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Werner Laubscher
Winterreise. Wintersprache

So zeilenweis
so schichtweis
Worte
hinter Firnis und Glas
Worte wie Hagel
Worte wie Schnee nichts anderes
und nicht mehr
während die Vögel
hochfliegen
und aufpicken
das Firmament
daß es aufspränge
daß aufreiße die Erde
quer über die Meridiane
über die Bergschultern
die Haine der Zeit
daß aufsprängen
die Schläfer
die schlafenden Wachen.


  Der gelbe Akrobat – Neue Folge 28

Michael Buselmeier
Im Geist Schuberts


Im Winter 1988 war ich zu einem Seminar in einem gewerk­schafts­eigenen Ta­gungs­heim im Pfälzer Wald eingeladen, um Laien­autoren, die ihre braven Ge­dichte und Ge­schich­ten vortrugen, zuzuhören und Ver­bes­serungs­vorschläge zu machen. Am Abend saß ich in der Kantine vor Kartoffel­salat mit Würsten und frem­delte. Bis plötz­lich von einem der Nach­bars­tische her ganz unerhörte Laute und Worte an mein Ohr drangen, die mich alle Kantinen-Tristesse vergessen ließen. Der mir bis dahin (und den meis­ten bis heute) unbe­kannte Dichter Werner Laubscher las Freun­den aus seinem im Ent­stehen be­grif­fenen Gedicht­band Winter­reise. Winter­sprache Verse vor, denen der hohe Ton hym­nischen Spre­chens, das Pa­thos herme­tischer Natur­lyrik noch zu gelingen schien.
  Das Buch, das ein Jahr später in einer bibliophilen Ausgabe in einem kleinen Verlag er­schien, enthält vier Gedicht­zyklen, die sich empha­tisch auf Franz Schu­berts gran­dioses Werk beziehen, auch auf die Gasteiner Symphonie (die entweder ver­schollen oder doch mit der Großen Sympho­nie in C-Dur identisch ist): „Morgenstimmen / das große traumbeatmete Wandern / wenn wir aufsteigen / in den Montgolfieren / die Nacht zu bemessen / die Sterne die Augen den Schlaf …“
  Das hier vorgestellte Gedicht ist Teil des elf Poeme um­fassenden Zyklus Winter­reise. Winter­sprache. Die einzelnen Texte sind dergestalt miteinander verbunden, dass der Anfang jedes Gedichts das Ende des voraus­gehenden auf­nimmt. Wört­liche Zitate aus der Winterreise sind selten, es gibt jedoch zahl­reiche Anspie­lungen auf Wilhelm Müllers Gedicht­zyklus. Vor allem geht es Laubscher darum, Schu­berts autonome Musik behut­sam in ange­mes­sene Schnee- und Hagel­worte zu über­tragen. Der späte Dichter, fremd „in der Sternhaufen Hinterhof“, ist be­müht, „in die Sprach mich zu schlagen / Worte: / Ein Ich.“ Wie bei Schubert und Müller ist der Winter auch hier all­beherr­schend und die „Fremdheit“ des Wande­rers in der „trüben“ Welt bis zum letz­ten Vers spürbar. „Zeit ist / betteln zu gehn.“
  Eine „Wintersprache“ in einem weit gefassten, auch gesell­schaft­lichen Sinn zu ent­wickeln, kann nur unter größter An­strengung, als Arbeit am Mate­rial gelingen: „Zeilenweis. / Blattweis. / Schichtweis“, damit „aufreiße die Erde / quer über die Meridiane.“ Ein gewalt­samer, fast apo­kalypti­scher Vorgang, der die Erde öffnet und „Schläfer“ wie „Wachen“ auf­springen lässt, als sei ein Blitz eingeschlagen, ein Komet am Horizont aufgetaucht oder ein Vulkan ausge­brochen.
  Aus demselben artistischen Geist der Musik, gleichsam als Satyrspiel zur Tragödie, stam­men Laubschers Laut­gedichte, Rhythmo­poeme und Ludinotate, ver­sammelt in dem witzigen Band Wortflecht und Lautbeiß, vermutlich angeregt von den knapp zehn Dada-Gedichten seines pfälzischen Landsmanns Hugo Ball; kindlich-verrückte Sprach­spiele, die mehr dem Klang, dem Ton­fall und dem Rhythmus folgen als einem konven­tionellen „Sinn“.
  Doch hinter allem, was Laubscher geschrieben hat, auch hinter den brillan­testen Wort­spielereien, steht unüber­hörbar das Kriegs­erlebnis, genauer: das lebens­lange Trauma eines Jungen, der mit 17 Jahren zu einer Panzer­einheit der Waffen-SS einge­zogen wurde. Er spricht nie direkt davon, doch tauchen Bruch­stücke dieser dunklen Er­fahrung in Gedichten und Erzäh­lungen immer wieder bedroh­lich auf: die „Schwarz­bemantel­ten“, die „Männer mit den Leder­kappen“, „Wach­hund­gebell“. Und in dem Gedicht­band Win­ter­kassation. Ein Totentanz heißt es: „da oben / da wo der Schmerz sitzt / die Last des Worts / Tyskland.“

