![]() |
![]() |
poeten | ![]() |
loslesen | ![]() |
gegenlesen | ![]() |
kritik | ![]() |
tendenz | ![]() |
news | ![]() |
links | ![]() |
info | ![]() |
verlag | ![]() |
poet | ![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
|
Jan Wagner
im brunnen
sechs, sieben meter freier fall und ich war weiter weg als je zuvor, ein kosmonaut in seiner kapsel aus feldstein, betrachtete aus der ferne das kostbare, runde blau. ich war das kind im brunnen. nur die moose kletterten am geflochtenen strick ihrer selbst nach oben, efeu stieg über efeuschultern ins freie, entkam. ab und zu der weiße blitz eines vogels, ab und zu der weiße vogel blitz. ich aß, was langsamer war. der mond, der sich über die öffnung schob, ein forscherauge überm mikroskop. gerade, als ich die wörter assel und stein als assel und stein zu begreifen lernte, drang lärm herab, ein hasten, schreie, und vor mir begann ein seil. ich kehrte zurück ins läuten der glocken, zurück zu brotgeruch und busfahrplänen, dem schatten unter bäumen, gesprächen übers wetter, kehrte zurück zu taufen und tragödien, den schlagzeilen, von denen ich eine war.
Michael Braun Wenn ein Lyriker ganz gegen die Üblichkeiten mit einem großen, publikumswirksamen Buchpreis ausgezeichnet wird und dadurch die Gattung für einen Augenblick in den Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit rückt, erwacht auch die Literaturkritik aus ihrem Tiefschlaf. Als bei der Leipziger Buchmesse Jan Wagner zum kleinen Götterliebling gekürt wurde, war die literarische Welt plötzlich voller gönnerhafter Jan Wagner-Freunde, die den Autor „wunderbare“ Naturdichtung bescheinigten, eine Lyrik voller botanischer Details und naturkundlichem Enthusiasmus. Es ist im Falle Wagners ein vergiftetes Lob, das auf den Buchpreisträger herabregnet. Der formbewusste Dichter mit „perfekten Umgangsformen“ (Denis Scheck), der nebenbei auch ein hervorragender Übersetzer britischer und schottischer Lyrik ist – er wird hinter vorgehaltener Hand als betulicher Retro- Wie so oft haben weder die Schmeichler noch die boshaften Kritiker richtig hingesehen. Der 1971 in Hamburg geborene Wagner wird seit seinem Debütband „probebohrung im himmel“ (2001) als formbewusster Natur- In den „Regentonnenvariationen“, wie auch im Gedicht „im brunnen“, führt der Weg zunächst nach unten, zum antiken Totenfluss, dem Styx, oder in den Grund eines Brunnens – und von dort aus, vom Urgrund der Finsternis aus, riskiert das lyrische Subjekt den Blick nach oben, in die Verheißungen der Helligkeit und der Aufklärung. Es ist in den „Regentonnenvariationen“ zunächst unklar, von welchem Standort aus das Ich agiert: aus dem Inneren der Tonne oder von oben: „ich hob den deckel / und blickte ins riesige / auge der amsel / unterm pflaumenbaum / hinterm haus – gelassen, kühl / wie ein zenmeister. / eine art ofen / im negativ ... als stiege durch sie, / die unterwelt hinauf, um / uns zu belauschen.“ Die Unterwelt ist jedenfalls auch im Gedicht „im brunnen“ der Ort, an dem das Ich am liebsten verweilt und aus der Tiefe „das kostbare runde blau“ betrachtet. Das Kind, das in den Brunnen gefallen ist: Das ist kein begütigender und retro-verliebter Märchenstoff, wie er dem Dichter immer wieder zugeschrieben wird, sondern eine verstörende Verlassenheits-Phantasie. Und zugleich ermöglicht die Verborgenheit in der Tiefe auch Augenblicke der Erkenntnis: „gerade, als ich die wörter assel und stein / als assel und stein begreifen lernte, / drang lärm herab ...“ Das in den Brunnen gefallene Kind erscheint nicht als ausweglos verlorenes Subjekt, sondern als faszinierter „kosmonaut“, der aus der Tiefe in die Erhabenheit des Himmels schaut. Die Rückkehr in die Alltäglichkeit wird hier nicht als ein Moment der Levitation markiert, sondern als Verlust einer glücklich in sich eingekapselten Existenz. Die finstere Konterkarierung einer Idylle liefert auch das Gedicht „das weidenkätzchen“, das den Spott des „Spiegel“-Kolumnisten Georg Diez auf sich gezogen hat. Diez polterte gegen die „Landlust“, gegen die „Verkitschung der Natur“, gegen ubiquitäre Niedlichkeiten. Dabei ist dieses Gedicht nichts anderes als die Geschichte eines grausigen Erstickungstodes. Zarte Naturphänomene sind nie artistischer Selbstzweck bei Jan Wagner, sondern prallen zusammen mit den brutalen Faktizitäten einer mörderischen Lebenswirklichkeit. Jan Wagner ist nicht der brave Traditionalist, als der er mitunter belächelt wird. Seine Gedichte sind artistische Demonstrationen eines Formbewusstseins, das sehr genau den Reichtum der Tradition wie auch die Bewusstseinsreize der Gegenwart auszuloten versteht. „Fortschritt ist das, was man aus dem Rückgriff macht“, hat Wagner einmal gesagt – und diese Devise immer wieder durch kluge Abweichungen von der Tradition beglaubigt. Jan Wagner, geboren 1971 in Hamburg, lebt in Berlin. Er studierte Anglistik in Hamburg, Dublin und Berlin. Von 1995 bis 2003 gab er die Literaturschachtel „Die Außenseite des Elementes“ heraus, 2001 erschien sein poetisches Debüt „probebohrung im himmel“. Das vorliegende Gedicht ist seinem Band „Regentonnenvariationen“ (Hanser Berlin, 2015) entnommen. Druckansicht
|
![]() |
Gedichte, kommentiert
|
|
poetenladen | Blumenstraße 25 | 04155 Leipzig | Germany
|
virtueller raum für dichtung
|
![]() |