poetenladen    poet    web

●  Sächsische AutobiographieEine Serie von
Gerhard Zwerenz

●  Lyrik-KonferenzDieter M. Gräf und
Alessandro De Francesco

●  UmkreisungenJan Kuhlbrodt und
Jürgen Brôcan (Hg.)

●  Stelen – lyrische GedenksteineHerausgegeben
von Hans Thill

●  Americana – Lyrik aus den USAHrsg. von Annette Kühn
& Christian Lux

●  ZeitschriftenleseMichael Braun und
Michael Buselmeier

●  SitemapÜberblick über
alle Seiten

●  Buchladenpoetenladen Bücher
Magazin poet ordern

●  ForumForum

●  poetenladen et ceteraBeitrag in der Presse (wechselnd)

 

Kenah Cusanit

7–4 v. Chr.

dieser Stall ist ein einfaches Konsulat am Rande der Stadt.
Joseph, darin also wiegt deine Frau etwas aufgespannt in
Gänzlichkeit, in Stroh und Haaren. Virgo Deum genuit? als
beruhigte sich der Kleine aber nicht genug. apparuit aber nicht
beruhigt. genuit quem divina voluit clementia, hiermit hilfst du
wiegen, clementia, hiermit wiegst du, damit sollst du belohnt
werden, das einfache Gottesgedicht, das sich dreht und
dreht und nicht vorankommt und omnes nunc concinite nie
vorankommt aber voce pia dicite belohnt wird in diesem
Somnus jedes Kindelein, Joseph, nato regi psallite.


  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 81

Michael Braun
Gottesgedicht, unberuhigt



Wiegenlieder und lateinische Choräle werden in der Lyrik des 21. Jahrhunderts in der Regel nicht mehr gesungen, und wenn sie dann doch anklingen, dann nur als grelles Zitat oder in ironischer Brechung. Kenah Cusanit, die eigenwillige Dichterin, Philologin und Anthropologin, hat ein Faible für historisch versunkene Sprachen und ein fein ausgebildetes Sensorium für das Re-vozieren dereinst mächtiger Tonspuren. 1979 in Blankenburg geboren, studierte Cusanit Altorientalische Philologie (Sumerisch, Akkadisch, Hethitisch) sowie Afrikanistik und arbeitete mehrere Jahre als Wissenschaftsjournalistin im In- und Ausland. Ihr Gedicht setzt ein mit der Profanierung der Weihnachtsgeschichte, mit einem kühlen Blick auf die Darstellung der Geburt Christi, wobei nach jüngsten Forschungen die Erzählung des Matthäus-Evangeliums am wahrscheinlichsten gilt, wonach Jesus vor dem Tod von Herodes dem Großen geboren worden sei, also vor 4 v. Chr. In nüchtern soziologisierender Diagnostik hebt also das Gedicht an, wobei das Verb „wiegen“ als zentrales Motiv durchbuchstabiert wird – dabei liegen die profanierenden mit den pontifikalen Elementen des Textes im inneren Widerstreit. Der nüchterne, entmystifizierende Bericht von der Geburt des „Kleinen“ wird gedichtintern konterkariert durch die suggestive Botschaft und die klanglichen und rhythmischen Energien zweier Choräle und Kirchenlieder. Zum einen wird der älteste überlieferte Choral in lateinischer Sprache aufgerufen, „resonet in laudibus“, der auf eine Leipziger Handschrift vom Beginn des 14. Jahrhunderts zurückgeht, zum anderen gelangt man mit Hilfe von Google auf die Spur eines Kirchenlieds des österreichischen Komponisten Johann von Herbeck („Pueri concinite“). Die fromme Gewissheit des Kirchenlieds: „Die Jungfrau hat Gott geboren“ („Virgo Deum genuit“) und der Glaube an die „göttliche Milde“ („divina clementia“) werden mit Fragezeichen versehen und zugleich rhythmisch ins Stocken gebracht. So reiben sich der religiöse Jubelgesang, die Lobpreisung des neugeborenen Königs („nato regi psallite“), die hier fragmentarisch aufblitzen, im Fortgang des Textes immer mehr an der profanen Erfahrung einer lebensweltlichen Alltäglichkeit, der Beobachtung eines unruhigen und schreienden Säuglings. So inszeniert Kenah Cusanit den Zusammenprall gegensätzlicher Tonlagen: die religiöse Offenbarungsbehauptung kollidiert mit der nüchtern konstatierenden Stimme, die das Setting des Stalls in Bethlehem auslotet.
  Das Gedicht ist Bestandteil des Zyklus „Chronographe Chorologien“, in dem die Autorin Forschungsreisen zu bestimmten Orten unseres Planeten imaginiert und dabei einen historischen Bogen von der Frühgeschichte der Erde bis in die unmittelbare Gegenwart spannt. Zu Beginn des Projekts, so die Fama, setzte sich Kenah Cusanit vor einen Globus, drehte daran und tippte nach dem Zufallsverfahren auf einen Ort, dessen Eigenheiten zu einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt sie dann erforschte. Der „Chronograph“, die Messinstanz von Zeit, wörtlich der „Zeitschreiber“, trifft auf die „Chorologie“, die Lehre vom Raum, abgeleitet vom griechischen „chora“, „Raum“. Jedes Gedicht des Zyklus ist einer Jahreszahl oder einem bestimmten historischen Zeitraum zugeordnet, dabei springen die Texte zwischen den Zeitaltern und Epochen hin und her. Der Prolog setzt ein mit einem klimakatastrophischen Szenario aus dem Jahr 2979, später blendet die Dichterin zurück in die Frühgeschichte, 3000 v. Chr. Die Menschheitsgeschichte wird in diesem Zyklus poetisch entfaltet als eine polyphone Geschichte von Ein- und Auswanderungen, von Flüchtlings- und Wanderungsbewegungen. Die im vorliegenden Gedicht inszenierte Forschungsreise zur Urszene des Neuen Testaments demonstriert die Aporien eines „einfachen Gottesgedichts“, das ohne den Zusammenprall gegensätzlichster Theoreme und Tonlagen nicht mehr zu haben ist.

