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Christian Lehnert
Du bist die Aussicht und du bist das Auge,
das über Auenland und Sümpfe streift,
ein Weg, der nicht zu gehen ist: Der Taube
hört nicht den Wind und folgt den Gräsern, greift

in Wurzelbüschel, und er fühlt sich reich.
Du bist der andere und bist derselbe.
Du bist das grüne Blatt und bist das gelbe.
Du bist, der bleibt, und der, der immer weicht.


2. November 2009


  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 42

Michael Buselmeier
Ursprüngliche Stille



Schon mit dem ersten Vers spricht oder besser: springt mich dieses Gedicht frontal an; vermutlich trifft es auf eine verborgene religiöse Saite in mir. Es verfügt über die Intensität eines Gebets, Kirchenlieds oder Goldgrund-Gemäldes. Die Sprache gewinnt sakralen Charakter. Gott selbst wird ja hier angeredet in starken Bildern und poetischen Wendungen, die nicht so recht in unsere (post-)moderne Welt zu passen scheinen. Auch das feste jambische Metrum und der Endreim waren lange Zeit ungeliebt. Doch hohe Gegenstände verlangen nun mal eine entsprechende Sprache. Allein ihr Pathos könnte als eine Art Gottesbeweis dienen.
  Gott ist überall in dieser Elbauen-Land­schaft zu finden. Er ist die schöne „Aus­sicht“ und das sie betrach­tende „Auge“, er ist in jedem Blick enthalten. Er wohnt in allem Lebendigen, auch im „Tauben“, der sich mit einem Wurzelbüschel in der Hand „reich“ fühlt. Er verwandelt sich ständig wie die Natur und bleibt sich doch immer gleich. Die Gegensätze (etwa Gott/Mensch) vereinen sich auf mys­ti­sche Weise, die Dinge werden durch­scheinend und eine ur­sprüng­liche Schöp­fungs­ruhe tritt ein. Gott ist „der andere“ und ist „der­selbe“, er ist „der bleibt, und der, der immer weicht.“ In einem anderen Gedicht Christian Lehnerts heißt es: „Du bist, was ist und nicht ist, bist ein Gift / und Gegengift.“
  Dieser aus Sachsen stammender Pfarrer-Dichter scheint sich seines Glau­bens nicht immer ganz sicher zu sein. Er zweifelt manchmal, weniger an Gott als an der eigenen Glaubens­stärke („Ich weiß nicht, was ich heute beten soll – / in Bitten fassen, was an Sinn gebricht?“), stellt Re­flexio­nen über die „neunte Stunde“ an, die Todes­stun­de Jesu, in der dieser schreit: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, und formuliert Fragen („Bin ich aufgewacht / bei Tag aus einer atemlosen Nacht?“), die sehr zur Sensi­bili­sierung der Textur bei­tragen. Manchmal pro­voziert er auch ein wenig, etwa wenn er aus­ge­rechnet am Heiligen Abend auf Golgatha, die Schädel­stätte hinweist.
  Das vorgestellte Poem ist Teil eines 64 Gedichte umfassenden Zyklus, der unter dem Titel „Aufkommender Atem“ 2011 veröffentlicht wurde; lauter streng gefasste Acht­zeiler, gereimt, mit Entstehungs­datum und Orts­angabe versehen – das lyrische Tage­buch eines Jahres im Kreis­lauf der Natur und eine be­ein­druckende Leis­tung, zumal die Gedichte jeweils im Abstand von wenigen Tagen geschrie­ben wurden. Freilich bringt das regel­mäßige Auf und Ab der Jamben mit der Wieder­kehr des immer Gleichen auch etwas Ein­töniges und Retar­die­rendes ins Spiel.
  Im Mittelpunkt all dieser Gedichte stehen individuell erfahrene Land­schaften Sach­sens und Branden­burgs, Gärten, Brach- und Öd­land, häufig von Tieren magisch belebt, hinkende Tauben, Störche, Schwäne, Krähen: „Hier war ich Kind und bin nie fort­ge­gangen.“ Das Wasser spricht, während sich der Mond in ihm spiegelt; die Blätter rau­schen. Der Blick geht auf sehr kleine Kinder, die schlafen. Und „was leuchtet in den Gräsern?“ Stille, ur­sprüng­liches Schwei­gen, ein „Stillstand / der Dinge“, um das Geflüster im Innern besser hören zu können; doch die „Gier“ unserer Natur fährt ständig stö­rend dazwi­schen: „Du bist die Gier, von der ich nie gesunde.“ Auch hier dürfte mit „Du“ der all­gegen­wärti­ge Gott angesprochen sein.
  „Ich weiß nicht, was ich bin; ich bin nicht, was ich weiß; / Ein Ding und nit ein Ding, ein Stümp­fchen und ein Kreis.“ Wie Angelus Silesius, der große Mystiker der Barockzeit, in den Alexan­driner-Sprüchen des „Cherubi­nischen Wanders­manns“, arbeitet auch Christian Lehnert gern mit schrof­fen Anti­thesen: „Ich lebe, doch nicht ich“, heißt es einmal, oder: „Wo ist mein rechtes Haus? Wo es zerfällt. / Wo ist mein Ziel? Wo Täler sich verlieren.“ Der Weg führt direkt in die Seele hinein, wo der Geist zu Gott findet. Zwar ist Gott unfassbar und sein Handeln unbegreiflich, aber „er trägt mich.“

Christian Lehnert, geboren 1969 in Dresden, studierte Theologie und Orientalistik in Leipzig, Berlin und Jerusalem. Er war Pfarrer und Studienleiter und arbeitet heute an der Univer­sität Leipzig. Das vorgestellte Gedicht ist dem Band „Aufkommender Atem“ ent­nommen, der 2011 bei Suhrkamp in Berlin erschien.

