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Jan Wagner
im brunnen

sechs, sieben meter freier fall
und ich war weiter weg
als je zuvor, ein kosmonaut
in seiner kapsel aus feldstein,
betrachtete aus der ferne
das kostbare, runde blau.

ich war das kind
im brunnen. nur die moose
kletterten am geflochtenen
strick ihrer selbst nach oben,
efeu stieg über efeuschultern
ins freie, entkam.

ab und zu der weiße blitz
eines vogels, ab und zu
der weiße vogel blitz. ich aß,
was langsamer war. der mond,
der sich über die öffnung schob,
ein forscherauge überm mikroskop.

gerade, als ich die wörter assel und stein
als assel und stein zu begreifen lernte,
drang lärm herab, ein hasten, schreie,
und vor mir begann ein seil.

ich kehrte zurück ins läuten der glocken,
zurück zu brotgeruch und busfahrplänen,
dem schatten unter bäumen,
gesprächen übers wetter, kehrte
zurück zu taufen und tragödien,
den schlagzeilen, von denen
ich eine war.

  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 53

Michael Braun
Grüße aus der Unterwelt



Wenn ein Lyriker ganz gegen die Üblich­keiten mit einem großen, publikums­wirk­samen Buch­preis ausge­zeichnet wird und dadurch die Gattung für einen Augen­blick in den Fokus öffent­licher Auf­merk­sam­keit rückt, erwacht auch die Literatur­kritik aus ihrem Tiefschlaf. Als bei der Leipziger Buchmesse Jan Wagner zum kleinen Götter­liebling gekürt wurde, war die litera­rische Welt plötzlich voller gön­ner­hafter Jan Wagner-Freunde, die den Autor „wunder­bare“ Natur­dichtung beschei­nigten, eine Lyrik voller botan­ischer Details und natur­kundli­chem Enthu­sias­mus.
  Es ist im Falle Wagners ein vergiftetes Lob, das auf den Buchpreisträger herab­regnet. Der form­bewusste Dichter mit „per­fekten Umgangs­formen“ (Denis Scheck), der neben­bei auch ein hervor­ragender Über­setzer britischer und schotti­scher Lyrik ist – er wird hinter vorge­halte­ner Hand als betu­licher Retro-Dichter verdächtigt, weil er gerne histo­rische Requi­siten nutzt.
  Wie so oft haben weder die Schmeichler noch die boshaften Kritiker richtig hingesehen. Der 1971 in Ham­burg gebo­rene Wagner wird seit seinem Debütband „probe­bohrung im himmel“ (2001) als form­bewusster Natur-Idylliker miss­ver­standen, der die ganze Flora und Fauna durch­buch­stabiere, vom Weiden­kätzchen bis zur Würge­feige, vom Olm bis zum Otter. Die Wagner-Bewunderer miss­verstehen seine Poesie fast durchweg als natur­fromme Garten-Kunst. Dabei wird schon im Titelgedicht des preisgekrönten Bandes „Regen­tonnen­varia­tionen“, einem Haiku-Zyklus, sichtbar, dass der Lieblings­ort des Dichters kein „locus amoenus“ ist, sondern ein finste­rer Grund.
  In den „Regentonnenvariationen“, wie auch im Gedicht „im brunnen“, führt der Weg zunächst nach unten, zum antiken Toten­fluss, dem Styx, oder in den Grund eines Brunnens – und von dort aus, vom Urgrund der Finster­nis aus, riskiert das lyrische Sub­jekt den Blick nach oben, in die Ver­heißungen der Helligkeit und der Auf­klärung. Es ist in den „Regen­tonnen­varia­tionen“ zunächst unklar, von welchem Standort aus das Ich agiert: aus dem Inneren der Tonne oder von oben: „ich hob den deckel / und blickte ins riesige / auge der amsel / unterm pflaumenbaum / hinterm haus – gelassen, kühl / wie ein zenmeister. / eine art ofen / im negativ ... als stiege durch sie, / die unterwelt hinauf, um / uns zu belauschen.“
  Die Unterwelt ist jedenfalls auch im Gedicht „im brunnen“ der Ort, an dem das Ich am liebs­ten verweilt und aus der Tiefe „das kostbare runde blau“ betrachtet. Das Kind, das in den Brunnen gefallen ist: Das ist kein begütigender und retro-verlieb­ter Märchen­stoff, wie er dem Dichter immer wieder zugeschrieben wird, son­dern eine ver­störende Verlassen­heits-Phanta­sie. Und zugleich ermög­licht die Ver­borgen­heit in der Tiefe auch Augen­blicke der Erkennt­nis: „gerade, als ich die wörter assel und stein / als assel und stein begreifen lernte, / drang lärm herab ...“ Das in den Brunnen gefallene Kind erscheint nicht als ausweg­los ver­lorenes Subjekt, sondern als faszi­nierter „kosmonaut“, der aus der Tiefe in die Er­haben­heit des Himmels schaut. Die Rückkehr in die All­täg­lich­keit wird hier nicht als ein Moment der Levi­tation markiert, sondern als Verlust einer glücklich in sich ein­ge­kap­selten Exis­tenz. Die finstere Konter­karierung einer Idylle lie­fert auch das Gedicht „das weiden­kätzchen“, das den Spott des „Spiegel“-Kolumnisten Georg Diez auf sich gezogen hat. Diez polterte gegen die „Landlust“, gegen die „Ver­kit­schung der Natur“, gegen ubiqui­täre Nied­lich­keiten. Dabei ist dieses Gedicht nichts anderes als die Geschichte eines grausigen Er­stickungs­todes. Zarte Natur­phäno­mene sind nie artis­tischer Selbst­zweck bei Jan Wagner, sondern prallen zusammen mit den brutalen Fakti­zitäten einer mörde­rischen Lebens­wirk­lich­keit.
  Jan Wagner ist nicht der brave Traditiona­list, als der er mitunter belächelt wird. Seine Gedichte sind artis­tische Demon­strationen eines Form­bewusst­seins, das sehr genau den Reich­tum der Tradi­tion wie auch die Bewusst­seins­reize der Gegen­wart auszu­loten versteht. „Fortschritt ist das, was man aus dem Rück­griff macht“, hat Wagner einmal gesagt – und diese Devise immer wieder durch kluge Abweichun­gen von der Tradition beglaubigt.