Kenah Cusanit, 1979 in Blankenburg geboren, studierte Altorientalische Philologie und lebt als Dichterin und Essayistin in Berlin. 2014 erschien ihr ebenso schmales wie suggestives Debütwerk „aus papier“ (hochroth Verlag), für das sie u.a. mit dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet wurde. 2017 erhielt sie das Arbeitsstipendium des Berliner Senats. Das vorliegende Gedicht ist dem Band „Chronographe Chorologien I“ (hochroth Verlag) entnommen.
  Wir danken Autorin und Verlag für die Wiedergabe des Gedichts im Kontext des Kommentars.

Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht     01.09.2017




Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (1. Band)
100 deutsche Gedichte der Gegenwart,
kommentiert
Taschenbuch
360 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2011

Weitere Details   
portofrei online   

  M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (3. Band)
60 deutsche Gedichte der Gegenwart,
kommentiert
Broschiert mit farb. Vorsatz
216 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2019

Weitere Details   
portofrei online   

 


 

 

 

Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Kenah Cusanit
Liste
Gefördert vom
Deutschen Literaturfonds



  102   Brigitte Oleschinski
    
wie die Wörter auftauen
  101   Franz Josef Czernin
    
dunkel ortlos, hergezogen
  100   Johann P. Tammen
    
Ein Poet nimmt Platz
  99   Joseph Kopf
    
Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn
  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
  97   Sandra Burkhardt
    