Wir danken Autor und Verlag für die Wiedergabe im Rahmen dieses Gedicht­kom­men­tars.



Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (1. Band)
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Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht     02.06.2014



 

 

 

Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Christian Lehnert
Liste
Gefördert vom
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  102   Brigitte Oleschinski
    
wie die Wörter auftauen
  101   Franz Josef Czernin
    
dunkel ortlos, hergezogen
  100   Johann P. Tammen
    
Ein Poet nimmt Platz
  99   Joseph Kopf
    
Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn
  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
  97   Sandra Burkhardt
    
Die Bahn einer Meeresschildkröte
  96   Ernst Blass
    
An Gladys
  95   Michael Buselmeier
    
Holzpuppe
  94   Heiner Müller
    
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  93   Thomas Böhme
    
Neunundzwanzigster Februar
  92   Katrine von Hutten
    
Beschreibung
  91   Dieter M. Gräf
    
Nach Mattheuer
  90   Arnfrid Astel
    
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  89   Michael Krüger
    
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  88   Ralph Dutli
    
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  86   Wulf Kirsten
    
die rückkehr der wölfe
  85   Maren Kames
    
Im Siel
  84   Gregor Laschen
    
Drüben, im ›Winkel von Hardt‹
  83   Christoph Wenzel
    
ländlich, der mundraum
  82   Werner Lutz
    
Ja, bin unterwegs
  81   Kenah Cusanit
    
Gottesgedicht, unberuhigt
  80   Sascha Kokot
    
sobald die Stadt ...
  79   Ror Wolf
    
Dritter unvollständiger Versuch
  78   Horst Bingel
    
Felsenmeer
  77   Tristan Marquardt
    
nachts, ich laufe nach hause
  76   Harald Gerlach
    
Gründe, linkselbisch
  75   Birgit Kreipe
    
schienen stillgelegt
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Böhmischer Rebstock
  73   Karin Fellner
    
Eine Zeitfalte weiter
  72   David Krause
    
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An manchen Tagen
  70   Harry Oberländer
    
kurz vor der revolution
  69   Mara-Daria Cojocaru
    
Ich bin
  68   Hilde Domin
    
Antwort
  67   Elisabeth Borchers
    
Zukünftiges
  66   Günter Herburger
    
Großjean, der aus einem ...
  65   Georg Leß
    
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Tessiner beinhaus. wandbild
  63   Rainer René Mueller
    
Da ist es
  62   Ernst S. Steffen
    
Man sagt
  61   Henning Ziebritzki
    
Elster
  60   Jürgen Brôcan
    
Fremde ohne Souvenir
  59   Carolin Callies
    
wackersteine im wams
  58   Friedrich Ani
    
Versehrte Verse
  57   Elke Erb
    
»Ursprüngliche Akkumulation«
  56   Uwe Kolbe
    
Heidelberg, den 14ten August
  55   Sonja vom Brocke
    
Kunde
  54   Sünje Lewejohann
    
krähen
  53   Jan Wagner
    
im brunnen
  52   Susanne Stephan
    
Frontier
  51   Silke Scheuermann
    
Uraniafalter
  50   Mirko Bonné
    
Der Zischelwind
  49   Judith Zander
    
fürs erste leb im später
  48   Andreas Rasp
    
diese steine hier
  47   Marcus Roloff
    
hl. grab, eingang wahlkapelle
  46   Clemens J. Setz
    
Motte
  45   Martina Weber
    
jetzt, da die letzten bilder verschwunden sind
  44   Paul Zech
    
Der Nebel fällt
  43   Klaus Merz
    
Expedition
  42   Christian Lehnert
    
Du bist die Aussicht  ...
  41   Àxel Sanjosé
    
Zum Abschied hell ...
  40   Ulrike Draesner
    
feld elternlos
  39   Ursula Krechel
    
Weiß wie
  38   Heinrich Detering
    
Kilchberg
  37   Hendrik Rost
    
Requiem
  36   Walle Sayer
    
Vom Flüchtigschönen
  35   Nico Bleutge
    
grauwacke
  34   Rolf Haufs
    
Kinderjuni
  33   Thomas Rosenlöcher
    
Die Hoffnungsstufen
  32   Jan Koneffke
    
Dem toten Kind in einer Oktobernacht
  31   Arne Rautenberg
    
drei amseln
  30   Oskar Loerke
    
Ans Meer
  29   Jean Krier
    
„Alles ist in den besten Anfängen“
  28   Werner Laubscher
    
Winterreise. Wintersprache
  27   Wolfgang Schlenker
    
stichwort minimieren
  26   Christoph Meckel
    
Kind
  25   Günter Grass
    
Die Vorzüge der Windhühner
  24   Jürgen Theobaldy
    
Blume mit Geruch
  23   Ann Cotten
    
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Edoms Nacht
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Belegte Brotzeit
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Allein
  19   Simone Kornappel
    
muxmäuschen
  18   Jörg Burkhard
    
in gauguins alten basketballschuhen
  17   Konstantin Ames
    
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  6   Elisabeth Langgässer
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  5   Levin Westermann
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