Jan Wagner, geboren 1971 in Hamburg, lebt in Berlin. Er studierte Anglistik in Hamburg, Dublin und Berlin. Von 1995 bis 2003 gab er die Lite­ratur­schachtel „Die Außen­seite des Ele­mentes“ heraus, 2001 erschien sein poeti­sches Debüt „probe­bohrung im himmel“. Das vor­liegende Gedicht ist seinem Band „Regen­tonnen­variationen“ (Hanser Berlin, 2015) entnommen.
Wir danken Autor und Verlag für die Wieder­gabe des Gedichts im Kontext dieser Kom­mentie­rung.



Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (1. Band)
100 deutsche Gedichte der Gegenwart,
kommentiert
Taschenbuch
360 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2011

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  M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (3. Band)
60 deutsche Gedichte der Gegenwart,
kommentiert
Broschiert mit farb. Vorsatz
216 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2019

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Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht     01.05.2015

 

 

 

Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Jan Wagner
Liste
Gefördert vom
Deutschen Literaturfonds



  102   Brigitte Oleschinski
    
wie die Wörter auftauen
  101   Franz Josef Czernin
    
dunkel ortlos, hergezogen
  100   Johann P. Tammen
    
Ein Poet nimmt Platz
  99   Joseph Kopf
    
Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn
  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
  97   Sandra Burkhardt
    
