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Ursula Krechel
Weiß wie

Meine Mutter liebte die weißen Männer
Hals über Kopf aber die weißen Männer
Liebten keine Frau wie sie oder andere
Nicht vorbei war es mit den weißen Männern
Mutter war hin und weg Liebe blieb brannte
Beiläufig ging Gottfried von Cramm
In Leinen blendendweiß auf dem Rasen
Aufschlag über das Netz und weiter
Gegnerisch ins Herz der Mutter und ein
Raunen auf den Rängen leinwandgroß
In der Wochenschau Nuntius Pacelli
Später Papst und sehr verklärt verehrt
Blickte herab und meine Mutter im Sperrsitz
Sah wie er Männer weiß und hochrangig
Wie er mit dem Tennisschläger segnete und
Sie. Aufschlag für den Nuntius nieder
Kniete meine Mutter hielt ihren gläubigen
Blick hielt den Segen aus und weiter
Weiß sie Schwarzes blieb schwarz und
Schweiget o mein Vater das Geröll aus
Den Wiesen steiget und blieben immerdar
Im verschlossenen Gemüt und die Sieger
Unter sich der Ball übers Netz ins Aus
Wunsch daß Männer in großen Schritten
Stürmen ohne wenn aber ohne Verzug


  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 39

Michael Braun
Triumph der weißen Männer



„Der Körper der Mutter, das ist der erste Ort neben dem Ich, der, von dem man sich loslösen muß und der doch bleibt als Gewiss­heit, er war von Anfang an da.“ Diese These stellte Ursula Krechel vor einem Viertel­jahr­hundert ins Zentrum ihrer Wiener Poetik­vor­le­sungen. Das war als Hinweis auf die Urszene ihres Schreibens zu ver­stehen – die Aus­ein­ander­setzung mit ihrer früh ver­stor­benen Mutter. Das aller­erste Gedicht ihres Debüt­bandes „Nach Mainz!“ (1977) war bereits ihrer Mut­ter gewidmet, die vom katholischen Milieu in der rheinland-pfäl­zischen Provinz ge­prägt war – und auch im Band „Jäh erhellte Dunkel­heit“ von 2010 tauchen signi­fikante Mutter-Spuren auf. Für die gottesfürchtige Mutter im Gedicht „Weiß wie“ stehen zwei uner­reich­bare „weiße Männer“ im Zentrum ihres Be­gehrens: Der Ten­nis­star Gott­fried von Cramm, der Tennis-Baron der 1930er Jahre – und „Nuntius Pacelli“, der spätere Papst Pius XII. Die Liebe brennt – und bleibt uner­füllbar, denn die „weißen Männer“ sind Sehn­suchts­ge­stalten, nach denen man sich verzehrt und denen man gleich­wohl nicht nahe­kommt. Aber kurz darauf mar­schie­ren die solda­ti­schen Männer des Faschis­mus „in großen Schrit­ten“ ins Ver­derben. Die hier evo­zierte Mutter-Gestalt ver­bindet die Devotion gegen­über kirch­lichen Auto­ri­täten mit einer eroti­schen Unter­werfungs­be­reit­schaft im Blick auf die „weißen Männer“, die sie bis zur Selbst­ver­leug­nung idea­li­siert. Ursula Krechel zeigt ein weib­liches Bewusst­sein, das nur in der Anbetung des starken Mannes zu sich selbst findet. Die Ver­ehrung seiner „blen­dend­weißen“ Auto­rität, die in der „Wo­chen­schau“ in Hit­ler­deutsch­land ihr bevor­zugtes Medium hat, stellt auch die Be­wusst­seins­prä­pa­rate für den herauf­zie­henden Faschis­mus bereit. Zu dieser Spiel­art katho­lischer Ver­blen­dung setzt das Gedicht einen ironi­schen Kontra­punkt in Form der berühm­ten Zeilen aus Matthias Clau­dius' „Abend­lied“ („Der Wald steht schwarz und schweiget, / Und aus den Wiesen steiget, / Der weiße Nebel wunderbar.“), das in Krechels Gedicht aber jeder feierlichen Verheißung und begütigenden Wirkung beraubt wird.
  In ihren frühen Gedichten ging es Ursula Krechel um den Ent­wurf einer weib­lichen Genea­logie. „Im Persön­lichen war immer das Poli­ti­sche“, schreibt sie im Nach­wort zu „Nach Mainz!“, „in der schwei­fenden Form war eine Festig­keit, der ich trauen lernte; in den Gedichten begriff ich, was ich in Begriffen nie begreifen wollte.“
  Den erzählenden Gestus hat sie in ihren späteren Werken immer mehr abge­streift und durch eine komple­xere Bild­lich­keit ersetzt. Wo die Wörter einst ohne große Sprach­skrupel in Dienst ge­nommen wurden, da werden nun den „seman­tisch unge­bun­denen Gesel­len“ und „lexi­kali­schen Streunern“ immer mehr etymo­logische Recher­chen ab­ver­langt. In ihren Gedicht­bänden seit den 1990er Jahren erprobt sie die gegen­sätz­lichs­ten Gedicht­typen: Lange Gedichte in narrativen Formen, sprach­spiele­risch gefloch­tene Verse, lako­nische Parabeln, kinder­lied­hafte Reime, ironische Porträts, sämtlich Gedichte, die sich kal­kuliert „einem sprach­lichen Magnet­feld aus­setzen“, wie es in ihrem Essay „Aus­lassungen über das Weg­lassen“ heißt. In den Gedichten seit dem Band „Landläufiges Wunder“ (1995) weitet sich der Blick zu einem großen meta­physi­schen Erkun­dung der Welt und die Autorin entdeckt ihr Lebens­thema: Motive der Emi­gration, Bilder von Heimat­verlust, Ent­wurzelung und Boden­losig­keit.

