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Birgit Kreipe
schienen stillgelegt, kein fahrplan mehr. bahnwärterhäuschen in trümmern, und du in deinen augen die dreizehn traurigen männer umarmen sich selbst. sind allein. gut, dass gott vorkommt, ein taucher in einem unfassbar kalten meer, seine stirnlampe ist ein pulsar. der wind, großmeister der kälte schickt schwärme von leuchtkitteln, gespenster kichern, hämisch wie introjekte spotten, totenkopfäffchen im dunkeln. ich schlag in die luft, bekomme sie nicht zu fassen. bäume recken die zweige zum himmel, verschwörer. bin in ihrem kreis gelaufen, und du deine dreizehn männer, anfänger in melancholie haben dünne, blaue organe. stelle mir vor dass vögel darin gefangen sind, aber du lachst nur ihre stimmen waren zauber was im wind verloren ging.
Michael Braun
Wir betreten in Birgit Kreipes Gedicht zunächst einen Ort im Verfallsstadium, an dem alle Navigationsmöglichkeiten und Richtungsanzeigen außer Kraft gesetzt sind. Ein verlassener Bahnhof als Trümmerstätte, der Stillstand der Dinge wird zur Existenzsignatur. Wenn sich hier etwas bewegt, dann sind es die Träume, die Phantasmagorien, die Halluzinationen und bedrängenden Bilder, die das Subjekt heimsuchen. Die Phantasie der „dreizehn traurigen Männer“ durchzieht als Leitmotiv dieses Gedicht, und die Vorstellungen von Lichtphänomenen, schnellen Wechseln von Helligkeit und Finsternis, von Nachtmahren und unheimlichen Figurationen begleiten das Ich auf seiner Wanderung durch eine nicht greifbare Welt, die sich ständig verwandelt. Die „dreizehn männer“ erscheinen als Konstellation eines Traumbilds, angelagert an eine alte kulturgeschichtliche Spekulation mit der Zahl 13: Die 13 ist seit jeher eine Zahl, die ein geschlossenes System überschreitet, die alle Harmonievorstellungen sprengt, die sich mit der Zahl 12 verbinden (die zwölf Apostel, die Zahl der Monate, das Himmelssystem des Tierkreises). Auch gibt es ein altdänisches Märchen, in dem „dreizehn Männer“ als Akteure auftreten. Die „dreizehn traurigen männer“ in Kreipes Gedicht sind in dieser Welt der Metamorphosen auf sich selbst bezogen, in einer merkwürdigen, fast autistischen Fraternisierung: sie „umarmen sich selbst“. Von Zeile zu Zeile scheint das Gedicht neue Bildräume zu öffnen und folgt dabei einer vertikalen Bewegung: Zuerst führt der Weg nach unten, in die Tiefe des Meeres, mit dem betörend schönen Rätselbild vom Taucher, dessen Stirnlampe einem pulsierenden Stern gleicht. In der Tiefe lauern auch die Dämonien des Unbewussten, die „Gespenster“, die in der Dunkelheit situierten Fratzen der Totenkopfaffen, ein Bild der Angst. Ein paar Zeilen weiter wendet sich dann der poetische Blick nach oben, realisiert das von allen Identitäten befreite Ich eine paradoxe Übung – den Versuch, die Luft zu fixieren, das Ungreifbare in den Griff zu bekommen. Auch als Leser vermag man sich nirgendwo an einer semantischen Logik festzuhalten, die einzelnen Objekte in den Gedichten sind aus allen Verankerungen gelöst. Man hat auf Birgit Kreipes Affinität zu den Denkwegen der Psychoanalyse hingewiesen, sie selbst hat dem Kapitel „short cuts“, das vom vorliegenden Gedicht eröffnet wird, ein Zitat des französischen Psychoanalytikers André Green vorangestellt. Die Bilderverkettungen des Unbewussten garantieren jedoch nicht die Poetizität eines Gedichts. Was einen an die Gedichte in „Soma“ fesselt, ist die stupende Fähigkeit der Autorin, ihren Bildern eine hypnotische Suggestivität zu geben, den Leser mit jeder weiteren Verszeile in ein Traumgeschehen zu ziehen, aus dem kein Ausgang möglich scheint. Viel verdanken die Gedichte auch der fließenden Versbewegung, einer Schlüssigkeit der assoziativen Fügung. Birgit Kreipes Band „Soma“ liest sich wie eine Mitschrift aus einem Körpergedächtnis, dessen Depots und Winkel in den einzelnen Gedichten freigelegt werden. „aus der traumbehörde“ heißt ein weiteres Gedicht aus dem Kapitel „short cuts“. Wer sich als Dichter in dieser „Traumbehörde“ bewegt, ist gänzlich ungebunden und sehnt nicht unbedingt das Erwachen herbei, sondern die Verfeinerung der Grenzüberschreitungen via poetischer Imagination.
Birgit Kreipe, geboren 1964 in Hildesheim, lebt in Berlin. Sie arbeitete zunächst als Buchhändlerin, studierte später Psychologie und Neuere Deutsche Literatur in Marburg, Wien und Göttingen. Neben ihrem Schreiben arbeitet sie als Psychotherapeutin. 2012 erschien ihr Debütband „Schönheitsfarm“ (Verlagshaus J. Frank, Berlin). Das vorliegende Gedicht ist ihrem Band „Soma“ (kookbooks, Berlin 2015) entnommen. Wir danken Autorin und Verlag für die Wiedergabe im Kontext des Gedichtkommentars. Druckansicht
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