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Arne Rautenberg
drei amseln

die
  jungfrau
    züchtigt
      das
        jesuskind

drei
  amseln
    flüchtig
      schweigen
        im
          wind


  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 31

Michael Braun
Zeugen der Gewalt



Ein blasphemischer Schock wird uns hier zuge­mutet. Die Jungfrau Maria hat alle Demut und Zurückhaltung abgestreift und holt aus zum harten Schlag auf den nackten Hintern des Jesus­kinds. Die Liebe wird ersetzt durch schwar­ze Päda­go­gik – und bereits das erotische rote Kleid Marias macht deutlich, dass hier keine christ­lichen Ideale mehr zelebriert werden, sondern sehr profane Egoismen. Im Hinter­grund lugen drei Zeugen durchs Fenster und be­obachten die wunderliche Szene: die drei Sur­realisten André Breton, Paul Elouard und Max Ernst.
  So hat es Max Ernst auf seinem aufsehener­regenden Gemälde „Die Jungfrau züch­tigt das Jesuskind vor drei Zeugen“ im Jahre 1926 festgehalten. Er vollzieht damit gleich einen doppel­ten Tabu­bruch: Die religiöse Über­lieferung wird ebenso auf den Kopf gestellt wie auch die Tradi­tion der christlichen Ikono­graphie. Als boshafte Pointe kommt hinzu, dass dem malträtierten Jesuskind der Heiligen­schein abhanden gekommen ist; auf Max Ernsts Bild ist zu sehen, dass er unbeachtet auf dem Boden liegt.
  Dieses radikale surrealistische Szenario hat der Dichter Arne Rautenberg in seiner terrassenförmig strukturierten poetischen Miniatur „drei amseln“ wieder­auf­ge­nommen. Sein Gedicht zitiert den Gewaltakt der Jungfrau Maria auf Max Ernsts Gemälde und stellt dagegen ein zartes Naturbild. Ein seltsamer bild­licher Zu­sammen­prall. Zwischen den beiden Strophen gibt es klang­liche Korre­spon­denzen und verbin­dende Reime, die das Dispa­rate verfugen, ohne dass die Irri­tation über das Neben­ein­ander von Gewalt- und Amsel-Bild aufgehoben werden könnte.
  Das gehört gerade zu den Stärken von Rautenbergs Gedichten, dass sich Idylle und Abgrund, Leich­tig­keit und Fata­lismus in ihnen ver­bünden. Zunächst locken sie den Leser mit sprach­spiele­rischen Gesten, die sich aber im Band „mund­fauler staub“ (2012) ziem­lich schnell ein­schwär­zen und übergehen in eine Ver­zweiflungs­heiter­keit, in ein Ver­gäng­lich­keits-Welt­gefühl, das von den letz­ten Dingen weiß. Die leich­ten Formen, denen sich Rauten­berg be­dient, werden vir­tuos vor­ge­führt: das ins Makabre ver­rutschte Kinder­lied, die kleine Laut- und Be­deu­tungs­ver­schiebung, der gro­teske Sinn­spruch, die boshafte Ballade, die sarkas­tische Minia­tur. In einem pro­gram­ma­tischen Gedicht gerieren sich ein „Clown“ und ein „Ge­spenst“ als ungleiche Brüder. Auch hier gibt es die Gleich­zei­tig­keit von Narr und Dämon, von Heiter­keit und Bedroh­lich­keit: „gespenst und clown machen / komische sachen // gespenst und clown stehen / am stacheldrahtzaun“.
  Und auch das „drei amseln“-Gedicht konfrontiert ja das Makabre mit einer fragilen Idylle. Wobei offen bleibt, was sich symbolisch oder alle­gorisch hinter den „drei amseln“ ver­bergen könnte. Sind die „drei amseln“ nur Stell­vertreter der „drei Zeu­gen“, die das Gewalt­geschehen zwischen Jung­frau und Kind beo­bachten? Oder handelt es sich um ein bi­zarres Gruppen­bild der Heiligen Familie, in dem die „drei amseln“ die Hei­ligen Drei Könige reprä­sen­tie­ren? Ob nun theo­logi­sches Bild oder idyl­li­sches Gegenbild: Die „drei amseln“ bilden jeden­falls eine rätsel­volle Trinität. Nicht nur in Robert Musils Novelle „Die Amsel“, sondern auch in vielen Mytho­logien fir­miert die Amsel auch als Todes­bote. In Rauten­bergs Gedicht sind die Amseln „flüchtig“, ein Epitheton, das doppel­deutig bleibt. In das Sze­nario der Gewalt greifen sie nicht ein, sie ent­ziehen sich offen­bar der Zeugen­schaft: als Flüchtige.