Ursula Krechel, geboren 1947 in Trier, lebt in Berlin. Sie stu­dierte Ger­manis­tik, Thea­ter­wis­sen­schaft und Kunst­ge­schichte und promo­vierte 1971 mit einer Arbeit über den Thea­ter­kritiker Herbert Ihering. 1977 erschien ihr erster Gedicht­band „Nach Mainz!“ (Luchter­hand), 2012 wurde sie für ihren Roman „Land­gericht“ (JungundJung) mit dem Deut­schen Buchpreis ausge­zeichnet. Ihr Gedicht „Weiß wie“ erschien zuerst 2010 und ist dem Aus­wahland „Die da“ (JungundJung, Salzburg 2013) ent­nommen.

Wir danken Autorin und Verlag für die Wiedergabe im Rahmen dieses Gedicht­kom­men­tars.



Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (1. Band)
100 deutsche Gedichte der Gegenwart,
kommentiert
Taschenbuch
360 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2011

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  M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (3. Band)
60 deutsche Gedichte der Gegenwart,
kommentiert
Broschiert mit farb. Vorsatz
216 Seiten, 18.80 Euro
poetenladen Verlag 2019

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Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht    04.03.2014



 

 

 

Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Ursula Krechel
Liste
Gefördert vom
Deutschen Literaturfonds



  102   Brigitte Oleschinski
    
wie die Wörter auftauen
  101   Franz Josef Czernin
    
dunkel ortlos, hergezogen
  100   Johann P. Tammen
    
Ein Poet nimmt Platz
  99   Joseph Kopf
    
Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn
  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
  97   Sandra Burkhardt
    