Der Dichter, Maler und Musiker Werner Laubscher wurde 1927 in Kaiserslautern geboren und starb im Januar 2013 in Landau. Er arbeitete als Lehrer in Kandel. Er veröffentlichte u.a. die Gedichtbände Wort­flecht und Lautbeiß (Verlag Thomas Plöger, Annweiler 1989) und Winterkassation (Wunderhorn Verlag, Heidelberg 1997). Eine zwei­bändige Werk­ausgabe erschien 2007/08 im PoCul Verlag in Saarbrücken. – Das vorgestellte Gedicht stammt aus dem Band Winterreise. Wintersprache (Verlag Thomas Plöger, 1989).
Wir danken dem Verlag für die Wieder­gabe des Gedichts im Rahmen des Kom­men­tars.



Band 1
 
  Band 3  
M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (1. Band)
100 deutsche Gedichte der Gegenwart,
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Taschenbuch
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  M. Braun & M. Buselmeier
Der gelbe Akrobat (3. Band)
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01.04.2013



 

 

Gedichte, kommentiert
von Michael Braun und
Michael Buselmeier

    Werner Laubscher
Liste
Gefördert vom
Deutschen Literaturfonds



  102   Brigitte Oleschinski
    
wie die Wörter auftauen
  101   Franz Josef Czernin
    
dunkel ortlos, hergezogen
  100   Johann P. Tammen
    
Ein Poet nimmt Platz
  99   Joseph Kopf
    
Ich liebe Schritte, die ins Leere gehn
  98   Oleg Jurjew
    
Zum Andenken an den Kater Nero
  97   Sandra Burkhardt
    
Die Bahn einer Meeresschildkröte
  96   Ernst Blass
    
An Gladys
  95   Michael Buselmeier
    
Holzpuppe
  94   Heiner Müller
    
Traumwald
  93   Thomas Böhme
    
Neunundzwanzigster Februar
  92   Katrine von Hutten
    
Beschreibung
  91   Dieter M. Gräf
    
Nach Mattheuer
  90   Arnfrid Astel
    
Leda
  89   Michael Krüger
    
Im Winter
  88   Ralph Dutli
    
Salzzauber
  87   Christiane Heidrich
    
Today I am functional (1)
  86   Wulf Kirsten
    
die rückkehr der wölfe
  85   Maren Kames
    
Im Siel
  84   Gregor Laschen
    
Drüben, im ›Winkel von Hardt‹
  83   Christoph Wenzel
    
ländlich, der mundraum
  82   Werner Lutz
    
Ja, bin unterwegs
  81   Kenah Cusanit
    
Gottesgedicht, unberuhigt
  80   Sascha Kokot
    
sobald die Stadt ...
  79   Ror Wolf
    
Dritter unvollständiger Versuch
  78   Horst Bingel
    
Felsenmeer
  77   Tristan Marquardt
    
nachts, ich laufe nach hause
  76   Harald Gerlach
    
Gründe, linkselbisch
  75   Birgit Kreipe
    
schienen stillgelegt
  74   Hanns Cibulka
    
Böhmischer Rebstock
  73   Karin Fellner
    
Eine Zeitfalte weiter
  72   David Krause
    
Wolken
  71   Jürgen Nendza
    
An manchen Tagen
  70   Harry Oberländer
    
kurz vor der revolution
  69   Mara-Daria Cojocaru
    
Ich bin
  68   Hilde Domin
    
Antwort
  67   Elisabeth Borchers
    
Zukünftiges
  66   Günter Herburger
    
Großjean, der aus einem ...
  65   Georg Leß
    
Kondorlied
  64   Thomas Kling
    