Arne Rautenberg, geboren 1967, studierte Kunst­geschich­te. Neuere deutsche Lite­ratur­wissen­schaft und Volks­kunde an der Univer­si­tät Kiel. Seit 2000 freier Schrift­steller und Künst­ler. Nach Kinder­gedich­ten und visuellen Poemen publi­zierte er zuletzt den Band „mund­fauler staub“ (Lyrik­papyri, Edition Voss/Horle­mann 2012), dem das vor­liegende Gedicht ent­nommen ist.


Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (1. Band)
100 deutsche Gedichte der Gegenwart,
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Taschenbuch
360 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2011

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  M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (3. Band)
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02.07.2013



 

Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Arne Rautenberg
Liste
Gefördert vom
Deutschen Literaturfonds



  102   Brigitte Oleschinski
    
wie die Wörter auftauen
  101   Franz Josef Czernin
    
dunkel ortlos, hergezogen
  100   Johann P. Tammen
    
Ein Poet nimmt Platz
  99   Joseph Kopf
    
Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn
  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
  97   Sandra Burkhardt
    
Die Bahn einer Meeresschildkröte
  96   Ernst Blass
    
An Gladys
  95   Michael Buselmeier
    
Holzpuppe
  94   Heiner Müller
    
Traumwald
  93   Thomas Böhme
    
Neunundzwanzigster Februar
  92   Katrine von Hutten
    
Beschreibung
  91   Dieter M. Gräf
    
Nach Mattheuer
  90   Arnfrid Astel
    
Leda
  89   Michael Krüger
    
Im Winter
  88   Ralph Dutli
    
Salzzauber
  87   Christiane Heidrich
    
Today I am functional (1)
  86   Wulf Kirsten
    
die rückkehr der wölfe
  85   Maren Kames
    
Im Siel
  84   Gregor Laschen
    
Drüben, im ›Winkel von Hardt‹
  83   Christoph Wenzel
    
ländlich, der mundraum
  82   Werner Lutz
    
Ja, bin unterwegs
  81   Kenah Cusanit
    
Gottesgedicht, unberuhigt
  80   Sascha Kokot
    
sobald die Stadt ...
  79   Ror Wolf
    
Dritter unvollständiger Versuch
  78   Horst Bingel
    
Felsenmeer
  77   Tristan Marquardt
    
nachts, ich laufe nach hause
  76   Harald Gerlach
    
Gründe, linkselbisch
  75   Birgit Kreipe
    
schienen stillgelegt
  74   Hanns Cibulka
    
Böhmischer Rebstock
  73   Karin Fellner
    
Eine Zeitfalte weiter
  72   David Krause
    
Wolken
  71   Jürgen Nendza
    
An manchen Tagen
  70   Harry Oberländer
    
kurz vor der revolution
  69   Mara-Daria Cojocaru
    
Ich bin
  68   Hilde Domin
    
Antwort
  67   Elisabeth Borchers
    
Zukünftiges
  66   Günter Herburger
    
Großjean, der aus einem ...
  65   Georg Leß
    
Kondorlied
  64   Thomas Kling
    
Tessiner beinhaus. wandbild
  63   Rainer René Mueller
    
Da ist es
  62   Ernst S. Steffen
    
Man sagt