Die Bahn einer Meeresschildkröte
  96   Ernst Blass
    
An Gladys
  95   Michael Buselmeier
    
Holzpuppe
  94   Heiner Müller
    
Traumwald
  93   Thomas Böhme
    
Neunundzwanzigster Februar
  92   Katrine von Hutten
    
Beschreibung
  91   Dieter M. Gräf
    
Nach Mattheuer
  90   Arnfrid Astel
    
Leda
  89   Michael Krüger
    
Im Winter
  88   Ralph Dutli
    
Salzzauber
  87   Christiane Heidrich
    
Today I am functional (1)
  86   Wulf Kirsten
    
die rückkehr der wölfe
  85   Maren Kames
    
Im Siel
  84   Gregor Laschen
    
Drüben, im ›Winkel von Hardt‹
  83   Christoph Wenzel
    
ländlich, der mundraum
  82   Werner Lutz
    
Ja, bin unterwegs
  81   Kenah Cusanit
    
Gottesgedicht, unberuhigt
  80   Sascha Kokot
    
sobald die Stadt ...
  79   Ror Wolf
    
Dritter unvollständiger Versuch
  78   Horst Bingel
    
Felsenmeer
  77   Tristan Marquardt
    
nachts, ich laufe nach hause
  76   Harald Gerlach
    
Gründe, linkselbisch
  75   Birgit Kreipe
    
schienen stillgelegt
  74   Hanns Cibulka
    
Böhmischer Rebstock
  73   Karin Fellner
    
Eine Zeitfalte weiter
  72   David Krause
    
Wolken
  71   Jürgen Nendza
    
An manchen Tagen
  70   Harry Oberländer
    
kurz vor der revolution
  69   Mara-Daria Cojocaru
    
Ich bin
  68   Hilde Domin
    
Antwort
  67   Elisabeth Borchers
    
Zukünftiges
  66   Günter Herburger
    
Großjean, der aus einem ...
  65   Georg Leß
    
Kondorlied
  64   Thomas Kling
    
Tessiner beinhaus. wandbild
  63   Rainer René Mueller
    
Da ist es
  62   Ernst S. Steffen
    
Man sagt
  61   Henning Ziebritzki
    
Elster
  60   Jürgen Brôcan
    
Fremde ohne Souvenir
  59   Carolin Callies
    
wackersteine im wams
  58   Friedrich Ani
    
Versehrte Verse
  57   Elke Erb
    
»Ursprüngliche Akkumulation«
  56   Uwe Kolbe
    
Heidelberg, den 14ten August
  55   Sonja vom Brocke
    
Kunde
  54   Sünje Lewejohann
    
krähen
  53   Jan Wagner
    
im brunnen
  52   Susanne Stephan
    
Frontier
  51   Silke Scheuermann
    
Uraniafalter
  50   Mirko Bonné
    
Der Zischelwind
  49   Judith Zander
    
fürs erste leb im später
  48   Andreas Rasp
    
diese steine hier
  47   Marcus Roloff
    
hl. grab, eingang wahlkapelle
  46   Clemens J. Setz
    
Motte
  45   Martina Weber
    
jetzt, da die letzten bilder verschwunden sind
  44   Paul Zech
    
Der Nebel fällt
  43   Klaus Merz
    
Expedition
  42   Christian Lehnert
    
Du bist die Aussicht  ...
  41   Àxel Sanjosé
    
Zum Abschied hell ...
  40   Ulrike Draesner
    
feld elternlos
  39   Ursula Krechel
    
Weiß wie
  38   Heinrich Detering
    
Kilchberg
  37   Hendrik Rost
    
Requiem
  36   Walle Sayer
    
Vom Flüchtigschönen
  35   Nico Bleutge
    
grauwacke
  34   Rolf Haufs
    
Kinderjuni
  33   Thomas Rosenlöcher
    
Die Hoffnungsstufen
  32   Jan Koneffke
    
Dem toten Kind in einer Oktobernacht
  31   Arne Rautenberg
    
drei amseln
  30   Oskar Loerke
    
Ans Meer
  29   Jean Krier
    
„Alles ist in den besten Anfängen“
  28   Werner Laubscher
    
Winterreise. Wintersprache
  27   Wolfgang Schlenker
    
stichwort minimieren
  26   Christoph Meckel
    
Kind
  25   Günter Grass
    
Die Vorzüge der Windhühner
  24   Jürgen Theobaldy
    
Blume mit Geruch
  23   Ann Cotten
    
Rosa Meinung
  22   Horst Samson
    
Edoms Nacht
  21   Christian Steinbacher
    
Belegte Brotzeit
  20   Bianca Döring
    
Allein
  19   Simone Kornappel
    
muxmäuschen
  18   Jörg Burkhard
    
in gauguins alten basketballschuhen
  17   Konstantin Ames
    
dreißig lenze
  16   Wilhelm Lehmann
    
Auf sommerlichem Friedhof
  15   Joachim Zünder
    
Die Finnische Bibliothek
  14   Kathrin Schmidt
    
waage, vorm wasser
verchromt, gestählt
  13   Marion Poschmann
    
latenter Ort
  12   Rainer Malkowski
    
Bist du das noch?
  11   Gerhard Falkner
    
die roten schuhe
  10   Wolfgang Hilbig
    
Pro domo et mundo
  9   Katharina Schultens
    
die möglichkeit einer verwechslung ...
  8   Michael Donhauser
     Lass rauschen Lied ...
  7   Ulrich Zieger
     an den vater von sem,
  6   Elisabeth Langgässer
     Erster Adventssonntag
  5   Levin Westermann
     wie ein fresko
  4   Dirk von Petersdorff
     Raucherecke
  3   Ulrich Koch
     Danke
  2   Steffen Popp
     Fenster zur Weltnacht
  1   Adolf Endler
     Dies Sirren
     
Neue Folge