Die Bahn einer Meeresschildkröte
  96   Ernst Blass
    
An Gladys
  95   Michael Buselmeier
    
Holzpuppe
  94   Heiner Müller
    
Traumwald
  93   Thomas Böhme
    
Neunundzwanzigster Februar
  92   Katrine von Hutten
    
Beschreibung
  91   Dieter M. Gräf
    
Nach Mattheuer
  90   Arnfrid Astel
    
Leda
  89   Michael Krüger
    
Im Winter
  88   Ralph Dutli
    
Salzzauber
  87   Christiane Heidrich
    
Today I am functional (1)
  86   Wulf Kirsten
    
die rückkehr der wölfe
  85   Maren Kames
    
Im Siel
  84   Gregor Laschen
    
Drüben, im ›Winkel von Hardt‹
  83   Christoph Wenzel
    
ländlich, der mundraum
  82   Werner Lutz
    
Ja, bin unterwegs
  81   Kenah Cusanit
    
Gottesgedicht, unberuhigt
  80   Sascha Kokot
    
sobald die Stadt ...
  79   Ror Wolf
    
Dritter unvollständiger Versuch
  78   Horst Bingel
    
Felsenmeer
  77   Tristan Marquardt
    
nachts, ich laufe nach hause
  76   Harald Gerlach
    
Gründe, linkselbisch
  75   Birgit Kreipe
    
schienen stillgelegt
  74   Hanns Cibulka
    
Böhmischer Rebstock
  73   Karin Fellner
    
Eine Zeitfalte weiter
  72   David Krause
    
Wolken
  71   Jürgen Nendza
    
An manchen Tagen
  70   Harry Oberländer
    
kurz vor der revolution
  69   Mara-Daria Cojocaru
    
Ich bin
  68   Hilde Domin
    
Antwort
  67   Elisabeth Borchers
    
Zukünftiges
  66   Günter Herburger
    
Großjean, der aus einem ...
  65   Georg Leß
    
Kondorlied
  64   Thomas Kling
    
Tessiner beinhaus. wandbild
  63   Rainer René Mueller
    
Da ist es
  62   Ernst S. Steffen
    
Man sagt
  61   Henning Ziebritzki
    
Elster
  60   Jürgen Brôcan
    
Fremde ohne Souvenir
  59   Carolin Callies
    
wackersteine im wams
  58   Friedrich Ani
    
Versehrte Verse
  57   Elke Erb
    
»Ursprüngliche Akkumulation«
  56   Uwe Kolbe
    
Heidelberg, den 14ten August
  55   Sonja vom Brocke
    
Kunde
  54   Sünje Lewejohann
    
krähen
  53   Jan Wagner
    
im brunnen
  52   Susanne Stephan
    
Frontier
  51   Silke Scheuermann
    
Uraniafalter
  50   Mirko Bonné
    
Der Zischelwind
  49   Judith Zander
    
fürs erste leb im später
  48   Andreas Rasp
    
diese steine hier
  47   Marcus Roloff
    
hl. grab, eingang wahlkapelle
  46   Clemens J. Setz
    
Motte
  45   Martina Weber
    
jetzt, da die letzten bilder verschwunden sind
  44   Paul Zech
    
Der Nebel fällt
  43   Klaus Merz
    
Expedition
  42   Christian Lehnert
    
Du bist die Aussicht  ...
  41   Àxel Sanjosé
    
Zum Abschied hell ...
  40   Ulrike Draesner
    
feld elternlos
  39   Ursula Krechel
    
Weiß wie
  38   Heinrich Detering
    
Kilchberg
  37   Hendrik Rost
    
Requiem
  36   Walle Sayer
    
Vom Flüchtigschönen
  35   Nico Bleutge
    
grauwacke
  34   Rolf Haufs
    
Kinderjuni
  33   Thomas Rosenlöcher
    
Die Hoffnungsstufen
  32   Jan Koneffke
    
Dem toten Kind in einer Oktobernacht
  31   Arne Rautenberg
    
drei amseln
  30   Oskar Loerke
    
Ans Meer
  29   Jean Krier
    
„Alles ist in den besten Anfängen“
  28   Werner Laubscher
    
Winterreise. Wintersprache
  27   Wolfgang Schlenker
    
stichwort minimieren
  26   Christoph Meckel
    
Kind
  25   Günter Grass
    
Die Vorzüge der Windhühner
  24   Jürgen Theobaldy
    
Blume mit Geruch
  23   Ann Cotten
    
Rosa Meinung
  22   Horst Samson
    
Edoms Nacht
  21   Christian Steinbacher
    
Belegte Brotzeit
  20   Bianca Döring
    
Allein
  19   Simone Kornappel
    
muxmäuschen
  18   Jörg Burkhard
    
in gauguins alten basketballschuhen
  17   Konstantin Ames
    
dreißig lenze
  16   Wilhelm Lehmann
    
Auf sommerlichem Friedhof
  15   Joachim Zünder
    
Die Finnische Bibliothek
  14   Kathrin Schmidt
    
waage, vorm wasser
verchromt, gestählt
  13   Marion Poschmann
    
latenter Ort
  12   Rainer Malkowski
    
Bist du das noch?
  11   Gerhard Falkner
    
die roten schuhe
  10   Wolfgang Hilbig
    
Pro domo et mundo
  9   Katharina Schultens
    
die möglichkeit einer verwechslung ...
  8   Michael Donhauser
     Lass rauschen Lied ...
  7   Ulrich Zieger
     an den vater von sem,
  6   Elisabeth Langgässer
     Erster Adventssonntag
  5   Levin Westermann
     wie ein fresko
  4   Dirk von Petersdorff
     Raucherecke
  3   Ulrich Koch
     Danke
  2   Steffen Popp
     Fenster zur Weltnacht
  1   Adolf Endler
     Dies Sirren
     
Neue Folge