  61   Henning Ziebritzki
    
Elster
  60   Jürgen Brôcan
    
Fremde ohne Souvenir
  59   Carolin Callies
    
wackersteine im wams
  58   Friedrich Ani
    
Versehrte Verse
  57   Elke Erb
    
»Ursprüngliche Akkumulation«
  56   Uwe Kolbe
    
Heidelberg, den 14ten August
  55   Sonja vom Brocke
    
Kunde
  54   Sünje Lewejohann
    
krähen
  53   Jan Wagner
    
im brunnen
  52   Susanne Stephan
    
Frontier
  51   Silke Scheuermann
    
Uraniafalter
  50   Mirko Bonné
    
Der Zischelwind
  49   Judith Zander
    
fürs erste leb im später
  48   Andreas Rasp
    
diese steine hier
  47   Marcus Roloff
    
hl. grab, eingang wahlkapelle
  46   Clemens J. Setz
    
Motte
  45   Martina Weber
    
jetzt, da die letzten bilder verschwunden sind
  44   Paul Zech
    
Der Nebel fällt
  43   Klaus Merz
    
Expedition
  42   Christian Lehnert
    
Du bist die Aussicht  ...
  41   Àxel Sanjosé
    
Zum Abschied hell ...
  40   Ulrike Draesner
    
feld elternlos
  39   Ursula Krechel
    
Weiß wie
  38   Heinrich Detering
    
Kilchberg
  37   Hendrik Rost
    
Requiem
  36   Walle Sayer
    
Vom Flüchtigschönen
  35   Nico Bleutge
    
grauwacke
  34   Rolf Haufs
    
Kinderjuni
  33   Thomas Rosenlöcher
    
Die Hoffnungsstufen
  32   Jan Koneffke
    
Dem toten Kind in einer Oktobernacht
  31   Arne Rautenberg
    
drei amseln
  30   Oskar Loerke
    
Ans Meer
  29   Jean Krier
    
„Alles ist in den besten Anfängen“
  28   Werner Laubscher
    
Winterreise. Wintersprache
  27   Wolfgang Schlenker
    
stichwort minimieren
  26   Christoph Meckel
    
Kind
  25   Günter Grass
    
Die Vorzüge der Windhühner
  24   Jürgen Theobaldy
    
Blume mit Geruch
  23   Ann Cotten
    
Rosa Meinung
  22   Horst Samson
    
Edoms Nacht
  21   Christian Steinbacher
    
Belegte Brotzeit
  20   Bianca Döring
    
Allein
  19   Simone Kornappel
    
muxmäuschen
  18   Jörg Burkhard
    
in gauguins alten basketballschuhen
  17   Konstantin Ames
    
dreißig lenze
  16   Wilhelm Lehmann
    
Auf sommerlichem Friedhof
  15   Joachim Zünder
    
Die Finnische Bibliothek
  14   Kathrin Schmidt
    
waage, vorm wasser
verchromt, gestählt
  13   Marion Poschmann
    
latenter Ort
  12   Rainer Malkowski
    
Bist du das noch?
  11   Gerhard Falkner
    
die roten schuhe
  10   Wolfgang Hilbig
    
Pro domo et mundo
  9   Katharina Schultens
    
die möglichkeit einer verwechslung ...
  8   Michael Donhauser
     Lass rauschen Lied ...
  7   Ulrich Zieger
     an den vater von sem,
  6   Elisabeth Langgässer
     Erster Adventssonntag
  5   Levin Westermann
     wie ein fresko
  4   Dirk von Petersdorff
     Raucherecke
  3   Ulrich Koch
     Danke
  2   Steffen Popp
     Fenster zur Weltnacht
  1   Adolf Endler
     Dies Sirren
     
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