem auch das vorliegende Gedicht entnommen ist. Seit 2008 arbeitet Gräf auch mit Fotos, seit 2013 Ausstellungsprojekte, insbesondere Die große Chance / The Big Chance / 光 (Three Shadows Photography Art Centre, Peking 2014). Gräf wurde vielfach ausgezeichnet, z.B. mit dem Leonce-und-Lena-Preis der Stadt Darmstadt (1997) und dem Pfalzpreis für Literatur (2006).

Wir danken Autor und Verlag für die Wiedergabe im Kontext des Gedichtkommentars.

01.07.2018




Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (1. Band)
100 deutsche Gedichte der Gegenwart,
kommentiert
Taschenbuch
360 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2011

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  M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (3. Band)
60 deutsche Gedichte der Gegenwart,
kommentiert
Broschiert mit farb. Vorsatz
216 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2019

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Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Dieter M. Gräf
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Neunundzwanzigster Februar
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Beschreibung
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Versehrte Verse
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Heidelberg, den 14ten August
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