Tessiner beinhaus. wandbild
  63   Rainer René Mueller
    
Da ist es
  62   Ernst S. Steffen
    
Man sagt
  61   Henning Ziebritzki
    
Elster
  60   Jürgen Brôcan
    
Fremde ohne Souvenir
  59   Carolin Callies
    
wackersteine im wams
  58   Friedrich Ani
    
Versehrte Verse
  57   Elke Erb
    
»Ursprüngliche Akkumulation«
  56   Uwe Kolbe
    
Heidelberg, den 14ten August
  55   Sonja vom Brocke
    
Kunde
  54   Sünje Lewejohann
    
krähen
  53   Jan Wagner
    
im brunnen
  52   Susanne Stephan
    
Frontier
  51   Silke Scheuermann
    
Uraniafalter
  50   Mirko Bonné
    
Der Zischelwind
  49   Judith Zander
    
fürs erste leb im später
  48   Andreas Rasp
    
diese steine hier
  47   Marcus Roloff
    
hl. grab, eingang wahlkapelle
  46   Clemens J. Setz
    
Motte
  45   Martina Weber
    
jetzt, da die letzten bilder verschwunden sind
  44   Paul Zech
    
Der Nebel fällt
  43   Klaus Merz
    
Expedition
  42   Christian Lehnert
    
Du bist die Aussicht  ...
  41   Àxel Sanjosé
    
Zum Abschied hell ...
  40   Ulrike Draesner
    
feld elternlos
  39   Ursula Krechel
    
Weiß wie
  38   Heinrich Detering
    
Kilchberg
  37   Hendrik Rost
    
Requiem
  36   Walle Sayer
    
Vom Flüchtigschönen
  35   Nico Bleutge
    
grauwacke
  34   Rolf Haufs
    
Kinderjuni
  33   Thomas Rosenlöcher
    
Die Hoffnungsstufen
  32   Jan Koneffke
    
Dem toten Kind in einer Oktobernacht
  31   Arne Rautenberg
    
drei amseln
  30   Oskar Loerke
    
Ans Meer
  29   Jean Krier
    
„Alles ist in den besten Anfängen“
  28   Werner Laubscher
    
Winterreise. Wintersprache
  27   Wolfgang Schlenker
    
stichwort minimieren
  26   Christoph Meckel
    
Kind
  25   Günter Grass
    
Die Vorzüge der Windhühner
  24   Jürgen Theobaldy
    
Blume mit Geruch
  23   Ann Cotten
    
Rosa Meinung
  22   Horst Samson
    
Edoms Nacht
  21   Christian Steinbacher
    
Belegte Brotzeit
  20   Bianca Döring
    
Allein
  19   Simone Kornappel
    
muxmäuschen
  18   Jörg Burkhard
    
in gauguins alten basketballschuhen
  17   Konstantin Ames
    
dreißig lenze
  16   Wilhelm Lehmann
    
Auf sommerlichem Friedhof
  15   Joachim Zünder
    
Die Finnische Bibliothek
  14   Kathrin Schmidt
    
waage, vorm wasser
verchromt, gestählt
  13   Marion Poschmann
    
latenter Ort
  12   Rainer Malkowski
    
Bist du das noch?
  11   Gerhard Falkner
    
die roten schuhe
  10   Wolfgang Hilbig
    
Pro domo et mundo
  9   Katharina Schultens
    
die möglichkeit einer verwechslung ...
  8   Michael Donhauser
     Lass rauschen Lied ...
  7   Ulrich Zieger
     an den vater von sem,
  6   Elisabeth Langgässer
     Erster Adventssonntag
  5   Levin Westermann
     wie ein fresko
  4   Dirk von Petersdorff
     Raucherecke
  3   Ulrich Koch
     Danke
  2   Steffen Popp
     Fenster zur Weltnacht
  1   Adolf Endler
     Dies Sirren
     
Neue Folge