Die Bahn einer Meeresschildkröte
  96   Ernst Blass
    
An Gladys
  95   Michael Buselmeier
    
Holzpuppe
  94   Heiner Müller
    
Traumwald
  93   Thomas Böhme
    
Neunundzwanzigster Februar
  92   Katrine von Hutten
    
Beschreibung
  91   Dieter M. Gräf
    
Nach Mattheuer
  90   Arnfrid Astel
    
Leda
  89   Michael Krüger
    
Im Winter
  88   Ralph Dutli
    
Salzzauber
  87   Christiane Heidrich
    
Today I am functional (1)
  86   Wulf Kirsten
    
die rückkehr der wölfe
  85   Maren Kames
    
Im Siel
  84   Gregor Laschen
    
Drüben, im ›Winkel von Hardt‹
  83   Christoph Wenzel
    
ländlich, der mundraum
  82   Werner Lutz
    
Ja, bin unterwegs
  81   Kenah Cusanit
    
Gottesgedicht, unberuhigt
  80   Sascha Kokot
    
sobald die Stadt ...
  79   Ror Wolf
    
Dritter unvollständiger Versuch
  78   Horst Bingel
    
Felsenmeer
  77   Tristan Marquardt
    
nachts, ich laufe nach hause
  76   Harald Gerlach
    
Gründe, linkselbisch
  75   Birgit Kreipe
    
schienen stillgelegt
  74   Hanns Cibulka
    
Böhmischer Rebstock
  73   Karin Fellner
    
Eine Zeitfalte weiter
  72   David Krause
    
Wolken
  71   Jürgen Nendza
    
An manchen Tagen
  70   Harry Oberländer
    
kurz vor der revolution
  69   Mara-Daria Cojocaru
    
Ich bin
  68   Hilde Domin
    
Antwort
  67   Elisabeth Borchers
    
Zukünftiges
  66   Günter Herburger
    
Großjean, der aus einem ...
  65   Georg Leß
    
Kondorlied
  64   Thomas Kling
    
Tessiner beinhaus. wandbild
  63   Rainer René Mueller
    
Da ist es
  62   Ernst S. Steffen
    
Man sagt
  61   Henning Ziebritzki
    
Elster
  60   Jürgen Brôcan
    
Fremde ohne Souvenir
  59   Carolin Callies
    
wackersteine im wams
  58   Friedrich Ani
    
Versehrte Verse
  57   Elke Erb
    
»Ursprüngliche Akkumulation«
  56   Uwe Kolbe
    
Heidelberg, den 14ten August
  55   Sonja vom Brocke
    
Kunde
  54   Sünje Lewejohann
    
krähen
  53   Jan Wagner
    
im brunnen
  52   Susanne Stephan
    
Frontier
  51   Silke Scheuermann
    
Uraniafalter
  50   Mirko Bonné
    
Der Zischelwind
  49   Judith Zander
    
fürs erste leb im später
  48   Andreas Rasp
    
diese steine hier
  47   Marcus Roloff
    
hl. grab, eingang wahlkapelle
  46   Clemens J. Setz
    
Motte
  45   Martina Weber
    
jetzt, da die letzten bilder verschwunden sind
  44   Paul Zech
    
Der Nebel fällt
  43   Klaus Merz
    
Expedition
  42   Christian Lehnert
    
Du bist die Aussicht  ...
  41   Àxel Sanjosé
    
Zum Abschied hell ...
  40   Ulrike Draesner
    
feld elternlos
  39   Ursula Krechel
    
Weiß wie
  38   Heinrich Detering
    
Kilchberg
  37   Hendrik Rost
    
Requiem
  36   Walle Sayer
    
Vom Flüchtigschönen
  35   Nico Bleutge
    
grauwacke
  34   Rolf Haufs
    
Kinderjuni
  33   Thomas Rosenlöcher
    
Die Hoffnungsstufen
  32   Jan Koneffke
    
Dem toten Kind in einer Oktobernacht
  31   Arne Rautenberg
    
drei amseln
  30   Oskar Loerke
    
Ans Meer
  29   Jean Krier
    
„Alles ist in den besten Anfängen“
  28   Werner Laubscher
    
Winterreise. Wintersprache
  27   Wolfgang Schlenker
    
stichwort minimieren
  26   Christoph Meckel
    
Kind
  25   Günter Grass
    
Die Vorzüge der Windhühner
  24   Jürgen Theobaldy
    
Blume mit Geruch
  23   Ann Cotten
    
Rosa Meinung
  22   Horst Samson
    
Edoms Nacht
  21   Christian Steinbacher
    
Belegte Brotzeit
  20   Bianca Döring
    
Allein
  19   Simone Kornappel
    
muxmäuschen
  18   Jörg Burkhard
    
in gauguins alten basketballschuhen
  17   Konstantin Ames
    
dreißig lenze
  16   Wilhelm Lehmann
    
Auf sommerlichem Friedhof
  15   Joachim Zünder
    
Die Finnische Bibliothek
  14   Kathrin Schmidt
    
waage, vorm wasser
verchromt, gestählt
  13   Marion Poschmann
    
latenter Ort
  12   Rainer Malkowski
    
Bist du das noch?
  11   Gerhard Falkner
    
die roten schuhe
  10   Wolfgang Hilbig
    
Pro domo et mundo
  9   Katharina Schultens
    
die möglichkeit einer verwechslung ...
  8   Michael Donhauser
     Lass rauschen Lied ...
  7   Ulrich Zieger
     an den vater von sem,
  6   Elisabeth Langgässer
     Erster Adventssonntag
  5   Levin Westermann
     wie ein fresko
  4   Dirk von Petersdorff
     Raucherecke
  3   Ulrich Koch
     Danke
  2   Steffen Popp
     Fenster zur Weltnacht
  1   Adolf Endler
     Dies Sirren
     
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